Constantina von Cosel. Briefe als Fragmente einer historischen Biographie


Hausarbeit (Hauptseminar), 2011

23 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Transparenz der Subjektivität
2.1. Spiegel von Historizität und Individualität
2.2. Die subjektive Seite der Geschichtsschreibung
2.2.1. Exkurs: Das Fragment als Möglichkeit
2.2.2. Die Doppelbiographie

3. Die Dichotomie von Schrift und machtvollen Geheimnissen
3.1. Brief und Postsystem
3.2. Wirksamkeit und Stellenwert schriftlicher Kommunikation

4. Das Medium der Subjektivität
4.1. Trennungs- und Drohbriefe
4.2. Liebesbriefe
4.3. Familiensachen

5. Existenz und Schrift
5.1. Briefe an den Feind
5.2. Leben als Text in Briefen

6. Schlussbemerkung

1. Einleitung

Die Geschichte der Gräfin Anna Constantia von Cosel ist als dramatisches Einzelschicksal, untrennbar mit der Epoche des ausgehenden Barock im Kurfürstentum Sachsen verwoben. Die historische und individuelle Beschreibbarkeit der Umstände wird durch das reichhaltige Archivmaterial ermöglicht, das zum großen Teil aus Briefmaterial besteht. Briefe werden zu handschriftlichen Zeugen, in denen sich die Intention des Schreibers und dessen Vorstellung von dem Zeitgenossen spiegelt, an den sie sich richten. In ihnen manifestiert sich eine Subjektivität, die über zeitliche Distanzen eine, wenn auch ungewisse Nähe zu der historischen Person ermöglichen kann.

In ihrer Biografie „Constantia von Cosel und August der Starke. Die Geschichte einer Mätresse“ nimmt die Historikerin und Schriftstellerin Gabriele Hoffmann eine systematisch-detaillierte Auswertung der Materialien vor. Ihr erklärtes Ziel[1] ist eine wissenschaftlich belegbare Gegendarstellung zu zahlreichen themenbezogenen aber einseitigen Publikationen und Auslegungen.[2] Die Autorin promovierte im Anschluss an das Studium der Literaturwissenschaft, Geschichte und Philosophie in Zeitgeschichte. Ihre erste Biografie über Heinrich Böll wurde 1977 veröffentlicht.[3] Die Beschreibung der Lebensumstände der Gräfin publizierte sie 1984. 2011 wurde der Roman in der 21. unbearbeiteten Auflage verlegt. Textbeispiele der Biografie moderieren auch eine Ausstellung über die königliche Mätresse am Ort ihrer Gefangenschaft in der Burg Stolpen.[4] In der reflektierten Umgangsweise mit den Möglichkeiten der Rekonstruktion historischer Begebenheiten und deren Darstellung durch die Autorin liegt die Wahl des Bandes als Ausgangspunkt der Untersuchungen in der vorliegenden Arbeit begründet. Die Biografie situiert sich im Rahmen ihrer Genrebestimmungen auf der Grenze zwischen Fiktion und historischen Fakten. Von ihr ausgehend soll gezeigt werden, dass Geschichte nicht nur von denen geschrieben wird, die in der Ausübung ihres Amtes mit dieser Aufgabe betraut sind, sondern sich bereits in der Unmittelbarkeit eines erhaltenen Briefentwurfes verfestigt. Dabei gilt es die Funktion von Briefen als autobiografischem Textmaterial zu untersuchen. Die subjektive Seite der Historie spiegelt sich zudem im Zwischenspiel der Entscheidungen, die bei der Bearbeitung des Materials getroffen werden müssen. Anschließend an die Überlegungen, das Genre von Brief und romanhafter Biografie betreffend, sollen exemplarische Bezüge zwischen Briefen zu Situationen und Entwicklungen im Leben der „ maîtresse en titre “ am sächsischen Hof hergestellt werden. Hierbei werden Briefe anhand der diversen Schreiberintentionen, Formen und Wirksamkeit betrachtet.

2. Die Transparenz der Subjektivität

„Die Liebesgeschichte zwischen August dem Starken und der Gräfin Cosel ist höchst ungewöhnlich. Neun Jahre umgab der König die Mätresse mit Ruhm und Glanz, und sie war die mächtigste Frau in Sachsen. Dann stürzte sie und er sperrte sie in eine Festung ein. Neunundvierzig Jahre lebte sie als Gefangene, von sechsundvierzig Soldaten bewacht, die Hälfte dieser Zeit in strenger Isolierungshaft. Es gab keine Anklage, keinen Prozeß, kein Urteil. Einige kleine Indizien überdauern die Jahrhunderte und zeigen, daß der König die Mätresse auch nach ihrem Sturz noch liebte. Doch dreißig Jahre nach seinem Tod saß sie noch immer im Turm der Festung.“[5]

Mit dieser Eingangsbeschreibung erklärt die Autorin Gabriele Hoffmann ihre Forschungsmotivation, die der intensiven Beschäftigung mit der Geschichte der Gräfin und ihrer Umwelt vorausging. Auf der Suche nach verlässlichen Quellen für ihre Arbeit wurde Gabriele Hoffmann in verschiedenen Archiven fündig. Der Aufsatz „Anna Constance Gräfin von Cossell“ von Karl von Weber aus dem Jahre 1871 dient ihr nach der Reflexion seiner falschen Ausgangspunkte, als eine Basis, da er als das Resultat einer teilweisen Auswertung der umfangreichen Cosel-Akten des Staatsarchivs in Dresden erschien.[6] Die Fehldarstellung in dieser Publikation, der von der Autorin einziger Seriosität zugeschrieben wird,[7] beruhe auf der Behauptung über den Briefverkehr Constantinas während ihrer Gefangenschaft, der die Umstände ihres Schicksals in der Darstellung verfälscht. Die historisch-biografischen Nachforschungen basieren allerdings auf Archivmaterial aus den Akten des Geheimen Kabinetts das erst durch die Zensur und folglich der Sammlung von Brief entstehen konnte, die ihren Empfänger nie erreichten. Die Schriftstücke konnten nie zur Artikulation der Gefangenen beitragen. Sie können daher nur als wirkungslose Versuche der Kommunikation gewertet werden.

Um Transparenz über ihre Arbeitsweise zu gewährleisten richtet sich die Verfasserin innerhalb der Darstellung in Form von Kurzbotschaften immer wieder direkt an die Leserschaft. Eigene Reflexionen als Bedingung der Möglichkeiten historischen Rekonstruierens wurden als gedankliche Einschübe der Autorin in den Fließtext integriert. Wie die einleitenden Worte sind die Verweise als Kursivschrift formatiert.[8] Gabriele Hoffmann beruft sich in ihren Anmerkungen auf bestimmte Texte und Augenzeugen oder vermittelt die mangelhafte Überlieferung einzelner Vorgänge und somit den fehlenden Boden der Belegbarkeit ihre Schlussfolgerungen.[9] Der Rezipient wird auf diese Weise aus dem Erzählfluss, der im Zusammenhang mit der fiktionalen Ebene des Textes steht, auf die Stufe der historischen Authentizität versetzt. In diesem schriftstellerischen Gestus spiegelt sich der Anspruch der Autorin, einen Kompromiss zwischen ausschließlich wissenschaftlicher und rein literarischer Beschreibung zu finden, wie sie ihn in ihrem „Nachwort für Historiker“ formuliert.[10]

2.1. Spiegel von Historizität und Individualität

„Indem ich das Belegbare zusammenfasse, verlasse ich es auch.“[11] Mit dieser Erklärung stellt sich Gabriele Hoffmann der Problematik biografischen Arbeitens. Im Umgang mit personengebundenen Schriftstücken, wobei Briefe an erster Stelle genannt werden,[12] entwirft sie ein konkretes Bild, dessen literarischer Abbildung sie „nicht widerstehen“[13] kann. Indem sie die Abläufe mit einem erzählerischen Rahmen umgibt, findet die Autorin einen weiteren Kunstgriff zur Überbrückung und Grenzüberschreitung von der belegbaren Außenwelt in die imaginierte Innenwelt der historischen Protagonisten. Zur Darstellung der rein fiktionalen Textabschnitte umwebt die Autorin die chronologische Erzählung der Lebensgeschichte der geborenen Anna Constantia Brockdorff mit einer weitere Erzählebene. Die Kapitel mit dem Titel „Am 23. Juli 1727“ geben die mutmaßlichen Innenperspektiven von Constantia und August dem Starken wieder, ohne sie direkt in die rekonstruierten Abläufe einzubinden.

Das Datum, um dessen Ablauf sich die Rahmung dreht, fällt auf den Besuch des Königs in der Burg Stolpen, auf der seine Geliebte bereits elf Jahre in Gefangenschaft gelebt hatte. Den Überlieferungen zufolge verließ er die Festung ohne Weiteres im Anschluss an die angekündigten Schießübungen. Die Schilderung der vermuteten Begebenheiten zu diesem historischen Zeitpunkt wird in fünf gleichnamige Kapitel unterteilt. Diese Einheiten der Rahmenerzählung umranden jeweils drei chronologische Kapitel, die wiederum in Lebensphasen unterteilt sind. Zum Auftakt wird der frühe Morgen dieses Tages aus der Sicht des Königs und der Perspektive der Gräfin beschrieben. Durch den Kunstgriff der Rahmung wird die chronologische Erzählung in den Gestus der Rückblende gehüllt. An die erste Einheit der Gegenwart schließt sich die Darstellung der Kindheit der Gräfin, vom Tag ihrer Geburt 1680 bis zu ihrer Ankunft am Dresdner Hof an. Der folgende Zeitsprung stellt die Geschehnisse und Gedanken des Königs und der Gräfin in den Morgenstunden des 23. Juli 1927 zu Hofe in den königlichen Gemächern und in der Burg gegeneinander. Die weiteren drei Kapitel handeln von dem Aufstieg und der Etablierung als maîtresse en titre. Eine dritte Schiene der Fiktion beschreibt den morgendlichen Besuch des Königs bei der gemeinsamen Tochter Augusta Constantia, so dass ein weiterer Blick auf das Paar aus der Perspektive der Tochter konstruiert wird.[14] Die Bedingungen des Zusammenlebens sind Gegenstand der folgenden Einheit aus drei Kapiteln. Diese beiden Phasen umspannen die Dauer der Lebensgemeinschaft von neun Jahren. In der Biografie wird diese Beschreibung mit zahlreichen politischen Details kombiniert, die durch die Beziehung zum König einen großen Stellenwert im Alltag Constantias einnahmen. Die zeitliche Grenze dieser Episode wird mit der Übergabe ihrer beiden Töchter an die Mutter Anna Margarethe Brockdorff gesetzt. Der vierte Sprung auf die fiktionale Ebene handelt von der Aufnahme der Nachricht über die bevorstehende Ankunft des Königs in der Burg. In der romanhaften Episode entscheidet sich August gegen die Konfrontation mit Constantia und für die Geheimhaltung ihres Schicksals zur Aufrechterhaltung seines Ruhms. Die letzte Periode handelt vom Sturz der Gräfin und ihrem Eintritt in die Gefangenschaft. Das abschließende Kapitel ist der möglichen Begegnung von König und Gräfin gewidmet; dabei entwickelt die Autorin eine Innenschau beider Protagonisten und ihrer Emotionen, die mögliche Begegnung auf der Burg betreffend, die den Hauptteil der Biographie beschließt. In einem Epilog werden die achtunddreißig Jahre Haft der Gräfin von Cosel zusammengefasst, die den sächsischen König um zweiunddreißig Jahre überlebte. Nach neun Jahren höfischen Lebens und neunundvierzig Jahren in der Burg verstarb die Gräfin mit fünfundachtzig Jahren. Die Historikerin vollzieht im Weiteren einen Bogen von der Wirkung in der Epoche des ausgehenden Barock bis in ihre Gegenwart. Der Epilog unterläuft die Hierarchie von fiktional-subjektiver Rahmenhandlung und wissenschaftlich-chronologischer Binnenstruktur des Werkes, indem er sich wiederum auf historische Fakten bezieht und die Vergangenheit in Bezug auf ihre Wirkung in der Gegenwart verifiziert. Dies wird von der Autorin durch einen literarischen Zeitraffer bewerkstelligt, mit dem sie die Entwicklungen der folgenden zwei Jahrhunderte umschreibt und mit dem abschließenden Satz in der Gegenwart des Lesers endet. „Doch Anmut und Glanz dieser Kunst haben die Jahrhunderte überdauert, und die Gesichter vor den Museumsvitrinen werden froh und entzückt.“[15]

2.2. Die subjektive Seite der Geschichtsschreibung

Briefe sind von nun an meine Hauptzeugen für Constantias Geschichte, Briefe der Kabinettsminister über sie, an sie, ihre Briefe an die Minister, die im Staatsarchiv in Dresden in den Akten des Geheimen Kabinetts liegen und ihre Briefe, die die Adressaten nie erreichten, weil die Zensur sie abfing.[16]

Durch ihre Auswertung als biografische Schriftstücke tangieren Briefe als Quellen die Geschichtswissenschaft. Leopold von Ranke stellt an Geschichte den Anspruch, das Geschehene in seiner ganzen Wahrhaftigkeit zu vergegenwärtigen.[17] Die Annäherung an diesen Anspruch mittels der Geschichtswissenschaft erfolgt durch die systematische Quellenarbeit. Briefe sind Zeitzeugen und werden in historischen Zusammenhängen als primäre Quellen ausgewertet.[18] Während autobiografische Schriften bereits das Resultat von Reflexionen über die Einheit der individuellen Gesamtheit beinhalten, sind Briefe direkte Botschafter aus der Lebenssituation des Schreibenden. Mit dem Verfassen einer Biografie begibt sich Gabriele Hoffmann auf das Terrain zwischen Belletristik und Sachliteratur. Die Beschreibung einer individuellen Lebensgeschichte soll biografische Daten und mental-psychologische Entwicklungen nachvollziehen. „Als historiographisches Genre stellt sie das Leben eines Individuums in seinem historisch-sozialen und kulturellen Kontext dar.“[19] Aufgrund ihres Grenzgängertums kulminieren in der Gattung charakteristisch die Konflikte der Geschichtswissenschaft.[20]

2.2.1. Exkurs: Das Fragment als Möglichkeit

Der Begriff Biografie ist ein Kompositum aus dem griechischen Nomen bios (Leben) und dem Verb graphein (schreiben).[21] Die Auswertung von Briefen als historischem Quellenmaterial in Form einer Biografie kann den von Ranke formulierten Zielvorstellungen der Geschichtswissenschaft nicht entsprechen. Das Abbild der Wahrheit in Briefen kann allenfalls einer individuellen Wahrheit, mit kontextüblichen Codierungsmustern entsprechen. Zwei Jahrhunderte später wurde die Betrachtung der Geschichte eines Menschen als Einheit in Frage gestellt.

Eine Lebensgeschichte zu produzieren, das Leben als eine Geschichte zu behandeln, also als eine kohärente Erzählung einer bedeutungsvollen und gerichteten Abfolge von Ereignissen, bedeutet vielleicht, sich einer rhetorischen Illusion zu unterwerfen, einer trivialen Vorstellung von der Existenz, die in der ganzen literarischen Tradition nicht aufgehört hat und nicht aufhört zu unterstützen.[22]

Im Anschluss an seine Kritik, die Pierre Bourdieu bereits lange vor der Zeit des Postmodernen Romans entwarf, entwickelte der Soziologe die Definition einer Laufbahn, die er auch das soziale Altern nannte. Es wird davon ausgegangen, dass ein individuelles Leben durch die Aneinanderreihung verschiedener Lebensphasen und Umstände entsteht.[23] In Abgrenzung zu romantischen Dichtern wie Novalis kritisierte Bourdieu das Denken einer Totalität. Das Individuum wird zu einem Puzzle aus Teilen, die sich erst innerhalb des Lebens konstituieren. Auf diese Weise ist die Lebensgeschichte erst nach dem Ende der Laufbahn rekonstruierbar und bleibt in ihrer Gesamtheit an die kontextuellen Umstände gebunden. Das Archiv des Geheimen Rates kann, unter der Vorannahme der Bourdieuschen Theorie, als ein Spiegel der Laufbahn der Constantia von Cosel, in ihrer ganzen Abhängigkeit von den sozio-historischen Umständen gelesen werden. Dieser Spiegel wurde durch die intensive Bearbeitung von Briefen ermöglicht, die sich als Fragmente aus den einzelnen Phasen in das Sinnbild fügen ließen. Mit der Lektüre von Briefen würde nach Bourdieu die Entwicklung des Individuums frei lesbar, ohne vorab einen gesicherten Rahmen überzuordnen.

2.2.2. Die Doppelbiographie

„Ich habe mein Buch anfangs, fast eine Doppelbiographie’ genannt“[24] schreibt die Autorin in ihrem „Nachwort für Historiker“. Die Notwendigkeit die Biografie der Gräfin auf den König auszudehnen resultiert aus ihrer engen Verbindung zu ihm, in ihrer Rolle als „legitime épouse“[25]. Dieser Faktor manifestiert sich insbesondere im Medium der Briefe, deren Sprache Rückschlüsse über den inneren Zustand des Schreibers erlaubt. Nach der Definition Johann-Heinrich Zedlers, geben die Schriftstücke eine Kommunikation mit einem Abwesenden wieder.[26] Diese Kommunikation zwischen König und Gräfin war auf verschiedenen Ebenen angelegt, sie wurde über große Distanzen, unterschiedliche Medien und schließlich über dritte Instanzen geführt.[27] Nach dem Sturz der Gräfin gipfelte die Abwesenheit ihres Partners in seiner Unerreichbarkeit. Aufgrund ihrer Zwangslage in der Gefangenschaft versuchte sie den Kontakt in Form des Schriftkontaktes aufrechtzuerhalten. Mit den gerichteten Worten wird der Empfänger im Moment der Verschriftlichung imaginiert und ihm wird Gestalt verliehen. Die Entscheidung Gabriele Hoffmanns, sich dem Lebenslauf des Königs beinahe im gleichen Maße zu widmen wie der Geschichte der eigentlichen historischen Protagonistin, lässt sich aufgrund dieser Bindung nachvollziehen, die sich auch im Schreibprozess der Gräfin vergegenwärtigte. Davon ausgehend, dass der brieflichen Kommunikation eine Schlüsselfunktion in der Biografie der Gräfin zukommt, sollen Schriftstücke in den folgenden Kapiteln der Gegenstand struktureller Beobachtungen sein.

3. Die Dichotomie von Schrift und machtvollen Geheimnissen

Brief, Schreiben, epistolae, Literae, Lettre, ist eine kurze, wohlgesetzte und von allerhand Sachen handelnde Rede, so man einander unter dem Siegel schriftlich zuschickt, wenn man nicht mündlich miteinander reden kann.[28]

Nach der Definition Johann-Heinrich Zedlers gehen Briefe ausdrücklich als private Botschaften in die Namenskunde ein. Offizien wie politische Briefe, Befehle, Abkommen und Verträge lassen sich dieser Kategorie demnach nicht zuordnen, sondern werden von dem Buchhändler und Verleger unter dem Begriff „Pact“[29] gefasst. In dieser Begriffsbestimmung erfährt der Faktor der Medialität jedoch keine Berücksichtigung. Da es sich explizit um ein auf dem Papier fixiertes Versprechen, in Form eines amtlichen Schriftstückes handelt, durch dessen Verbleib das Schicksal der Gräfin besiegelt wurde, soll dieser Modus der Schriftlichkeit zusätzlich exemplarisch betrachtet werden. Im Text wird das entscheidende Dokument als Urkunde und Vertrag zugleich betitelt.[30] Die Urkunde als schriftlich fundierte Aussage lässt sich nicht wie der Brief auf die Kommunikation mit einem Abwesenden reduzieren. In ihr spiegelt sich gleichsam die Hierarchie zwischen dem Ersteller und dem Empfänger. Ein Vertrag hingegen ist ein Abkommen zwischen zwei Menschen. In beiden Fällen wird dem Medium Papier die Aufgabe zugeschrieben, eine die Zeit überdauernde Botschaft zu bewahren. In dieser Funktion richtet es sich an einen Dritten, in der Gestalt der Allgemeinheit als die zu überzeugende Instanz. Diese Eigenschaften verleihen dem Medium einen delikaten Charakter, der gleichsam den Wendepunkt in der Geschichte der Gräfin darstellt.

Constantia von Brockdorff bestand auf ihrem familieneigenen Ehrbegriff, der ihr verbot, sich als Mätresse zu bezeichnen.[31] Nachdem der König ernsthaft um sie zu werben begann, forderte sie einen ehelichen Eid. Dieser Forderung kam August II. in Form eines Vertrages am 12.12.1705 nach.[32] Das Eheversprechen sollte der Absicherung Constantias und ihrer Kinder dienen. Im Schriftstück selbst legitimierte August seine zweite Ehe durch die Praxis anderer Monarchen.

Der König heiratet sie “(...) nach Art der Könige in Frankreich und Dänemark, auch anderen Souverainen in Europa als unsere legitime épouse dergestalt, da Wir in Kraft eines ehelichen Eydes versprechen und halten wollen, dieselbe herzlich zu lieben und beständig treu zu verbleiben“.[33]

Dieser „Pact“ des Königs mit der Gräfin wurde allerdings unter der Voraussetzung der strengen Geheimhaltung geschlossen.[34] Die Schweigepflicht in Bezug auf eine Absicherung vor der Öffentlichkeit birgt eine Kontroverse in sich. Hier fand eine charakteristische Eigenschaft der Schrift eine schicksalhafte Anwendung. „Die Schrift als Medium der Kommunikation hinterlässt Spuren und wirft somit für die Geheimhaltung erhebliche Probleme auf.“[35] Die Mesalliance des Souveräns wurde der Öffentlichkeit verschwiegen und hatte als Eheversprechen ausschließlich in der intimen Zone zwischen den Liebenden eine Geltung. Dieser Umstand begab sich parallel zur Entstehung des Briefgeheimnisses, die in das 18. Jahrhundert datiert wird.[36] Es lässt sich die Eröffnung eines Diskurses verzeichnen, der die Position von Schriftstücken in ihrem Spannungsfeld zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit diskutiert. Die Gräfin ließ das existentielle Dokument ihrem Vetter Graf Christian Detlev von Rantzau fünffach versiegelt für das Familienarchiv in Holstein übergeben.[37] Als sie nach neun Jahren inoffizieller Ehe durch Intrigen am Hofe gestürzt wurde, befand sich der König in einer politisch prekären Lage und forderte das anrüchige Schriftstück zurück.[38] Um ihrer Freiheit willen war die Gräfin bereit, das Dokument auszuliefern, wurde aber von ihrem Vetter durch Erpressung daran gehindert. Um alle Forderungen zu erfüllen, begab sie sich in das politisch rivalisierende Preußen. Ihr Vetter versuchte sich ihre Notlage zu Nutze zu machen und verweigerte die Herausgabe. Blind für ihre Umstände wurde ihr von August Mutwilligkeit unterstellt und ihre Auslieferung am preußischen Königshof gefordert[39] Die Gräfin wurde als politisch Gefangene in Festungshaft genommen. Auch nachdem der König sich des Schriftstückes bemächtigen konnte, bewahrte er Stillschweigen und ließ das Beweismittel vernichten.[40] Um das Intermezzo der Mesalliance geheimzuhalten, wurde Constantia der Majestätsbeleidigung bezichtigt.[41] Die Gräfin selbst hatte das Versprechen mittels der Siegel zum Geheimnis gekürt. Die Vernichtung des Dokuments durch den König ließ es die höchste Stufe der Geheimhaltung erreichen.[42] Die Existenz und der Verbleib des Schriftstückes sind ausschließlich sekundär aus Briefen und Entwürfen belegbar. Die Urkunde wurde zum Hauptargument Augusts gegen seine Geliebte, während Briefe zu Zeugen der Umstände avancierten.

3.1. Brief und Postsystem

Gute und schnelle Postboten verbinden die Sachsen mit anderen Ländern. Zweimal wöchentlich fährt die Postkalesche von Dresden nach Leipzig. Die Reise dauert zweiundzwanzig Stunden. Außerdem gibt es noch einen reitenden Postboten. Von Leipzig aus, dem Hauptpunkt aller Postanstalten des Landes, gibt es zweiunddreißig fahrende und acht reitende Posten wöchentlich, die bis nach Berlin, Frankfurt am Main, Holland gehen.[43]

Das Wachstum des schriftlichen Kommunikationspotentials im 18. Jahrhundert, war nicht nur ein Zeichen des Ausbaus der Verkehrsnetze und des Fortschritts zur Moderne, sondern ging auch mit einer Thematisierung des Umgangs mit dem Informationsspeicher, den die Schriftlichkeit bildet, einher.[44] Das Briefgeheimnis wurde erstmals in der Preußischen Postordnung von 1712 rechtskräftig.[45] Der Umgang mit der Reglementierung variierte nachweislich noch stark. Dies zeigt sich exemplarisch am Namen der „Leipziger Post- und Ordinar Zeitung“, die von Gabriele Hoffmann als „ein inhaltsreiches Blatt, denn Leipzig war Knotenpunkt zahlreicher Postlinien“ beschrieben wird.[46] Der Begriff Zeitung stammte vom mittelhochdeutschen Wort Zidunge ab, was Botschaft oder Kunde bedeutet. Oftmals wurden die Blätter vom Postmeister verlegt, was deutliche Rückschlüsse über die Briefe als Informationsmaterial und die Post als logistisches Zentrum für Berichterstattung zulässt. Begünstigt wurde der Faktor der Öffentlichkeit zusätzlich durch den Umstand, dass die Post bis ins 18. Jahrhundert im Postamt öffentlich zur Lektüre ausgehängt wurde.[47] Christian Fürchtegott Gellert beschrieb die Verbindung von Privatem und Öffentlichem als die spezifische Eigenschaft von Briefen, wobei er dieses Charakteristikum insbesondere politischen Briefen zuordnete.[48] Das mögliche Publikum wird zu einer dritten Instanz, die von brieflich Korrespondierenden mitgedacht werden muss.[49] Die im Medium begründete Brisanz der Weitergabe von Informationen zeigte sich deutlich im politischen Geschehen im frühen 18. Jahrhundert.

Zeit seines Lebens befand sich August II. im Krieg um die polnische Krone und um die Verteidigung des Kurfürstentums Sachsen, dessen Ära mit seinem Tod zu Ende ging. Im Krieg hing das Schicksal vieler Soldaten und ganzer Bevölkerungsgruppen vom Fluss der Informationen ab. Die Mächte störten die Postwege, um den Gegner zu schwächen. Mitteilungen des Königs an seine Minister waren mehrere Monate unterwegs und behinderten die Entscheidungs- und Regierungsfähigkeit in einer Lage, in der schnelle Beschlüsse entscheidend waren.[50] Briefe wurden abgefangen, um Pläne der Kontrahenten durchschauen und vereiteln zu können.[51] In Krisenzeiten wird der Dualismus von Korrespondenz und Medium durchbrochen. Der Bote selbst bringt die Integrität der Botschaft nicht in Gefahr,[52] denn ihre Übertragung geht untrennbar mit dem Überleben desselben einher.

August ist unruhig, die Nachrichten von Schulenberg bleiben aus, seine Sorge wächst mit jedem Tag, den er vergeblich wartet. Dann trifft ein hohläugiger unrasierter Reiter in Lowitz ein. Zehn Tage hat er gebraucht um schwedischen Streifen auszuweichen und zum König durchzukommen. Die Armee des Königs existiert nicht mehr. Der Kurier berichtet: General Schulenberg und fast alle sächsischen Offiziere seien tot.[53]

[...]


[1] Gabriele Hoffmann: Constantina von Cosel und August der Starke. Die Geschichte einer Mätresse. 17. Ausgabe. Augsburg 2000. S. 443 ff. Nachwort für Historiker.

[2] Eine Auswahl der Publikationen befindet sich im Anhang zum Literaturverzeichnis.

[3] Gabriele Hoffmann: Constantina von Cosel und August der Starke. Die Geschichte einer Mätresse. 17. Ausgabe. Bergisch Gladbach. Einband der 9. Auflage.

[4] http://www.burg-stolpen.org/ (Stand 29.10.2011)

[5] Gabriele Hoffmann: Constantia von Cosel und August der Starke. Die Geschichte einer Mätresse. 17. Ausgabe. Augsburg 2000. S. 7.

[6] ebd., S. 44.

[7] „An ernsthaften Veröffentlichungen zur Geschichte der Cosel gibt es nur einen Aufsatz von Karl von Weber.“ ebd., S. 449.

[8] Anmerkungen befinden sich auf den Seiten: 28, 45, 53, 77/78, 124, 151, 191, 238, 243, 251, 282, 313, 326/327, 348, 365/366, 369, 393, 394, 409, 422, ebd.

[9] So zum Bsp. auf der Seite 422, ebd.

[10] ebd., S. 450.

[11] Gabriele Hoffmann: Constantia von Cosel und August der Starke. Die Geschichte einer Mätresse. 17. Ausgabe. Augsburg 2000. S. 9.

[12] ebd.

[13] ebd.

[14] Aus der Verbindung entstanden drei Kinder, die der König als rechtmäßig anerkannte. Zu ihnen pflegte er wie zu allen seinen Kindern gute Beziehungen.

[15] Gabriele Hoffmann: Constantia von Cosel und August der Starke. Die Geschichte einer Mätresse. 17. Ausgabe. Augsburg 2000. S. 442.

[16] ebd., S. 365.

[17] Konrad Fuchs/ Heribert Raab: Wörterbuch der Geschichte. 13. Auflage. München 2002. S. 286.

[18] Diese Kategorie des wissenschaftlichen Materials wird auch als Überreste definiert und von den historischen Quellen abgegrenzt, die in ihre Funktion bereits traditionell und zur Überlieferung an die Nachwelt gedacht sind.

[19] Margit Szöllösi-Janze: Biographie. In: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Hrsg. v. Stefan Jordan. Stuttgart 2002. S. 44.

[20] ebd., S. 48.

[21] Helmut Scheuer: Biografie 1. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Harald Fricke. 1. Bd. 3. Aufl. Berlin 2000. S. 233.

[22] Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion. In BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung. S. 75- 81. Heft 1. 1990. S. 76.

[23] ebd., S. 79ff.

[24] Gabriele Hoffmann: Constantia von Cosel und August der Starke. Die Geschichte einer Mätresse. 17. Ausgabe. Augsburg 2000. S. 448.

[25] ebd., S. 143.

[26] „Brief kommt vom lateinischen Wort breve, weil die darin befindlichen Gedanken durch stumme Worte kurz gefasst (...) und ist eine an eine abwesende Person gerichtete private Schrift worinnen wir ihm etwas willens machen.“ Johann-Heinrich Zedler: Brief. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. 4. Band. Halle und Leipzig 1738. S. 1359.

[27] Der genaue Verlauf der Beziehung im Spiegel der Briefe ist Gegenstand der Ausführungen im Abschnitt 3.3. der vorliegenden Arbeit.

[28] Johann-Heinrich Zedler: Brief. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. 4. Band. Halle und Leipzig 1738. S. 1359.

[29] „Die Stücke, die zu einem Pacto gehören, so sind selbige das Versprechen auf der einen Seite, und die Annehmung auf der anderen Seite. Das Versprechen ist zweyerlei ein vollkommenes und ein unvollkomnenes. Jenes ist wenn man dergestalt etwas verspricht, daß man dem andern zugleich die Macht giebt, solches mit Recht als eine Schuldigkeit zu fordern; welches aber bey dem unvolkommenen wegfällt, so zuweilen aus Liebe oder Höflichkeit zu geschehen pfleget.“ Johann-Heinrich Zedler: Pact. S. 114. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. 26. Band. Halle und Leipzig 1738.

[30] Gabriele Hoffmann: Constantia von Cosel und August der Starke. Die Geschichte einer Mätresse. 17. Ausgabe. Augsburg 2000. S. 143f.

[31] ebd., S. 122f und 348ff.

[32] ebd., S. 143f.

[33] ebd.

[34] ebd., S. 144.

[35] Cornelia Bohn: Ins Feuer damit:. Soziologie des Briefgeheimnisses. Formen der Geheimhaltung. München 1997. S. 42.

[36] ebd., S. 42f.

[37] Gabriele Hoffmann: Constantia von Cosel und August der Starke. Die Geschichte einer Mätresse. 17. Ausgabe. Augsburg 2000. S. 144.

[38] Gabriele Hoffmann: Constantia von Cosel und August der Starke. Die Geschichte einer Mätresse. 17. Ausgabe. Augsburg 2000. S. 376.

[39] ebd., S. 410.

[40] ebd., S. 412.

[41] ebd., S. 411.

[42] Cornelia Bohn: Ins Feuer damit:. Soziologie des Briefgeheimnisses. Formen der Geheimhaltung. München 1997. S. 42.

[43] Gabriele Hoffmann: Constantia von Cosel und August der Starke. Die Geschichte einer Mätresse. 17. Ausgabe. Augsburg 2000. S. 81.

[44] Cornelia Bohn: Ins Feuer damit:. Soziologie des Briefgeheimnisses. Formen der Geheimhaltung. München 1997. S. 43.

[45] ebd., S. 46.

[46] Gabriele Hoffmann: Constantia von Cosel und August der Starke. Die Geschichte einer Mätresse. 17. Ausgabe. Augsburg 2000. S. 53.

[47] Klaus Beyer: Der alte Weg eines Briefes. Von der Botenpost zum Postboten. Heidelberg 1997. S. 24.

[48] Hannelore Schlaffer: Glück und Ende des privaten Briefes. Heidelberg 1997. S. 44.

[49] Hans-Christian Täubrich: Wissen ist Macht. Der heimliche Griff nach Brief und Siegel. Heidelberg 1997. S. 48.

[50] Gabriele Hoffmann: Constantia von Cosel und August der Starke. Die Geschichte einer Mätresse. 17. Ausgabe. Augsburg 2000. S. 176.

[51] ebd., S. 193.

[52] Hans-Christian Täubrich: Wissen ist Macht. Der heimliche Griff nach Brief und Siegel. Heidelberg 1997. S. 48.

[53] Gabriele Hoffmann: Constantia von Cosel und August der Starke. Die Geschichte einer Mätresse. 17. Ausgabe. Augsburg 2000. S. 153.

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Details

Titel
Constantina von Cosel. Briefe als Fragmente einer historischen Biographie
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Autor
Jahr
2011
Seiten
23
Katalognummer
V367259
ISBN (eBook)
9783668469044
ISBN (Buch)
9783668469051
Dateigröße
576 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
constantina, cosel, briefe, fragmente, biographie
Arbeit zitieren
Andrea Dexheimer (Autor:in), 2011, Constantina von Cosel. Briefe als Fragmente einer historischen Biographie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/367259

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