Optische Poesie des 20. Jahrhunderts. Entwicklung von Form und Inhalt im Kontext gesellschaftspolitischen und kulturellen Wandels

Die Gruppe "Noigandres" in Brasilien und "Gruppo 70" in Italien


Magisterarbeit, 2016

86 Seiten, Note: 2,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Wichtige Aspekte der Entwicklung von Form und Inhalt in der Optischen Poesie, von der Antike bis zum 20. Jahrhundert
2.1. Carmen figuratum - Das Figurengedicht
2.2. Stilistische Neuerungen im Umgang mit Sprache, Fläche und Schrift
2.3. Exkurs zur Entwicklung der Massenkommunikation im 20. Jahrhundert
2.4. Die Entwicklung der Optischen Poesie seit dem Erscheinen von Un coup de dés
2.5. Die Konkrete Poesie - Form ist gleich Inhalt
2.5.1. Begriffsklärung: konkret, abstrakt, Konkrete Poesie
2.5.2. Grundzüge der Konkreten Poesie

3. Konkrete Poesie in Brasilien - Die Gruppe Noigandres
3.1. Theoretische Grundlagen der Poesie der Gruppe Noigandres
3.2. Vom Eurozentrismus zum Nationalismus - Wirtschaftlicher, gesellschaftspolitischer und kultureller Wandel in Brasilien und dessen Einfluss auf die Poesie der Gruppe Noigandres

4. Die Visuelle Poesie in Italien - Gruppo 70
4.1. Die poetischen und politischen Intentionen des Gruppo 70
4.2. Die Entwicklung der Werke des Gruppo 70 im Kontext der Entstehung der Massenkultur

5. Die Inversion der Medienbotschaft - Optische Poesie als Form semiologischer Guerilla
5.1. Das Konzept der semiologischen Guerilla
5.2. Die Kreation einer neuen Massenkultur entgegengesetzt zur Kultur des Konsums
5.3. Kritik an den Gruppen Noigandres und Gruppo 70

6. Schlussbetrachtung

Bibliografie

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Quellennachweis

1. Einleitung

Seit über 500 Jahren existiert eine literarische Verbindung zwischen Italien und Brasilien, deren Beginn bei den Reiseberichten Amerigo Vespuccis über die Neue Welt gesehen werden kann.1 Die literarischen Beziehungen beider Länder zeigen sich beispielsweise in der Verbindung zwischen dem brasilianischen Arcadismo mineiro und dem italienischen Settecento, der Präsenz der italienischen Romantik in der brasilianischen Literatur des 19. Jahrhunderts und der engen Verknüpfung zwischen brasilianischem Modernismo und italienischem Futurismus.2 In dieser Arbeit soll nun ein weiterer Aspekt der literarischen Verbindung beider Länder betrachtet werden: die parallele Entwicklung verschiedener Formen der Optischen Poesie im 20. Jahrhundert.

In den 1950er und 1960er Jahren entwickelten sich in Brasilien und Italien neue Formen der Optischen Poesie unter Einfluss des wirtschaftlichen Aufschwungs und des Aufstiegs der Massenmedien. Diese Formen der Optischen Poesie, die Konkrete Poesie der Gruppe Noigandres in Brasilien und die Visuelle Poesie des Gruppo 70 in Italien, sollen hier mit Hinblick auf ihre inhaltliche und formale Entwicklung im Zusammenhang mit gesellschaftspolitischen und kulturellen Veränderungen genauer betrachtet werden. Besonderes Augenmerk soll dabei auf die unterschiedliche sozio-kulturelle Dynamik beider Bewegungen gelegt werden.

Im ersten Teil der Arbeit wird die Entwicklung der Optischen Poesie seit der Antike nachgezeichnet. Dabei wird im Besonderen auf die Tradition des Figurentextes eingegangen und auf neue Entwicklungen in der Verwendung und Bewertung von Bild und Schrift in der Literatur, wie im 18. Jahrhundert bei Laurence Sterne oder am Ende des 19. Jahrhunderts in den Gedichten von Stéphane Mallarmé. Anschließend soll die Entwicklung der Optischen Poesie im 20. Jahrhundert, die unter dem immer stärker werdenden Einfluss der Massenmedien und neuer technischer Möglichkeiten wie z.B. Entwicklungen in der Typografie stand, genauer betrachtet werden. Dazu gehören neben dem Futurismus - der im Kontext dieser Arbeit von Bedeutung ist, da die Bewegung besonders in Italien durch Filippo Tomaso Marinetti geprägt wurde und in Lateinamerika vielfältig rezipiert wurde - auch die Calligrammes von Guillaume Apollinaire, der Dadaismus und die neuen poetischen Ideen von Carlo Belloli. Infolgedessen entwickelte sich die Konkrete Poesie, deren Vertreter sich in diese Genealogie einordneten und die Entwicklung ihrer Poesie als einen evolutionären Vorgang auf der Basis dieser Vorgänger beschrieben. Die Grundideen der Konkreten Poesie sowie ihre Beziehung zu den aufstrebenden Massenmedien sollen hier dargelegt werden.

Im zweiten Teil der Arbeit soll die Entstehung und Entwicklung der Poesie der Gruppe Noigandres, die in engem Zusammenhang zum wirtschaftlichen und politischen Aufschwung in Brasilien stand, untersucht werden. Dafür sind auch die Verbindung zum Konzept der Antropofagia von Oswald de Andrade und die Entstehung einer neuen brasilianischen Kulturidentität von Bedeutung. Es soll gezeigt werden, wie sich diese Entwicklungen auf die Form und den Inhalt der Poesie der Gruppe Noigandres auswirkten.

Ferner wird auf den Gruppo 70, die bedeutendste Bewegung der Visuellen Poesie in Italien, eingegangen. Entscheidend für die Entwicklung der Lyrik des Gruppo 70 sind der Einfluss des boom economico sowie der stetig anwachsenden Konsumgesellschaft. Die Vertreter des Gruppo 70 orientierten sich in ihren dichterischen Techniken an denen der Massenmedien und entwickelten eine Form von technologischer Poesie, die mit der Sprache der Massenmedien arbeitete.

Abschließend soll die sich in beiden Gruppen herausbildende Tendenz zur Inversion der Medienbotschaft, der semiologischen Guerilla, anhand von theoretischen Texten von Umberto Eco sowie den Vertretern der Gruppe Noigandres und des Gruppo 70 analysiert werden. Damit einher geht die Idee der Entwicklung einer neuen Massenkultur, abseits des Mainstreams, auf die hier ebenfalls eingegangen werden soll. Dabei werden auch Kritikpunkte und Kontroversen erwähnt werden.

Da es sich bei der Konkreten Poesie und der Visuellen Poesie um relativ junge Phänomene der Literatur handelt, steht eine angemessene Rezeption dazu in der Sekundärliteratur noch aus.3 Die vorhandenen Texte thematisieren meist einzelne Phänomene der Optischen Poesie oder ihre Entwicklung in einzelnen Ländern. Die umfassendste Übersicht zur Optischen Poesie, die versucht, alle Phänomene dieses Genres mit einzuschliessen, ist die 2011 erschienene Publikation Optische Poesie - Von den prähistorischen Schriftzeichen bis zu den digitalen Experimenten der Gegenwart4 von Klaus Peter Dencker. Darin versucht er, vorhergehende Versuche einer tabellarischen Übersicht wie 1965 von Dom Sylvester Houédard sowie seine eigenen Beobachtungen in dem 1972 erschienen Werk Text-Bilder - Visuelle Poesie international - Von der Antike bis zur Gegenwart5 zu vervollkommnen.6

Das Figurengedicht kann als die am intensivsten erforschte Form der Optischen Poesie gesehen werden. Einen großen Teil dazu trug Ulrich Ernst mit seinem 1991 erschienenen Text Carmen figuratum: Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters7, welches als Basiswerk der Forschung zu diesem Thema gesehen werden kann, bei. Eine weiterführende Analyse zur Entwicklung des Figurengedichts des 19. und 20. Jahrhunderts, besonders in Frankreich und Italien, führt Ute Schorneck in ihrer Publikation Calligrammes - Figurentexte in der abendländischen Literatur, besonders im 19. und 20. Jahrhundert (Schwerpunkte: Frankreich, Italien)8 aus dem Jahr 2001 durch.

Die Forschung zum Konkretismus in der Literatur hat sich nur zögerlich entwickelt. Die Gründe dafür sieht Anja Ohmer in der Außenseiterstellung der Konkreten Poesie in der Nachkriegsdichtung und in der teilweise strikten Ablehnung derselben in den konservativen 1950er und 1960er Jahren.9 Die Dichter der Konkreten Poesie waren in dieser Zeit, der Hauptphase ihres Schaffens, ihre eigenen Kritiker und Theoretiker und verfassten zusätzlich zu ihrem künstlerischen Werk auch eine Vielzahl an Manifesten und theoretischen Schriften, wie sich im weiteren Verlauf der Arbeit noch zeigen wird. Erste Versuche eines Überblicks zur Konkreten Poesie waren die Werke von Emmett Williams10 und Mary Ellen Solt11 am Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre. Vergleichsweise junge Publikationen zur Theorie der Konkreten Dichtung sind die 1982 veröffentlichte Dissertation von Christina M. Weiß zur Erweiterung des Textbegriffs in konkreten und nach-konkreten visuellen Texten12, sowie das 2011 erschienene, bereits zitierte Werk Textkunst - Konkretismus in der Literatur von Anja Ohmer. Die theoretischen Texte der Gruppe Noigandres finden sich zusammengefasst in der Publikation Teoria da poesia concreta. Textos críticos e manifestos 1950 - 1960.13

Ähnlich wie die Vertreter der Konkreten Poesie waren auch die Poeten des Gruppo 70 ihre eigenen Kritiker. Die theoretischen Texte des Gruppo 70 sind jedoch nur schwer zugänglich und meistens in die Sekundärliteratur integriert. Insbesondere zum 50. Jubiläum des Gruppo 70 im Jahr 2013 erschienen einige Publikationen, die verschiedene Aspekte des Schaffens des Gruppo 70 thematisieren, wie La poesia in immagine / L’immagine in poesia. Gruppo 70. Firenze 1963-201314 oder La poesia visiva - 1963- 2013 Omaggio al Gruppo 70.15

Generell lässt sich seit der Jahrtausendwende eine deutlich erhöhte Produktion von Texten zu den hier diskutierten Formen der Optischen Poesie feststellen, insbesondere von Autoren wie Claus Clüver, Beatrice Nickel, Anja Ohmer, John Picchione und Anna Katharina Schaffner.

Einige wenige Publikationen setzen sich auch mit der Gegenüberstellung verschiedener Aspekte der Konkreten Poesie in Brasilien und der Visuellen Poesie in Italien auseinander, dies sind L’avanguardia per tutti: concretismo e poesia visiva tra Russia, Europa e Brasile16 von Sauro Fabi, sowie die bereits zitierte Aufsatzsammlung Brasil e Itália von Andrea Lombardi und Lucia Wataghin.

Begriffsklärung

In der Sekundärliteratur lassen sich zahlreiche Bezeichnungen für Poesie, die durch die Grenzüberschreitung zwischen Text und Bild gekennzeichnet ist, finden, wie Bild-Texte, Textbilder, Seh-Texte, Figurentexte, Visuelle Poesie etc. Diese Begrifflichkeiten variieren von Autor zu Autor und sind in ihrer Bedeutung nicht klar definiert. Ich möchte mich in dieser Arbeit der Argumentation von Klaus Peter Dencker anschließen, da der von ihm verwendete Begriff Optische Poesie meiner Meinung nach als Oberbegriff alle Bewegungen, die auf poetische Weise Text und Bild miteinander verbinden, inkludiert und eine Verwechslung zwischen diesem Oberbegriff und der Bewegung der Visuellen Poesie ausschließt.

Ich verwende […] Optische Poesie als allgemeinen Oberbegriff für eine Poesie, zu der - differenziert und als eigene Formen betrachtet - Visuelle Poesie und in Teilbereichen auch Konkrete Poesie, Kinetische Poesie sowie Musikalische Grafik ebenso gehören wie z.B. Figuren-, Gitter- und Labyrinthgedichte oder Formen der Ars Combinatoria, Enigmatik, Allegorik, Hieroglyphik, Emblematik und die diversen Formen von Bild-Texten, Text-Bildern. […] Dabei soll insbesondere vermieden werden, dass der Begriff Visuelle Poesie, der eine ganz bestimmte Ausdrucksform bezeichnet, die sich leicht zeitversetzt parallel zu Konkreten Poesie seit den 1960er Jahren entwickelte, über alle Jahrhunderte hinweg auf alles Verwandte oder gar nur Ähnliche angewendet wird.17

Der in diesem Zitat erwähnte Begriff Visuelle Poesie, der eine Form der Optischen Poesie in den 1960er Jahren beschreibt, wird in dieser Arbeit synonym zu dem italienischen Begriff Poesia visiva verwendet.

2. Wichtige Aspekte der Entwicklung von Form und Inhalt in der Optischen Poesie, von der Antike bis zum 20. Jahrhundert

Zunächst soll hier ein Überblick über die literarischen Erscheinungsformen gegeben werden, die maßgeblich zur Entstehung der verschiedenen Formen der Optischen Poesie in den Avantgarden beitrugen. Dieser Überblick beschreibt zum einen chronologisch die wichtigsten Etappen der Entwicklung des Figurengedichts seit der Antike, zum anderen soll er einen Blick auf die Künstler werfen, die hinsichtlich der Bewertung von Sprache, Fläche und Schrift neue Ideen entwickelten wie z.B. Laurence Sterne und Stéphane Mallarmé. Dieser Überblick erfolgt sehr knapp und konzentriert sich hier vor allem auf die literarischen Strömungen, die später wichtigen Einfluss auf die Werke der Konkreten Poesie in Brasilien und der Visuellen Poesie in Italien ausübten, wie der Futurismus, der nicht nur große Bedeutung in Italien erlangte, sondern auch eine starke Rezeption in Lateinamerika erfuhr.18 Aufgrund der Vielfalt des Materials und der Verbreitung der Optischen Poesie in verschiedenen Formen weltweit ist diese Eingrenzung nötig, da sonst der Rahmen dieser Arbeit deutlich überschritten werden würde.

2.1. Carmen figuratum - Das Figurengedicht

Die ersten Experimente mit Worten und ihren visuellen Möglichkeiten können bis in die Antike rückdatiert werden. Es handelt sich dabei um verschiedenartige Experimente mit den Buchstaben des Alphabets in der griechischen bukolischen Dichtung etwa 600 vor Christi.19

In der Zeit des Hellenismus entwickelte sich dann die Form des carmen figuratum oder technopaignon, Äkurze, überwiegend aus Versen bestehende, in der Regel nichtepische und nichtdramatische Texte“20, in denen durch die Anordnung der Buchstaben und unterschiedliche Verslängen der Inhalt des Textes bildlich widergespiegelt wurde.

Nachgeahmt wurden meist Umrissformen einfacher Gegenstände wie Beile, Flügel oder Altare. Bedeutende Dichter dieser Zeit waren Simmias von Rhodos, Theokrit, Dosiadas und Besantinos.21 Ein Beispiel für ein carmen figuratum der Zeit ist dieses Flügelgedicht von Simmias von Rhodos:

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Abbildung 1: Simmias von Rhodos: Flügelgedicht, 3.Jahrhundert vor Christi

Die äußere Form des Gedichtes ist die eines Flügelpaares, wobei jeder Flügel aus sechs Zeilen bzw. Federn besteht. Im Text erfährt man, dass es sich um die Flügel des Eros handelt.22 Simmias nutzte also die äußere Form des Gedichts, um dessen Inhalt widerzuspiegeln bzw. zu intensivieren.

In der Spätantike entwickelte Publilius Optatianus Porfyrius, ein christlich lateinischer Dichter des 4. Jahrhunderts, das Gittergedicht, das carmen cancellatum. Darin imitierte er mit bekannten gegenstandsmimetisch angelegten Textfiguren wie Altar und Syrinx das griechische Umrissgedicht23, fügte aber eine Neuerung hinzu, die Intexte oder versus intexti, farbig hervorgehobene oder umrahmte Buchstaben, die einen zusätzlichen Text bilden. Nicht mehr die äußere Form des Gedichtes war nun gegenstandsmimetisch angelegt, sondern die Intexte formten z.B. ein Kreuz, um auf christliche Inhalte hinzuweisen, und bildeten auch gleichzeitig einen eigenständigen, zusätzlichen Text.24 Porfyrius lebte zu Zeiten Konstantins des Großen im Osten des Römischen Reiches in der von der Antike bis zum 20. Jahrhundert 10

Verbannung. Er schrieb seine Gedichte, um den Kaiser zu ehren und milde zu stimmen.25 Man kann also durchaus von einer nicht nur künstlerischen, sondern auch politisch - ideologischen Motivation Porfyrius‘ ausgehen. Die von ihm geprägte Form des Gittergedichts und dessen christliche Prägung blieben bis ins hohe Mittelalter erhalten.26

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Abbildung 2: Porfyrius: Gittergedicht, 4. Jahrhundert

Ein weiterer Höhepunkt der Experimente mit den visuellen Aspekten der Dichtung war die karolingische Renaissance vom Ende des 8. bis zum 10. Jahrhundert. Hier fertigten Dichter wie Alcuin, Josephus Scotus und Hrabanus Maurus Gedichte nach dem Vorbild von Porfyrius an. Alcuin, der am Hofe Karl des Großen lehrte, schrieb Gittergedichte, die diesen lobpreisen sollten und wie schon bei Porfyrius politisch-ideologische Tendenzen aufwiesen.27 In den Gedichten Alcuins lässt sich klar die von Porfyrius geprägte Form von der Antike bis zum 20. Jahrhundert 11 des Gittergedichts erkennen. Die Intexte sind hier streng geometrisch angelegt und werden durch die typografisch hervorgehobenen Buchstaben herausgestellt.

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Abbildung 3: Alcuin: Gittergedicht zum Lobe Kaiser Karls, 8. Jahrhundert

In den folgenden Jahrhunderten loderte die Tradition des Figurentextes ab und zu wieder auf, z.B. im 16. und 17. Jahrhundert durch die Entdeckung der Anthologia Graeca, führte aber bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht zu neuen Hochzeiten.28

2.2. Stilistische Neuerungen im Umgang mit Sprache, Fläche und Schrift

Hinsichtlich der Neubewertung von Sprache, Fläche und Schrift nennt Anja Ohmer zwei frühe Beispiele, in denen sich experimentelle Ansätze finden lassen. Zum einen zeigen sich diese bei Ovid und der Art, wie er die Verwandlung der lykischen Bauern in Frösche imaginiert und damit die konventionelle Funktion der Sprache unterläuft, zum anderen bei der von Walther von der Vogelweide erfundenen Interjektion tandaradei, die in seinem Gedicht Under den linden in verschiedenen Funktionen eingesetzt wird. Damit entsteht eine vollkommene Öffnung des Wortmaterials, die eine Anwendbarkeit des Wortes in jedem beliebigen Sinn ermöglicht.29

Einen großen Schritt in diese neue Richtung tat auch Laurence Sterne im 18. Jahrhundert. Er führte in seinem zwischen 1759 und 1767 erschienenen Roman The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, der auch als erstes Künstlerbuch gelten kann30, mithilfe typografischer Mittel neue Möglichkeiten der Visualisierung des Textes ein. In den Prosatext eingebunden erscheinen mit Sternchen oder kleinen Strichen gefüllte Abschnitte, das Symbol eines zeigenden Fingers, der auf Erläuterungen des Autors hinweist, leere Kapitel, weiße Seiten, durchgestrichene Worte und schwarze Rechtecke31, die sich jedoch alle thematisch in den Text einfügen und dementsprechend mitgelesen werden müssen, da es sich nicht um Illustrationen des Textes, sondern um Abstraktionen handelt. Die schwarzen Rechtecke können polyfunktional gelesen werden, als Bild eines ausgehobenen Grabes, einer Grabplatte, eines schwarzen Vorhangs oder auch als tabula erasa, der ausradierten Schreibtafel eines erloschenen Bewusstseins. Außerdem findet sich bei Sterne auch eine in den Text eingefügte grafische Linie, die polyfunktional und simultan als geometrisch-mathematisches Symbol, als moralisches Emblem und als burlesk verstandene Richtschnur eines christlichen Lebens interpretiert werden kann.32 Die Leerstellen im Text bilden Fermaten im Leserhythmus und lassen Raum, den Text neu zu bedenken oder selbst weiter zu führen. Sie fungieren als visuelle Assoziationsräume.33 Diese Ideen wurden erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Mallarmé und im 20. Jahrhundert von den Futuristen wieder aufgegriffen.

2.3. Exkurs zur Entwicklung der Massenkommunikation im 20. Jahrhundert

Bevor auf die Entwicklung der Optischen Poesie im 20. Jahrhundert eingegangen wird, soll an dieser Stelle ein kurzer Einschub zur Entstehung der Massenkommunikation in dieser Zeit erfolgen, da diese einen großen Einfluß auf die Entwicklung der Poesie hatte.

Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts kam es zu einer immer schneller fortschreitenden Entwicklung der Massenmedien wie Kino, Fernsehen und Werbung. Diese hatten, im Gegensatz zur traditionellen Literatur, die Möglichkeit, in jede Gesellschaftsschicht einzudringen. Das Bild hatte mittlerweile eine größere Durchdringungskraft als das Wort angenommen und die Dichter gerieten dadurch in Darstellungsnot.34 Die Poesie hatte es nicht geschafft, mit den technologischen und sozialen Entwicklungen der Zeit mitzuhalten und richtete sich deswegen an ein immer eingeschränkteres Publikum. Die Rolle, die der Künstler in der Gesellschaft haben konnte und sollte, wurde von Bedeutung. Der Vers entfernte sich immer weiter vom Alltag der Menschen. Die Bewegungen der Neoavantgarde griffen dieses Problem auf und wollten Poesie für die Massen schaffen.

Bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich aufgrund neuer technischer und formaler Möglichkeiten auch zahlreiche Neuerungen in der Typografie. Neben der Buchtypografie kam es auch zur Entwicklung der Gebrauchstypografie, der Akzidenz, die auch zur starken Verbreitung der Werbung beitrug. Die Typografie wurde zu einem neuen Betätigungsfeld für viele Künstler. Es kam so zu einer bewussten Annäherung zwischen Kunst und Industrie.35

Ab der Mitte der 1920er Jahre beherrschte die Lichtreklame bereits die Wahrnehmung der modernen Großstadt. Die Transformation der Medien und der massive Anstieg an Werbung als Resultat von immer stärker anwachsenden aggressiven Marketingstrategien sowie die boomende Nachkriegswirtschaft und der rapide Anstieg der Konsumkultur begannen ab den 1950er Jahren, einen großen Einfluss auf das tägliche Leben und die Strategien der Wahrnehmung und Kognition zu haben.36 Dies führte zum Entstehen einer neuen Massenkultur.

Der Begriff der Massenkultur entwickelte sich in den 1930er Jahren. Er beschreibt eine Kultur, bei deren Produktion es sich um kulturelle Massenprodukte handelt, die aus Profitinteressen von Spezialisten für passive Konsumenten gefertigt wurden und nicht spontane Erzeugnisse der Massen sind.37 Die Massenkunst wird verstanden, als ein Zusammenschluss künstlerischer Werke, die auf der Basis industrieller und kommerzieller Logik produziert wurden und dazu bestimmt sind, von einem größtmöglichen Publikum konsumiert zu werden.38 Der Begriff Popularkultur tritt erst seit den 1940er Jahren häufiger in Erscheinung und beschreibt im Gegensatz zur Massenkultur, nicht Kultur für die Massen, sondern eine Kultur abseits der Hochkultur.39

2.4. Die Entwicklung der Optischen Poesie seit dem Erscheinen von Un coup de dés

Die neue Epoche des Figurentextes begann mit Stéphane Mallarmé und den Futuristen. Auch wenn es sich bei deren Schöpfungen nicht um Formen des herkömmlichen Figurentextes handelte, stellen sie dennoch einen bedeutenden Schritt auf dem Weg zur Konkreten und Visuellen Poesie dar.

Hier liegen nicht eigentlich Figurentexte vor, sondern Experimente mit den Möglichkeiten visueller Strukturen auf der leeren Seite. Es erfolgt ein radikaler Bruch mit der Tradition des Figurentextes, so daß man sich fragen muß, ob Mallarmé und der Futurismus überhaupt in diese Studie gehören. Die Antwort lautet: ohne sie läßt sich die Genese der neuen Strukturen des Figurentextes bei Apollinaire wie auch die Geschichte der visuellen Poesie nach ihnen nicht verstehen. Der Bruch war also notwendig für die Erneuerung.40

Das Gedicht Un coup de dés jamais n’abolira le hasard41 des französischen Dichters Stéphane Mallarmé erschien 1897 und hatte großen Einfluss auf die Poesie des 20. Jahrhunderts. Es handelt sich dabei zwar um einen figurativen Text, jedoch weist dieser kaum Ähnlichkeiten zu den bislang bekannten Formen des Umriss- oder Gittergedichts auf.42 Das Gedicht erstreckt sich über elf Doppelseiten43 und ist aus neun verschiedenen Drucktypen zusammengesetzt. Der weißen Seite kommt dabei, wie schon bei Sterne, eine neue Bedeutung zu, sie wird zum zentralen Teil des Textes und muss als solcher mitgelesen werden, sie gewinnt an eigener Bedeutung und verliert ihre reine Trägerschaftsfunktion.44

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Abbildung 4: Stéphane Mallarmé: Un coup de dés, 1897

Durch die neuartige, nicht lineare Verteilung der Wörter im Raum entsteht eine fast musikalisch anmutende neue Rhythmisierung. So verweist Mallarmé auch auf die Verbindung seiner Texte zur Musik. Die verschiedenen Drucktypen stellten für ihn die Tonhöhe oder Lautstärke des Wortes dar. ÄDieser onomatophonetische Aspekt wird in Futurismus und Dada theoretisch untermauert und zugleich in typografischen Experimenten sichtbar.“45 Die verschiedenen Drucktypen und - größen ermöglichen es dem Leser außerdem, selbst aktiv zu werden und den Text auf verschiedene Art und Weise zu ordnen und zu interpretieren. Zusammen mit der fehlenden Interpunktion verursacht dies die Polysemie des Textes. Mallarmé verwendet kein umgangssprachliches Französisch oder die zeitgenössische Literatursprache, sondern eine Art Kunstsprache.46 Nach Christina Weiß gibt es drei Aspekte bei Mallarmé, die entscheidend zu einer neuen Konzeption der Dichtung beitrugen: die Aufhebung der traditionellen Leserichtung durch die Visualisierung des Textes, die Entdeckung der weißen Seite als Druck- und Lesefläche sowie die Infragestellung der literarischen Gattungstrennung.47

Einige Ideen von Mallarmé wurden im Futurismus, der als eine der innovativsten avantgardistischen Bewegungen gelten kann, wieder aufgegriffen. Der Futurismus erlangte vor allem in Italien große Bedeutung und versteht sich nicht nur als literarische Bewegung, sondern als globale Ideologie, die Kunst und Politik untrennbar miteinander vereinen soll.

Als bedeutendster italienischer Vertreter des Futurismus gilt Filippo Tomaso Marinetti. Im Jahr 1876 in Ägypten geboren, ging er 1893 nach Paris und schloss sich dem literarischen Zirkel der Symbolisten an, wo er sich vor allem mit der Thematik des freien Verses auseinandersetzte.48 Am 20. Februar 1909 erschien Marinettis erstes Manifest Manifesto Futurista, welches den Futurismus ins Leben rief, in der französischen Zeitung Le Figaro. In diesem ersten Manifest des Futurismus‘ proklamierte Marinetti die Liebe zur Gefahr, sowie das Streben nach Mut, Kühnheit und Rebellion. Marinetti verherrlicht die Schnelligkeit, das Kampfgetümmel und den Krieg, den er als einzige wahre Hygiene der Welt sieht. Der Futurismus stellt sich gegen Orte wie Museen, Bibliotheken und Akademien, da sie nur die Vergangenheit lobpreisen. Der Futurismus hingegen lehnt den passatismo der traditionellen Kunst ab und blickt nur voraus, in die Zukunft.49

Im am 11. Mai 1912 veröffentlichten Manifesto tecnico della letteratura futurista formuliert Marinetti den literarischen Futurismus. Er fordert: ÄDopo il verso libero, ecco finalmente le parole in libertà!“ Das Manifest proklamiert die Zerstörung der Syntax durch die Abschaffung von Adjektiv, Adverb und Interpunktion sowie die Aufgabe des Ichs. Tempo, Lärm und Brutalität sollten fortan den Inhalt der Literatur bestimmen.50 Im zweiten Teil des Manifesto tecnico della letteratura futurista, welcher genau ein Jahr später am 11. Mai 1913 erschien und den zusätzlichen Titel Distruzione della sintassi/Immaginazione senza fili/Parole in libertà trug, sagte Marinetti dem freien Vers den Tod voraus, dieser solle von den parole in libertà ersetzt werden, denn die freie Versgestaltung bewahre immer noch die syntaktische Ordnung der Worte und müsse deshalb abgeschafft werden. Außerdem sollte der Gebrauch von verschiedenen Druckfarben und -typen zu einer gesteigerten Ausdruckskraft der Worte führen.51

Zum Beispiel: Kursiv für eine Reihe von ähnlichen oder schnell vorübergehenden Gefühlen; Antiqua für heftige Onomatopoesien usw. Durch diese typographische Revolution und der farbigen Verschiedenheit von Lettern, glaube ich die Ausdruckskraft der Worte verdoppeln zu können.52

Deutlich wurden diesen Ideen Marinettis z.B. in seinem Gedicht Poesia nascere aus dem Jahr 1914.

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Abbildung 5: Filippo Tomaso Marinetti: Poesia Nascere, 1914

Darin beschreibt er die Geburt der futuristischen Poesie oder mit dem Gebrauch der Phrase Nessuna poesia prima di noi auch die Neugeburt der Poesie überhaupt, da für ihn der Vergangenheit keine Bedeutung zukommt. In der Phrase poesia nascere wachsen die Buchstaben gewissermaßen simultan zum Entstehen der Poesie an und spiegeln den Inhalt derselben wider. Überdies wird hier durch die Wortgruppe velocità - treno - ponte di ferro Marinettis Zuneigung zur Technik und Schnelligkeit deutlich. Die Fahrt des Zuges wird mithilfe onomatopoetischer Mittel beschrieben, treno wird zu tren tron, dem Geräusch des Zuges, dessen Fahrt durch die Eisenbrücke unterbrochen wird, was auch durch die Änderung der Typografie verdeutlicht wird. Eine ähnliche onomatopoetische Wirkung findet man bei der Interjektion viva. Die stetig anwachsenden Buchstaben symbolisieren das Ansteigen der Lautstärke, wodurch viva am Ende tatsächlich wie ein Ausruf wirkt.

Marinetti äußerte sich auch zu den Neuerungen im Kommunikationswesen und deren große Auswirkungen auf den Menschen.

Wer heute den Fernschreiber, das Telephon, das Grammophon, den Zug, das Fahrrad, das Motorrad, das Auto, den Überseedampfer, den Zeppelin, das Flugzeug, das Kino, die große Tageszeitung (Synthese eines Tages der Welt) benutzt, denkt nicht daran, daß diese verschiedenen Arten der Kommunikation, des Transportes und der Information auf seine Psyche einen entscheidenden Einfluß ausüben.53

Marinetti orientierte sich anfangs an den Experimenten Mallarmés, distanzierte sich später aber wieder davon.54 Anstelle der dekorativen und preziösen Ästhetik und der Suche nach seltenen Worten von Mallarmé trat bei ihm die Alltagssprache. Er wollte alles vermeiden, was gewollt und künstlich aussah.55

Ein anderer Vertreter des italienischen Futurismus ist der 1879 in Florenz geborene Ardengo Soffici. Er veröffentlichte 1920 die Principi di una estetica futurista. Darin finden sich seine Beobachtungen zur Ästhetik der Typografie. Im Gegensatz zur Ablehnung der Vergangenheit bei Marinetti verweist Soffici bezüglich des Zeichencharakters der Buchstaben auf das geschichtliche Denken, auf das antike ideografische Zeichen.56

Già per se stessa, la pura lettera, nella sua astrazione di antichissimo segno ideografico (raffigurazione, insieme di esseri e cose viventi, sugli obelischi, le stele, le magiche foglie del papiro) degenerato in tipo meccanico d’alfabeto, ha una virtù emotiva. Evoca le genialità primeve, le storie di antichi popoli, e paesi di tenebra e d’oro, la marcia augusta della civiltj - e il loro arrivo negli specifici dei ciarlatani -. È anche, come ha detto qualcuno: il vestito mortale della Poesia, l’ornamento dell’Idea nuda. Animata poi di colori e luci, in combinazioni sorprendenti, posta in movimento nei più vivi gurgiti della nostra esistenza, la sua efficacia diviene ancora più evidente. Efficacia di suggestione die complemento figurativo. Non più muto segno di convenzione, ma forma viva fra forme vive, la lettera può far corpo con la materia della rappresentazione.57

Zu Beginn seiner künstlerischen Karriere, war Soffici als Maler tätig, was auch in seiner Dichtung deutlich zu tragen kam. Sein Stil ist fragmentarisch, skizzenhaft und transparent, mit dem Ziel, die Wörter so zu setzen, wie der Maler die Farben.58 Er verwendet typografisches Material und Elemente, die der Typografie der Zeitung und der Werbung entnommen sind. Ein Beispiel für ein Gedicht von Soffici ist Al Buffet della Stazione.

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Abbildung 6: Ardengo Soffici: Al Buffet della Stazione, 1914

Darin finden sich verschieden Drucktypen, mal fett gedruckt, mal groß oder klein geschrieben. Neben einer Zeitungsseite werden auch verschiedene andere Gegenstände durch Linien nachgeahmt wie etwa bei cicca spenta oder il legno del tavolino. Wie auch schon bei Mallarmé wird hier der Leser dazu angehalten, selbst aktiv zu werden und seine eigene Interpretation der einzelnen Textbausteine zu entwerfen, die durch den Titel des Gedichts einem Kontext zugeordnet wurden.

Der Futurismus kann auch als Vorläufer der modernen Werbegrafik gesehen werden.59 Ein Beispiel dafür sind die Werbegestaltungen des futuristischen Künstlers Fortunato Depero. Dieser war Maler, Dichter und Werbegrafiker und äußerte sein Interesse an der Werbung bereits 1915 in seinem Manifest Ricostruzione futurista dell’universo. Depero sah die Werbung als Kunst der Zukunft.60

[…] lo splendore nostro, le glorie nostre, gli uomini nostri, i prodotti nostri, hanno bisogno di un’arte nuova altrettanto splendente, altrettanto meccanica e veloce, esaltatrice della dinamica, della pratica della luce, delle materie nostre - […] esaltando con il genio i nostri prodotti, le nostre imprese, cioè i fattori primi della nostra vita, non facciamo che dell’arte purissima e verissima, moderna -.61

Depero fertigte zahlreiche Werbeanzeigen für Firmen wie Magnesia. L’Aqua S. Pellegrino, Strega, Schering, Verzocchi und Davide Campari. Besonders fruchtbar war die Zusammenarbeit mit Davide Campari, die 1925 begann. Zusammen mit dem Dichter Giovanni Gerbino entwarf Depero eine Reihe von Werbeanzeigen, vor allem für die Aperitifs Bitter und Cordial Campari.62

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Abbildung 7: Fortunato Depero: Campari Cordial Bitter, 1933

Deutlich werden darin die Verwendung verschiedener Drucktypen und die Dreidimensionalität einiger Buchstaben, welche an moderne Hochhäuser erinnert. Depero leistete einen großen Beitrag zur Entstehung der modernen Werbegrafik, nicht nur auf der grafischen Ebene, sondern auch stilistisch und verbal.

Attraverso l’invenzione dell’onomalingua - linguaggio fonetico onomatopeico astratto -, il ricco utilizzo di figure retoriche, la sintesi dei concetti, l’immediatezza della immagini, le diverse forme che assumono i testi e la direzionalità di lettura in continuo cambiamento, Depero anticipa di fatto la scrittura pubblicitaria attuale.63

In Frankreich nahm der 1880 in Rom geborene französische Dichter Guillaume Apollinaire in seinen zwischen 1912 und 1918 erschienenen Calligrammes die Ideen der Futuristen auf. Im Jahr 1913 veröffentlichte er sein Manifest L’antitradition futuriste. Die Ideen Apollinaires wurden in Zusammenarbeit mit Marinetti zunächst in die äußere Form eines futuristischen Manifests gebracht, erst dann erschien das Manifest auf Französisch und Italienisch.64 Apollinaire stützte sich dabei auf die Ideen vorhergehender futuristischer Manifeste, vor allem auf die beiden Teile des Manifesto tecnico della letteratura futurista von Marinetti. Er forderte:

Unterdrückung des poetisch ausgedrückten Schmerzes, der snobistischen Esotismen, der Nachbildungen in der Kunst; Unterdrückung der Syntax (schon von allen Sprachen der Welt verurteilt!), des Adjektivs, der Interpunktion, der typographischen Harmonie, der Tempi und der Deklination der Verben, der orchesterähnlichen oder theatralen Formwiedergabe und die Unterdrückung des erhabenen künstlerisch Falschem und des Verses und der Strophen.65

Apollinaire war auch inspiriert durch die Malerei von Kubisten wie Picasso und Braque und die Verwendung von Collagen, Assemblagen und Montagen, in denen sich Form Bewegung, Schrift und Farbe mischten.66 Ihm war die Tradition des antiken und barocken Figurengedichts bekannt, auf die er auch bewusst zurückgriff.67 Bei den Calligrammes handelt es sich demnach auch meist um figurale Textbilder, die einen Aspekt des Textinhalts auf verschiedene Art und Weise abbilden. Apollinaire verwendet für die Calligrammes verschiedene Formen der Anordnung, unterschiedliche Drucktypen, mathematische Zeichen oder wie in il pleut wellenförmige Linien, aus denen Verse gebildet sind.

[...]


1 Vgl. Lombardi, Andrea/ Wataghin, Lucia (2003): Prefácio. In: Wataghin, Lucia (Hg): Brasil e Itália. Vanguardas. Ateliê Editorial, São Paulo: 7.

2 Vgl. Ebd.: 9.

3 Vgl Ohmer, Anja (2011): Textkunst. Konkretismus in der Literatur. Weidler Buchverlag, Berlin. 23.

4 Dencker, Klaus Peter (2011): Optische Poesie. Von den prähistorischen Schriftzeichen bis zu den digitalen Experimenten der Gegenwart. De Gruyter, Berlin.

5 Dencker, Klaus Peter (1972): Text-Bilder. Visuelle Poesie international. Von der Antike bis zur Gegenwart. DuMont Schauberg, Köln.

6 Vgl. Dencker (2011): 14f.

7 Ernst, Ulrich (1991): Carmen figuratum: Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters. Böhlau - Verlag, Köln.

8 Schorneck, Ute (2001): Calligrammes. Figurentexte in der abendländischen Literatur, besonders im 19. und 20. Jahrhundert (Schwerpunkte: Frankreich, Italien). Peter Lang, Frankfurt am Main.

9 Vgl. Ohmer (2011): 23ff.

10 Williams, Emmett (1967): An Anthology of Concrete Poetry. Something Else Press, New York.

11 Solt, Mary Ellen (1970): Concrete Poetry. A world view. Indiana University Press, Bloomington.

12 Weiß, Christina M. (1982): Seh-Texte. Zur Erweiterung des Textbegriffs in konkreten und nach-konkreten visuellen Texten. Universität des Saarlandes, Saarbrücken.

13 De Campos, Augusto/ Pignatari, Décio/ De Campos, Haroldo (1975): Teoria da poesia concreta. Textos críticos e manifestos 1950 - 1960. Livraria Duas Cidades, São Paulo.

14 Spignoli, Teresa/ Corsi, Marco/ Fastelli, Federico/ Papini, Maria Carla (Hg.): La poesia in immagine / L’immagine in poesia. Gruppo 70. Firenze 1963-2013. Campanotto Editore, Pasian di Prato.

15 Cerritelli, Claudio / Gazzotti, Melania (Hg.) (2013): La poesia visiva. 1963-2013 Omaggio al Gruppo

70. Tre Lune Edizioni, Mantua.

16 Fabi, Sauro (2008): L’avanguardia per tutti: concretismo e poesia visiva tra Russia, Europa e Brasile. Eum Edizioni, Macerata.

17 Dencker (2011): 1.

18 Schon am 5. April 1909 erschien ein Essay zum futuristischen Manifest Marinettis von Rubén Darío in La Nación in Buenos Aires, am 30. Dezember 1909 wurde der erste brasilianische Kommentar von Almachio Diniz veröffentlicht. Dazu: De Castro Rocha, Jomo Cezar (2000): “Futures Past”: On the Reception and Impact of Futurism in Brazil. In: Berghaus, Günter (Hg.): International futurism in arts and literature. De Gruyter, Berlin: 209f.

19 Vgl. Picchione, John (2004): The New Avant-Garde in Italy. Theoretical Debate and Poetic Practices. Univerity of Toronto Press, Toronto: 181.

20 Ernst, Ulrich (2002): Intermedialität im europäischen Kulturzusammenhang. Beiträge zur Theorie un Geschichte der visuellen Lyrik. Erich Schmidt Verlag, Berlin: VII.

21 Vgl. Schorneck: 28.

22 Vgl. Ebd.: 30.

23 Vgl. Ernst (2002): V.

24 Vgl. Schorneck: 9f.

2. Wichtige Aspekte der Entwicklung von Form und Inhalt in der Optischen Poesie,

25 Vgl. Schorneck: 32f.

26 Vgl. Ebd.: 2.

27 Vgl. Ebd.: 35f.

2. Wichtige Aspekte der Entwicklung von Form und Inhalt in der Optischen Poesie,

28 Vgl. Schorneck: 28.

29 Vgl. Ohmer (2011): 8.

30 Vgl. Schorneck: 2

31 Sterne, Laurence (1963): Das Leben und die Meinungen des Tristram Shandy. Winkler-Verlag, München.

32 Vgl. Ohmer (2011): 8.

33 Vgl. Weiß: 26.

34 Vgl. Dencker (2011): 325.

35 Vgl. Schneider, Dunja (2011): Worträume. Studien zur Funktion von Typografie in installativen Werken von der Conceptual Art bis heute. LIT Verlag, Berlin: 199f.

36 Vgl. Schaffner, Anna Katharina (2006): Inheriting the Avant-Garde: on the Reconciliation of Tradition and Invention in Concrete Poetry. In: Hopkins, David (Hg.): Neo-avant-garde. Rodopi, Amsterdam: 102.

37 Vgl. Hecken, Thomas (2009): Pop. Geschichte eines Konzepts 1955-2009. transcript Verlag, Bielefeld: 58f.

38 Vgl. Fabi: 16.

39 Vgl. Hecken: 58.

40 Schorneck: 28.

41 In der Sekundärliteratur wird der Titel zumeist mit Un coup de dés abgekürzt.

42 Vgl. Schorneck: 72.

43 Aus Platzgründen ist hier nur die letzte der elf Doppelseiten als Beispiel abgebildet.

44 Vgl. Weiß: 27.

45 Schneider: 202.

46 Vgl. Schorneck: 75.

47 Vgl. Weiß: 28f.

48 Vgl. Schorneck: 90.

49 Vgl. Marinetti, F.T. zit. In: Viviani, Alberto (2014): Il poeta Marinetti e il Futurismo. Nuove Edizioni Culturali, Mailand: 30f.

50 Vgl. Carrieri, Raffaele (1963): Futurismus. Edizioni del Milione, Mailand: 79f.

51 Vgl. Carrieri: 82.

52 Marinetti, F.T. zit. In: Carrieri: 82.

53 Marinetti, F.T. zit. In Apollonio, Umbro (1972): Der Futurismus. Manifeste und Dokumente einer künstlerischen Revolution 1909-1918. Verlag M. DuMont Schauberg, Köln:119.

54 Vgl. Schorneck: 92.

55 Vgl. Carrieri: 82.

56 Vgl. Schorneck: 99.

57 Soffici, Ardengo zit. In Schorneck: 99.

58 Vgl. Schorneck: 101.

2. Wichtige Aspekte der Entwicklung von Form und Inhalt in der Optischen Poesie,

59 Vgl. Schorneck: 102.

60 Vgl. Palmisano, Maria Elena (2011): Letteratura e pubblicità. Interscambi ed esempi. Pensa MultiMedia Editore, Lecce: 129f.

61 Depero, Fortunato zit. In: Palmisano: 130.

62 Vgl. Palmisano: 130f.

63 Palmisano: 130.

64 Vgl. Carrieri: 84.

65 Apollinaire, Guillaume zit. In: Carrieri: 85.

66 Vgl. Schorneck: 107.

67 Vgl. Weiß: 40.

Ende der Leseprobe aus 86 Seiten

Details

Titel
Optische Poesie des 20. Jahrhunderts. Entwicklung von Form und Inhalt im Kontext gesellschaftspolitischen und kulturellen Wandels
Untertitel
Die Gruppe "Noigandres" in Brasilien und "Gruppo 70" in Italien
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Romanische Philologie)
Note
2,1
Autor
Jahr
2016
Seiten
86
Katalognummer
V367098
ISBN (eBook)
9783668457492
ISBN (Buch)
9783668457508
Dateigröße
2593 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Konkrete Poesie, Visuelle Poesie, Gruppo 70, Noigandres, Optische Poesie
Arbeit zitieren
Carolin Roth (Autor:in), 2016, Optische Poesie des 20. Jahrhunderts. Entwicklung von Form und Inhalt im Kontext gesellschaftspolitischen und kulturellen Wandels, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/367098

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