Formenbau im 1. Satz des 4. Streichquartetts von Béla Bartók


Vordiplomarbeit, 2004

23 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.1 Allgemeines zum Streichquartett Nr. 4 von Béla Bartók
1.2 Überblick

2. Haupteil
2.1 Exposition
2.2 Durchführung
2.3 Reprise
2.4 Coda

3. Schlussteil
3.1 Folgerungen
3.2 Literaturangaben

1. Einleitung

1.1 Allgemeines

Das Interessenfeld der Komponisten verlagerte sich zugunsten der Harmonik bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in der europäischen Kunstmusik so stark, dass andere wichtige musikaliche Parameter wie Rhythmik und Metrik (Gestaltung von Takt, deren Untereinheiten und Tempo) sich kaum weiterentwickelt, sich gar teilweise zurückentwickelt hatten.

Dieser Problematik versuchten inbesondere Komponisten wie Béla Bartók (neben Strawinsky) ab Anfang des 20. Jahrhunderts auf sehr unterschiedliche Weisen zu begegnen.

Obwohl Bartók in diesem Quartett eine traditionelle Besetzung mit einer historischen Form „bedient“, so sind die harmonischen Mittel, jedoch auch rhythmisch-metrische Eigenheiten nicht traditionell-überkommen, sondern Ausdruck einer ernsthaften, konsequenten und individuellen Auseinandersetzung mit diesem musikhistorisch bedeutsamen Formenmodell des klassischen Streichquartetts.

Das Stück “Vonós Négyes” oder “IVéme Quatur a cordes” entstand im Jahre 1928 und ist der mittleren Schaffensperiode Bartóks zuzuordnen. Diese zeichnet sich sowohl durch besonders dissonante Harmonik, kühne Metrik als auch für die damalige Zeit neuartige “experimentelle” Instrumentalbehandlung aus.

Auffällig ist die “klassische” formale Gestaltung aller Sätze dieses Quartetts, aber besonders des ersten; dieser entspricht einem klassischen Sonatenhauptsatz mit klar definierbaren Formteilen Exposition, Durchführung, Reprise und Coda. In einem “tonalen”, klassischen Streichquartett Joseph Haydns beispielsweise ist der formale Aufbau - neben der thematisch-motivischen Arbeit - eng mit dem Harmonieverlauf verknüpft. Diese dem historischen Ohr vertraute Harmonik beruht auf Hierarchisierung von terzgeschichteten Mehrklängen und deren über Jahrhunderte weiterentwickelte satztechnische Anwendung, deren Spannungsverlauf ein differenziertes und abwechslungsreiches Klangbild ergibt, welches eine vergleichsweise klare, strenge Sonatenhaupsatzform nicht nur gut einbindet, sondern auch rechtfertigt.

Obwohl die Harmonik des in dieser Arbeit ausführlich behandelteten Streichquartettsatzes nur sehr wenige Bezüge zur Tonalität aufweist, macht sich Bartok dennoch die Spannungsgrade seiner Harmonik auch für den formalen Aufbau zunutze.

1.2 Überblick

Im Hauptteil steht der formale Aufbau des ersten Satzes des Werkes zur Debatte.

Als einzelne Unterkapitel habe ich mich den vier globalen Formteilen einzeln gewidmet, die ich wie folgt unterteilt habe:

Dabei fallen die Kapitel “Reprise” und “Coda” wesentlich kürzer als die übrigen beiden aus, da sich viele Aspekte wiederholen, die der Leser bereits im Detail erfahren hat.

- Exposition (T.1 - T.48)
- Durchführung (T.49 - T.92)
- Reprise (T.93 - T.125)
- Coda (T.126- T.161)

2. Hauptteil

2.1 Exposition

Die Exposition reicht von T.1 bis T.48.

Sie beginnt mit der Hauptthemengruppe (T. 1-13): Das Hauptmotiv besteht aus zwei Teilmotiven, die ich als „Motivkern a“ und „Motivkern b“ bezeichne. Sie werden uns noch im weiteren Verlauf der Analyse begegnen.

In seiner vollen Gestalt taucht das Hauptmotiv erstmalig in Takt 7 im Cello auf; charakteristisch für Motivkern a ist die chromatische Aufwärtsbewegung dreier Achtel, der Motivkern b mit einer ebenfalls chromatischen Abwärtsbewegung in drei Sechzehnteln folgt:

Abb 1: Hauptmotiv

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die ersten vier Takte bestehen aus jeweils zwei zwei-taktigen Phrasen (Phrase und Gegenphrase, wobei die zweite Phrase als zu kurze Antwort zur ersten erscheint). Da es ein wichtiger motivischer Bestandteil des Satzes ist, ist im ersten Abschnitt ein auftaktiges Achtel auffälllig, welches in der Vl.I halbtönig weitergeführt wird:

Abb 2: Auftaktmotiv

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Es wird eine Leittönigkeit mit dem Schritt f’’-fis’’suggeriert, die jedoch keine im eigentlichen Sinne ist, da keine tonale harmonische Wendung wie etwa “Dominante-Tonika” vorliegt. Diese Leittonwendung hat sich verselbstständigt, was in den beiden folgenden Takten schon spürbar wird:

In der verkürzten Gegenphrase (T.3 - T.4) wird konsequent mit Violine und Bratsche der Sekundraum von a bis es’ erschlossen.

Dabei bleiben die auftaktigen Achtel auch in anderen Intervallschritten in den Satz eingewoben (z.B. Vl.II a-h, T.3).

Auffallend in diesem Abschnitt der Hauptthemengruppe - aber auch für viele Teile des ganzen Satzes - ist der extrem reduzierte Intervallsatz, der im wesentlichen aus Sekunden (bzw. Nonen und Septimen) besteht; sie macht sich in der Satztechnik sowohl in der Horizontalen (Melodik und Kontrapunkt) als auch in der Vertikalen (Harmonik und Akkordsatz) bemerkbar.

Einerseits existieren clusterartige Gebilde, die durch gleichzeitiges Erklingen mehrerer aufeinandergeschichteter kleiner Sekunden gebildet werden1 ; andererseits erkennt man ganztönige Gebilde aus aufeinandergeschichteten großen Sekunden (auch große Nonen).

Bartók macht sich diesen „Farbwechsel“ dieser unterschiedlichen Klänge auch in der lokalen Formgestaltung zunutze:

Die imitatorische Engführung (T.4 letztes Achtel bis T.10), beginnend mit dem Cello, endend mit Vl.I, mündet in einen Cluster von c’ bis dis’ auf der sechsten Achtel (T.5). Der Wechsel von Cluster zu Ganztonakkord erscheint evident und bereitet auf neue formale Abschnitte vor. Zudem taucht diese Engführung in Vl.I und Vl.II in einer Diminution auf (16tel statt 8tel); sie hat daher drängenden Charakter.

Das enggeführte Motiv im Cello (es’, d’ und c’) ist rhythmisch und in seiner Bewegungsrichtung ein Vorgriff auf Motivkern a des Hauptmotivs:

Abb 3: Andeutung Motivkern a

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abgelöst wird der Klang von einem Ganztongebilde (b bis e’) auf der zweiten Achtel (T.6), der wirksam einen motivisch neuen Abschnitt einleitet. Harmonik und Motivik korrespondieren erneut stark.

Im folgenden Abschnitt (T.7 letztes Achtel bis T.10 5.Achtel) begegnet man wieder einer Engführung; diesmal wird die leittönige Wendung („Auftaktmotiv“) als Engführungsmotiv verwendet, wobei das Stimmengewebe im Zusammenklang auch wieder im Wechsel Cluster und Ganztonakkorde erzeugt (siehe T.5-T.6). Sie schiebt indes die dem Hörer unerfüllte Antwort auf die zuvor angeklungenen „zu kurzen“ Phrasen wieder auf, während die folgendenen Abschnitte innerhalb der Haupthemengruppe beschleunigend wirken:

Zunächst wird diese Stelle reflexartig mit kurzen homophonen Einwürfen zusammengefasst (T.10 7.Achtel, T.11 2.Achtel). Ab T.10 (4.Achtel) bis T.12 (Mitte) taucht das Hauptmotiv auf - angeführt von Vl.I und Vla nach einem Viertel in Engführung imitiert auf der Phrase von Vl.I, Vl.II und Vc. Da das Hauptmotiv bisher nur einmal gespielt wurde, bewirkt diese Verarbeitung dieses Motives mithilfe von Engführung den Eindruck der Verdichtung und Steigerung der satztechnischen Komplexität.

Ohne Überleitung wechselt die artikulierte und rhythmische Textur in das lyrische Seitenthema (T.14 - T.24 Ende). Die Begleitung bildet zunächst die Bratsche mit einem Ostinato. Das Ostinatomotiv ist fünf Achtel lang und erstreckt sich im großem Nonenraum (c, d’ und e’’), welcher daher „ganztönig“ klingt; das Cello löst diese Figur in T.18 (letztes Achtel) ab - eine Oktave tiefer transponiert. Allerdings bleibt die rhythmische Struktur nicht vollständig erhalten:

Abb 4:Ostinato

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Kanonisch gesellen sich die Violinen hinzu; interessant ist, dass dieser „Kanon“ auch seinerseits den Charakter eines Ostinatos hat. Es wird aber von Bartók dennoch durch die verschiedenen Einsatzzeiten und Fortspinnung ein polyphoner Satz hörbar, der sich von der Art eines originär-typischen Kanonsatzes unterscheidet.

Das Modell, das kanonisch verarbeitet wird, taucht im Cello in T.14 (5.Achtel) auf und endet in T.15 (3.Achtel); es hat wie das Hauptmotiv sechs Töne und diegleiche Bewegungsrichtung. Obwohl anders harmonisiert und rhythmisiert, könnte man annehmen, als lehne sich dies schattenhaft an das Hauptmotiv an. Vl.II imitiert dieses Modell nur in bezug auf die Anzahl der Töne und Bewegungsrichtung; in T.17 imitiert die erste Geige dieses Muster auf der Oberquint, während das Cello sein Modell zunehmend verkürzt und variiert.

Die Bratsche in T.18 (letztes Achtel) greift noch einmal den Komplex von Vl.I auf - in deren kleine Obernone imitiert, wobei Vl.II nun einen freien Kontrapunkt spielt und in einen einen Liegeton auf b in T.22 mündet. Vl.I und Vla reagieren imitatorisch noch aufeinander, jedoch vereinfacht sich auch hier die motivische Fortspinnung bis T.24 (Ende). Den letzten Zusammenklang (T.25 bis T.29) als Resultat einer intervallischen Verdichtung sehe ich als Paralellstelle zu T.10 bis T.13.

Diesem Ganztonakkord folgt ein „Komplementär“-Akkord (h, cis’ und dis’) in Vc und Vl.II. der diesen zu einem Cluster ergänzt. Die letzten zwei Achtel des Seitenthemas werden jetzt diminuiert von V.lI und Vla aufgegriffen; paralell zu T. 10 und T.11.

[...]

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Formenbau im 1. Satz des 4. Streichquartetts von Béla Bartók
Hochschule
Hochschule für Musik Hans Eisler Berlin
Veranstaltung
Formenlehre
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2004
Seiten
23
Katalognummer
V36670
ISBN (eBook)
9783638362221
ISBN (Buch)
9783638653657
Dateigröße
679 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In dieser Arbeit wird folgendes Stück ausführlich analysiert: "Béla Bartók : Streichquartett Nr. 4 1.Satz"
Schlagworte
Formenbau, Satz, Streichquartetts, Béla, Bartók, Formenlehre
Arbeit zitieren
Nikolai Zinke (Autor:in), 2004, Formenbau im 1. Satz des 4. Streichquartetts von Béla Bartók, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36670

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