Vom operativen Konstruktivismus zu Luhmanns Systemtheorie


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

47 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Operativer Konstruktivismus
2.1. Beobachtung
2.1.1. Unterscheidung
2.1.2. Bezeichnung
2.1.3. Crossing, Marked state/Unmarked state, Form, Re-entry
2.1.4. Beobachtung erster Ordnung
2.1.5. Beobachtung zweiter Ordnung
2.1.6. Beobachtung dritter Ordnung
2.1.7. Paradoxie der Beobachtung

3. Paradoxien Allgemein

4. Beobachtungsabhängigkeit von Realität und Welt

5. Systemtheorie als selbstreferentiell-zirkulären Universaltheorie und die Konsequenzen für Wissen und Wissenschaft

6. Fazit

7. Literatur

1. Einleitung

Die Systemtheorie will eine Universaltheorie sein. Eine Universaltheorie, die universal anwendbar und selbstreflexiv ist, insofern sie auch sich selbst als Gegenstand ihrer Theorie behandeln können muss. Da eine Universaltheorie ein kohärentes Theoriegebäude zum Ziel hat, kommt sie nicht darum herum, auch ihre eigene Erkenntnistheorie zu stellen. Luhmanns erkenntnistheoretische Position kann als Grundlage und zugleich als formgebend für seine Gesellschaftstheorie gesehen werden. Sie verhilft die Systemtheorie zu einer selbstreferentiell-zirkulären Universaltheorie zu machen, die sich also selbst mit einbezieht und damit über das Auseinanderfallen von Erkenntnis und Gegenstand - wie noch in der Erkenntnis klassischer Erkenntnistheorien - hinausgeht. Gesellschaft wird in der Gesellschaft beobachtet, Gesellschaft beobachtet sich somit selbst. Es gibt keine Superposition der Beobachtung mehr, keinen archimedischen Punkt für die Entscheidung für Unterscheidungen, keine beobachtungsunabhängige Beobachtung. „So wird der Erkenntnistheoretiker selbst Ratte im Labyrinth und muss reflektieren, von welchem Platz aus er die anderen Ratten beobachtet.“[1] Es kann immer nur das beobachtet werden, was beobachtet wird. Die dem zugrundeliegende bzw. vorausgesetzte Unterscheidung kann nicht gesehen werden, sie ist der blinde Fleck der Beobachtung. Dem kann auch die Systemtheorie nicht entgehen, aber sie ist sich dieser Begebenheit bewusst und kann sie reflektieren.

Wie sich und ob sich diese theoretische Position halten lässt und was dies schließlich für die Erkenntnis und dann auch Wissen und Wissenschaft bedeutet, soll das Thema dieser Arbeit sein.

Dabei kann nicht dezidiert analysiert werden, in wie weit der operative Konstruktivismus und der Formenkalkül von George Spencer Brown zusammenhängen, auch kann der Formenkalkül nicht explizit dargelegt werden, daher wird dieser wie bei Luhmann gehandhabt und gelegentlich auf ihn verwiesen.

Der Konstruktivismus ist nicht als einheitliche Theorie beschreibbar. Unter dieser Bezeichnung sind verschiedene Ansätze mit verschiedenen Schwerpunkten und Fokussierungen aus verschiedenen Disziplinen vereinigt. Er ist eher als „äußerst dynamischer interdisziplinärer Diskussionszusammenhang“[2] zu beschreiben. Allen Konzepten gemeinsam ist die spezielle Behandlung von Erkenntnis im Allgemeinen und auf eine ganz spezielle Weise die Auflösung einer ontologischen Sichtweise. Es kann daher aufgrund der Fülle an Arbeiten zu diesem Thema nicht näher auf die verschiedenen Spielarten des Konstruktivismus eingegangen werden, wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sollen aber kurz hervorgehoben werden. Zunächst soll in den operativen Konstruktivismus eingeführt werden, um dann zentrale Elemente wie Beobachtung zu behandeln, die dann direkt zu Paradoxien führen, um dann zu zeigen, wie diese „Erkenntnistheorie“ zur Systemtheorie als selbstreferentiell zirkuläre Universaltheorie und zu verändertem Wissen- und Wissenschaftsverständnis führt.

2. Operativer Konstruktivismus

Der operative oder systemtheoretische Konstruktivismus „ersetzt Unterscheidungen wie Idee/Realität, Sein/Nichtsein, Subjekt/Objekt, Zeichen/Bezeichnetes usf. durch Unterscheidungen wie Beobachtung (Unterscheidung/Bezeichnung) und System (System/Umwelt) als Modus der Beobachtung.“[3] Alle Erkenntnis ist nur durch Beobachtung zu erhalten und diese ist insofern unterscheidungsabhängig, als dass nur das in ihr Blickfeld gerät, was mit Hilfe der jeweils benutzten Unterscheidungen unterschieden werden kann. Beobachten können immer nur Systeme.

Zu beginnen ist daher mit autopoietischen Systemen und ihrer kognitiven Offenheit durch operative Geschlossenheit. Autopoietisch nennt Luhmann Systeme im Anschluss an die Konzeption von Maturana[4], „die die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren.“[5] Das Netzwerk der eigenen Operationen ist wiederum erzeugt durch eben diese Operationen. Die autopoietischen Systeme operieren aufgrund ihrer Geschlossenheit ausschließlich im Selbstkontakt; sie können keine Operationen außerhalb ihrer Grenzen durchführen. Alle Informationserzeugung und Verarbeitung findet somit innerhalb des Systems statt. Die Operation der Selbstreferenz ist die „Einheit, die ein Element, ein Prozeß, ein System für sich selbst ist“[6], diese Einheit muss aktiv durch „relationierende Operationen“[7] erschaffen werden. Dies geschieht nach Luhmann und im Anschluss an George Spencer Brown[8] durch das „Treffen einer Unterscheidung“.

Jedes System, das sich auf sich selbst bezieht, muss sich von seiner Umwelt als Umwelt unterscheiden. Die Einheit der Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz ist somit wiederum die Selbstreferenz. Diese stets mitlaufende Selbstreferenz ist Voraussetzung für jede weitere Form der Selbstreferenz und ermöglicht dem operativ geschlossenen System die kognitive Öffnung zur Umwelt. Nach dieser Konzeption kann „Kognition [...] nicht länger als Einfluß der Umwelt auf das System verstanden werden; und erst recht nicht als aktive Suche des Systems nach Information in der Umwelt.“[9] Erkennen wird nur möglich, wenn das System autopoietisch geschlossen operiert und sich gegen die Umwelt abgrenzt. Hier gibt es keine Informationen und keine Unterscheidungen, die Unterscheidungen sind immer eigene Leistungen des Systems. Im Prinzip ist dieser Gedanke nicht neu, Foerster argumentiert in Bezug auf kognitive Prozesse folgendermaßen, er denkt „kognitive Prozesse als nie endende rekursive Prozesse des (Er-) Rechnens [...]“[10] von Realität durch das jeweilige System. Und weiter: „Das Nervensystem ist so organisiert (bzw. organisiert sich selbst so), daß es eine stabile Realität errechnet.“[11] Das System hat auch nach Foerster selbst keinen direkten Kontakt mit der Umwelt, z. B. im Sinne einer Instrukttheorie, sondern es wird nur photochemisch oder akustisch durch Wellen gereizt und dann werden mit dem eigenen „Apparat“ daraus Informationen produziert, die in der Umwelt nicht vorhanden sind. Es wird zwar zugestanden, dass „da“ „etwas“ ist, was aber erst übersetzt wird. „Die Reaktion einer Nervenzelle enkodiert nicht die physikalischen Merkmale des Auges, das ihre Reaktion verursacht. Es wird lediglich das ‚so viel‘ an einem Punkt meines Körpers encodiert, nicht aber das ‚was‘.“[12]

Auch Roth argumentiert ähnlich, er geht davon aus, dass ganz normale Wahrnehmungen, wie Farben oder perspektivisches Sehen, aber auch komplexere Funktionen, wie Bewusstsein und Ich-Identität etc. sozusagen als „Beobachtungmasken“ erzeugt werden, aber keinerlei Entsprechung in der Außenwelt haben, sondern im Gegenteil: „Wir wenden diese hochkomplexen Konstrukte auf die Welt an, sie sind ihr aber nicht entnommen.“[13]

Der radikale Konstruktivismus[14] Ernst von Glasersfelds ist geprägt vom traditionellen Skeptizismus und seinem Postulat „die Welt jenseits unserer Sinne und Begriffe nicht erkennen zu können.“[15] Er schließt hier schon das Erkennen einer ontologischen Wirklichkeit aus. Er nimmt vor allem Bezug genetischer Epistemologie Piagets mit seinen Prinzipien Assimilation und Akkommodation, durch die es zu Stabilität bzw. Perturbationen kommt, wobei das entscheidende daran die konstruktivistische Auffassung ist, dass der Verstand des Menschen sich selbst und die Wirklichkeit organisiert und zwar das eine, indem er das andere organisiert und umgekehrt, sich also quasi selbst organisiert. Glasersfeld geht einen Schritt weiter und führt den Begriff der Viabilität ein, die eine Gerichtetheit in Richtung Anpassung impliziert: „Das heißt, daß wir in der Organisation unserer Erlebniswelt stets so vorzugehen trachten, daß das, was wir da aus Elementen der Sinneswahrnehmung und des Denkens zusammenstellen – Dinge, Zustände, Verhältnisse, Begriffe, Regeln, Theorien, Ansichten und, letzten Endes, Weltbild - , so beschaffen ist, daß es im weiteren Fluß unserer Erlebnisse brauchbar zu bleiben verspricht.“[16]

Die „reale Realität“, das „Sein an sich“, ist somit nicht zugänglich; was immer ein System für real hält, hat es sich selbst als real konstruiert und diese konstruierte Realität bezieht sich eben nicht auf das tatsächliche „Draußen“, die „Welt an sich“, sondern ist Ergebnis der eigenen Operationen. Segal fasst das folgendermaßen zusammen: Die Konstruktivisten [...] argumentieren, daß wir nicht die unabhängige Existenz der Außenwelt voraussetzen dürfen, um den Beobachter zu erklären.[17]

Die „tatsächliche“ Welt, die „Wirklichkeit an sich“ gibt es nun nicht mehr, denn die Beschaffenheit der Welt lässt sich nicht richtig oder falsch erkennen, sondern nur konstruieren. „Und wenn nun die Welt selbst als black box angenommen werden muß, dann gibt es keine Inputs und Outputs, dann gibt es nur Beobachtungsverhältnisse in der Welt, nur Unterscheidungen, die den ‚unmarked state‘ verletzen, und nur das Beobachten von Beobachtern in der Welt.“[18] Diese operative Geschlossenheit der Systeme muss allerdings nicht zwangsläufig heißen, dass diese auch in Hinsicht auf Materie und oder Energie geschlossen sind.

Anders als der Konstruktivismus will Luhmann das Zustandekommen der Konstruktion von Erkenntnissen nicht als Resultat bestimmter biologischer, sprachlicher, psychologischer oder sozialer Ursachen verstehen, denn dieser Schluß ist nicht zirkulär selbstreferentiell, „der Schluß ist schon rein logisch nicht stichhaltig. Wer von bestimmten Ursachen auf Erkenntnis als Konstruktion schließt, kann sich nicht gegen den Einwand wehren, daß auch andere Ursachen mitwirken (zum Beispiel Realitätskontakt) und daß die angegebenen Ursachen nicht alles erklären können (zum Beispiel nicht die Übereinstimmung der Beobachter), denn wenn Erkenntnis nichts anderes ist als eine Konstruktion, dann gilt dies natürlich auch für eben diesen Satz, und es gilt erst recht für die übliche Kausalbegründung selbst. Ein Argument für Konstruktivismus kann deshalb nur aus einer Explikation der Probleme der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung beobachtender Systeme gewonnen werden.“[19]

Luhmann vollzieht mit dem radikalen Konstruktivismus nun eine epistemische Wende und fragt nicht mehr, wie es seit Kant praktiziert wurde, nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, obwohl Erkennen wiederum nur durch Erkennen möglich ist. Luhmann macht das einschränkende „obwohl“ zu einem begründenden „weil“; es geht jetzt nicht mehr darum: „Wie ist Erkenntnis möglich, obwohl sie keinen von ihr unabhängigen Zugang zur Realität außer ihr hat. Der radikale Konstruktivismus beginnt dagegen mit der empirischen Feststellung: Erkenntnis ist nur möglich, weil sie keinen Zugang zu Realität außer ihr hat.“[20]

Allerdings wird im radikalen Konstruktivismus, der Standpunkt des Subjekts radikalisiert, was dazu führen könnte und auch teilweise führt, dass er die Seite des Objekts weglässt, was dann prinzipiell keine Erkenntnis mehr möglich macht. Aber im Gegensatz zum radikalen Konstruktivismus lautet das erkenntnistheoretisches Fundament des operativen Konstruktivismus nicht länger: Subjekt denkt Objekt, sondern: „Triff eine Unterscheidung.“[21]

Hierbei stößt man auf ein Paradoxon, nämlich auf die Frage, wie eine erste Unterscheidung zustande kommen kann. Ohne eine erste Unterscheidung, ohne Anfang geht es nicht. Eine erste Unterscheidung oder ein Anfang ist nur möglich, wenn es schon eine erste Unterscheidung gegeben hat, ein Anfang schon gemacht ist oder eben eine Differenz besteht. Der autopoietische Zirkel ist nicht auflösbar. Janich dagegen spricht von einem „Begründungsdilemma, dem zu entgehen sich bei keinem seiner Vertreter ein Ansatz finden läßt.“[22] Weiter argumentiert er: „die unbestrittene Tatsache, daß lebende Systeme als homöostatische immer Rückkopplungsprozessen und damit Zirkularitäten zeigen, rechtfertigt aber noch keine Argumentationszirkel.“[23] Er setzt dem ein kulturalistisches Naturwissenschaftsverständnis entgegen und rekuriert auf Zwecke, sozusagen als Axiome dieses Emanationsglaubens, die unhinterfragt bleiben. Für Luhmann „gilt die Grundregel aller Autopoiesis auch hier: Jedes Ende ist zugleich ein Anfang.“[24]

Er beantwortet diese Frage natürlich mit dem autopoietischen System und seinem Anfang ohne Anfang. „Eine erste Unterscheidung kann nur operativ eingeführt, nicht ihrerseits beobachtet (unterschieden) werden. Alles Unterscheiden von Unterscheidungen setzt diese ja voraus, kann nur nachher erfolgen, erfordert also Zeit bzw. [...] ein in Operation befindliches autopoietisches System.“[25] Luhmann „entfaltet“ somit dieses Anfangsparadox der Beobachtung, indem er auf die systemintern generierten Operation der Beobachtung verweißt. So ist Sehen nur möglich durch Nichtsehen, dabei wird die Paradoxie der Unterscheidung, die sich selbst nicht unterscheiden kann, nicht aufgelöst, sondern entfaltet und somit nutzbar gemacht.

Luhmann stellt eine Verbindung zwischen Konstruktivismus und Systemtheorie her, bzw. macht ihn zum systemtheoretischen Konstruktivismus, indem er die Unterscheidung von Erkenntnis und Gegenstand zugunsten der Unterscheidung System und Umwelt auswechselt und nun auch das Subjekt nicht mehr beobachten lässt, sondern eben ein System. „Aus dem Subjekt im traditionellen Sinne wird [...] ein empirisch beobachtbares, operativ geschlossenes selbstreferentielles System, und aus dem Objekt im traditionellen Sinne wird die vom System selbst ausgegrenzte bzw. konstituierte Umwelt des Systems.“[26] Dieses ist dann in der Lage die System/Umwelt Unterscheidung wieder in sich selbst einzuführen; es kann „die operativ erzeugte Differenz von System und Umwelt in sich hineinkopieren und als Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz seinen Beobachtungsoperationen zugrunde legen [...].“[27]

Durch diese Umstellung wird das Systems von seiner Umwelt abgekoppelt. Das System wird zu einem geschlossenen System, das auf der operationalen Ebene geschlossen bleibt und das seine eigenen Unterscheidungen und Differenzen nur intern, eben selbstreferentiell, erzeugen kann. Diese Differenzen werden dann als Information über die Umwelt genutzt, ohne dass sie in der Umwelt vorhanden sein müssen und noch schlimmer, es geht gar nicht anders, denn dies macht ja den Unterschied zur Umwelt aus: „Die Einsicht, daß Erkenntnis nur durch Abbruch von operativen Beziehungen zur Außenwelt erreichbar sei, besagt deshalb nicht, daß Erkenntnis nichts Reales sei oder nichts Reales bezeichne; sie besagt nur, daß es für die Operationen, mit denen das erkennende System sich ausdifferenziert, keine Entsprechungen in der Umwelt geben kann, weil, wenn es so wäre, das System sich laufend in seine Umwelt auflösen und das Erkennen damit unmöglich machen würde.“[28]

Sowohl der radikale Konstruktivismus als auch der operative Konstruktivismus setzen eine Außenwelt voraus, so dass ein System nicht willkürlich bzw. unabhängig von seiner Umwelt operieren kann und führen daher auch nicht in einen erkenntnistheoretischen Relativismus oder gar einen Solipsismus. Der radikale Konstruktivismus arbeitet stattdessen mit dem durch Glasersfeld[29] geprägten Begriff der Viabilität, um die Umstellung von der traditionellen Anschauung einer möglichst wahrheitsgetreuen Darstellung der Wirklichkeit zu einer instrumentalen Anschauung, die von Wahrnehmungen, Begriffen und Theorien nur noch Brauchbarkeit erwartet. Auch Luhmann bestreitet nicht, dass eine Außenwelt existiert, auch eine Realität existiert und eine Umwelt des Systems, aber diese sind in einem ontologischen Sinne unzugänglich bzw. können so nicht mehr gesehen werden. Hierzu Luhmann: „Das heißt nicht, daß die Realität geleugnet würde, denn sonst gäbe es nichts, was operieren, nichts, was beobachten, und nichts was man mit Unterscheidungen greifen könnte. Bestritten wird nur die erkenntnistheoretische Relevanz einer ontologischen Darstellung der Realität. Wenn ein erkennendes System keinerlei Zugang zu seiner Außenwelt gewinnen kann, können wir deren Existenz bestreiten, aber ebensogut und mit mehr Plausibilität daran festhalten, daß die Außenwelt so ist, wie sie ist.“[30] Das erkennende System hat es mit einer Außenwelt zu tun, die unerreichbar und daher unbekannt ist. Der Beobachter aber kann sehen, dass er nicht sehen kann, was er nicht sehen kann. Um dies näher zu beleuchten, muss der Begriff der Beobachtung eingeführt und näher erläutert werden, denn alle Erkenntnis ist als Konsequenz des oben gesagten, nur noch durch Beobachtung zu haben.

2.1. Beobachtung

Der Begriff der Beobachtung ist zentral für Luhmanns gesamte Theorie. Als Vorbedingung der Beobachtung gilt die Operation, sie ermöglicht erst den Vollzug der Beobachtung, aber nicht jede Operation ist eine Beobachtung: „Jede Beobachtung ist natürlich eine Operation, anders käme sie nicht vor; aber nicht jede Operation impliziert das Mitsehen der anderen Seite, nicht jede Operation ist eine Beobachtung.“[31] Operationen schließen immer an Operationen an, sie sind immer rekursiv, schließen an Operationen an und ermöglichen weiteren Anschluß. Eine Beobachtung ist als Operation beobachtbar, wenn sie als Einheit beobachtet werden kann. Eine Beobachtung ist dagegen als Beobachtung beobachtbar, wenn die Unterscheidungen und das Bezeichnen beobachtet werden, bzw. „wenn die beiden Elemente einer Beobachtung beobachtet werden, das Unterscheiden und das Bezeichnen. Operationen sind aber nur dann Beobachtungen, wenn sie unterscheiden.“[32]

Beobachten wird so gesehen, als die „Handhabung von Unterscheidungen“[33], als „Einheit der Differenz von Unterscheidung und Bezeichnung“[34], sie ist eine unterscheidende und das Unterscheidende zugleich bezeichnende Operation eines Beobachters. Unterscheidung und Bezeichnung fallen zusammen, auch zeitlich und bilden somit eine operative Einheit, sie sind notwendig für jede Beobachtung: „Ohne Unterscheidungen und Bezeichnungen läuft nichts, ja nicht einmal nichts.“[35]

Bei Luhmann und auch Spencer Brown[36], auf den er sich immer wieder bezieht, gilt, ohne Unterscheidung keine Bezeichnung. Sobald etwas bezeichnet wird, muss es sich von anderem abgrenzen, auch kein Unterscheiden ohne Bezeichnen, wenn keine Bezeichnung stattfindet, kann nicht entschieden werden, dass eine Unterscheidung getroffen wurde, man kann nicht operieren. Es geht somit um die Gleichzeitigkeit von Unterscheiden und Bezeichnen, wobei aber nur eine Seite verwendet wird. „Beobachten ist die Verwendung einer Unterscheidung zur Bezeichnung der einen und nicht der anderen Seite.“[37] Vom Unterscheiden und Bezeichnen hängt ab, was beobachtet wird und was nicht beobachtet wird, an welche Seite angeschlossen wird, entscheidet darüber, was unterschieden wird und was nicht. Es geht um das „Einsetzen einer Unterscheidung in einen unmarkiert bleibenden Raum, aus dem heraus der Beobachter das Unterscheiden vollzieht.“[38]

2.1.1. Unterscheidung

Die Unterscheidung ist die eine Differenz der Einheit Beobachtung. Ein Beobachter muss eine Entscheidung treffen, die darin besteht, dass er eine ganz bestimmte Unterscheidung händeln muss, um diese zu bezeichnen. Dies bestimmt, was er anschließend beobachten kann. Wenn er dies getan hat, „wird alles, was man innerhalb seines Unterscheidungsrahmens beobachtbar machen kann, dem unvergleichbar, was man sehen könnte, wenn man eine andere Unterscheidung wählte.“[39] Es wird also immer etwas als das unterschieden, als das es unterschieden wird, ohne dass es als das unterschieden würde, als was es nicht unterschieden wird.

„Ohne Unterscheidungen, das heißt mit Intuition, kommen nur Engel und Fanatiker aus; [...]. Und mit dem Unterscheidungsvermögen entstehen [...] alle weiteren Unannehmlichkeiten.“[40]

Jegliche Erkenntnis ist nur durch die Operation der Beobachtung zu haben und diese nur durch die Unterscheidung, sie produziert eine Differenz zu allem anderen. Spencer Brown zeigt, mit seinem Formenkalkül, dass erst das Treffen einer Unterscheidung die Welt als solche konstituiert, es muss immer zuerst eine Grenze gezogen werden. „Spencer Browns Logik erfordert eine ununterscheidbare Unterscheidung als Anfang, irgendeine Unterscheidung, die nicht durch ihren Unterschied zu anderen Unterscheidungen bestimmt ist.“[41] Und weiter: „Erst wenn eine Unterscheidung gesetzt ist, eine Trennlinie gezogen ist, kann diese Unterscheidung ihrerseits unterschieden werden.“[42] Etwas muss also von etwas anderem unterschieden werden und dieses Etwas muss benannt werden, um es von dem anderen zu unterscheiden, um die Welt beobachten zu können, denn in einem unterscheidungslosen Raum ist jede Bezeichnung unmöglich. „Unterscheidung ist das Markieren einer Grenze mit der Folge, daß man nur durch Überschreiten der Grenze von der einer zur anderen Seite gelangen kann.“[43]

2.1.2. Bezeichnung

Die andere Differenz der Einheit Beobachtung ist die Bezeichnung. Jede Unterscheidung muss bezeichnet werden, denn sonst wäre nicht bezeichnet, was unterschieden wurde, sondern man wüsste nur, dass etwas als das unterschieden wurde, als das es unterschieden wurde. Aber es könnte ohne Bezeichnung nichts als unterschieden bezeichnet werden. Ein Unterscheiden mit Bezeichnung des Unterschiedenen beinhaltet eine Entscheidung für etwas. Ausgeschlossen ist alles das, was nicht unterschieden und bezeichnet wurde. Die andere Seite der Unterscheidung ist nicht bekannt, sie trägt aber als das Nichtunterschiedene zur Bestimmung des Unterschiedenen bei. „Beobachten ist demnach das Bezeichnen der einen (und nicht der anderen) Seite einer Unterscheidung. Ohne Unterscheidung, aber auch ohne Bezeichnung kommt es nicht zustande.“[44]

Man hat zwei Seiten, wobei die andere Seite gerade nicht bezeichnet wird, sie ist vorhanden, wird aber nicht benutzt. Die andere Seite ist damit durch Einschluss ausgeschlossen, sie ist das, was die eine Seite nicht ist oder eben durch sie ausgeschlossen ist. Dadurch kommt eine Asymmetrie zustande, die auch eine symmetrische Form hat, denn es geht nicht ohne die zweite Seite, auch nicht ohne die Einheit der beiden Seiten, das heißt ohne eine Unterscheidung; aber es darf stets immer nur die eine Seite bezeichnet werden. „Wenn man beide Seiten benutzen würde, wäre die Unterscheidung selbst sabotiert, es wäre kein Unterschied mehr vorhanden.“[45]

[...]


[1] Luhmann, 2001a: S.227

[2] Schmidt, 1990: S.7

[3] Krause, 2001: S.159

[4] Vgl. Maturana, 1988 und 1987

[5] Luhmann, 1995 b: S.56

[6] Luhmann,1987 c: S.58

[7] Luhmann,1987 c: S.58

[8] Spencer Brown, 1997: S.3

[9] Luhmann, 1995 a: S.23

[10] Foerster, 1985: S.31

[11] Foerster, 1985: S.39

[12] Foerster, 1985: S.43

[13] Roth, 1997: S.253

[14] Vgl. Glasersfeld, 1997

[15] Glasersfeld, 1998: S.504

[16] Glasersfeld, 1985: S.18

[17] Segal, 1988: S.43

[18] Luhmann, 1992: S.514

[19] Luhmann, 1992: S.511f

[20] Luhmann, 2001 a: S.219

[21] Spencer Brown, 1997: S.3

[22] Janich, 1996: S.118

[23] Janich, 1996: S.118

[24] Luhmann, 1992 b: S.319

[25] Luhmann, 1992 b: S.80

[26] Gripp-Hagelstange, 1995: S.34

[27] Luhmann, 1997 b: S.206

[28] Luhmann, 2001a: S.239

[29] Vgl. Glasersfeld, 1997

[30] Luhmann, 1990 a: S.37

[31] Luhmann, 1997 b: S.66

[32] Luhmann, 1997 b: S.99ff.

[33] Luhmann, 1987 c: S.63

[34] Krause, 2001: S.111

[35] Luhmann, 1990 b: S.92

[36] Spencer Brown, 1997

[37] Luhmann, 1990 c: S.230

[38] Luhmann, 1997 b: S.92

[39] Luhmann, 1993 a: S.349

[40] Luhmann, 1997: S.70

[41] Luhmann, 1990 b: S.79

[42] Luhmann, 1990 b: S.79

[43] Luhmann, 1990 c: S.230f

[44] Luhmann, 1992 b: S.84

[45] Luhmann, 2002 c: S.144

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Vom operativen Konstruktivismus zu Luhmanns Systemtheorie
Hochschule
Universität Bremen
Note
1.0
Autor
Jahr
2004
Seiten
47
Katalognummer
V36662
ISBN (eBook)
9783638362177
ISBN (Buch)
9783638705134
Dateigröße
605 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Konstruktivismus, Luhmanns, Systemtheorie
Arbeit zitieren
Daniel Dorniok (Autor:in), 2004, Vom operativen Konstruktivismus zu Luhmanns Systemtheorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36662

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