Die Leitung von Kindertagesstätten und die Bedeutung von Motivation

Eine systemtheoretische Betrachtung


Masterarbeit, 2016

70 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Grundlegendes zum Organisationsbegriff
2.1 Der Wandel des Organisationsverständnisses: Relativierung der zweckrationalen Ausrichtung
2.2 Der normative Rahmen von sozialen Organisationen

3. Die Organisation als System
3.1 Vorbemerkung
3.2 Grundlegendes zur Systemtheorie
3.2.1 Begriffe und Zusammenhänge
3.2.2 Kommunikation und die enge Verbindung von psychischem und sozialem System

4. Die Führungskraft in sozialen Organisationen - Rolle, Rollenkonflikte und Führung
4.1 Vorbemerkung - die Führungskraft wird ins Blickfeld gerückt
4.2 Rollen in sozialen Organisationen
4.2.1 Interaktionen in Organisationen - formelle und informelle Rollen
4.2.2 Rolle systemtheoretisch betrachtet
4.3 Rollenkonflikte
4.3.1 Verschiedene Arten von Rollenkonflikten
4.3.2 Intra-Rollenkonflikte von Kita-Leiterinnen
4.3.3 Person-Rolle-Konflikt kombiniert mit Intra- und Interrollenkonflikten
4.3.4 Die besondere Situation der Kita-Leiterin mit Gruppendienst: der „Multi-Rollenkonflikt“
4.4 Systemische Führung
4.4.1 Mechanistisches versus konstruktivistisches Führungsverständnis
4.4.2 Beobachtung und die Bedeutung des „blinden Flecks“

5. Entscheidungen und Unsicherheiten in sozialen Organisationen
5.1 Entscheidungen unter der Prämisse von Zweckrationalität versus Entscheidungen aus systemtheoretischer Sicht
5.2 Schließung von Kontingenz durch Entscheidungen: Reduktion von Komplexität
5.3 Soziale Organisation und Unsicherheiten
5.3.1 Zweckprogrammierung in sozialen Organisationen
5.3.2 Die Besonderheit in sozialen Organisationen: das Technologiedefizit und die damit verbundene Potenzierung von Unsicherheiten

6. Macht in sozialen Organisationen
6.1 Das Wesen der Macht: Reduktion von Komplexität
6.2 Die Führungskraft als Machthaber?
6.3 Ausübung von Macht

7. Dilemmata in sozialen Organisationen
7.1 Vorbemerkung
7.2 Transparenz versus Intransparenz von Entscheidungen und Unsicherheiten
7.3 Dogma Wirtschaftlichkeit versus eingeplanter Leerlauf
7.4 Kontinuität versus Veränderung
7.5 Autonomie versus Kontrolle
7.6 Leitung trotz Dilemmata

8. Motivation in sozialen Organisationen
8.1 Vorbemerkung
8.2 Die Verbindung zwischen psychischem und sozialem System: Die ‚Person‘
8.3 Zuschreibungen von Motiven an die ‚Person‘ - kein Blick ins psychische System!
8.4 Luhmanns zugeschriebene Motive: Geld, Karriere und Normbindung durch den Arbeitsvertrag - eine kritische Auseinandersetzung
8.4.1 Vorbemerkung
8.4.2 Normbindung durch den Arbeitsvertrag und die zunehmende Bedeutung der Personalauswahl
8.4.3 Die zugeschriebenen Motive Geld und Karriere
8.5 Systemische Intervention
8.6 Die Paradoxie der Motivation und die Bedeutung der Ko-Konstruktion

9. Schlussbemerkungen

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Aktuell sind sowohl in Zeitschriften als auch in politischen und pädagogischen Diskursen häufig allgemeine Schlagworte wie „Kinderbetreuung“ und „U3“ zu lesen.1 In der Vergangenheit lauteten die bekannten Schlagzeilen in der Presse: „Die frühkindliche Bildung hat versagt“ oder „Bildungskatastrophe in Deutschland“. Hinsichtlich des ersten Aspekts liegt der Hauptgrund in der neuen Rechtslage, aufgrund derer Kinder ab der Vollendung des ersten Lebensjahres einen Anspruch auf einen Betreuungsplatz in einer Kindertageseinrichtung2 oder in der Kindertagespflege haben.3 Beim zweiten Aspekt kann man als den wesentlichen Grund die ersten PISA-Studien sehen, zusammen mit den sich an diese anschließenden Forderungen, die an pädagogische Einrichtungen gestellt wurden, nämlich einen höheren Stellenwert auf frühe Bildung zu legen. Insgesamt hat das die Anforderungen, welche an Erzieherinnen gerichtet werden, immens erhöht.

Insbesondere rücken Leiterinnen4 von Kindertagesstätten5 zunehmend in den Fokus (vgl. dazu u.a. Nentwig-Gesemann et al. 2016), da ihnen die „Schlüsselfunktion im Prozess der Umsetzung pädagogischer Qualität“ zukomme (Ballaschk/ Anders 2015, S. 883). Ballaschk und Anders beschreiben diese Position als „Transferposition“ (ebd.), mit der die Aufgabe einhergeht, dafür Sorge zu tragen, dass „Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern im Alter von null bis etwa zwölf Jahren“ gelingt (ebd., S. 881; vgl. dazu auch Strehmel/Ulber 2014, S. 9). Die vorschriftsmäßige Aufgabe von Kita-Leiterinnen, die vom Gesetzgeber her oberste Priorität hat, liegt also in der „Übernahme von Verantwortung für die institutionelle Gewährleistung dieser pädagogischen Angebote“ (ebd.).

Das klingt eigentlich etwas banal, gemessen daran, dass doch so viele Aufgaben alleine schon mit dem Begriff Personalführung verbunden sind, wie z.B. Führung von Mitarbeitergesprächen, Personalauswahl, Personalentwicklung, Personalbeurteilung und Ausbildung von Auszubildenden etc. Hinzu kommt, dass es natürlich neben Personalführung noch andere Aufgaben gibt, wie z.B. „Organisation des Betriebs, […] Anund Abmeldung von Kindern, Durchführung der Elterngespräche, Zusammenarbeit mit dem Elternbeirat“ u.v.m. (Rannenberg-Schwerin 2012, S. 2f.).

Es gibt, so Ballaschk und Anders, kaum Literatur, die „konkrete Hinweise darauf (gibt), welche Rolle der Führungsbegriff in Kindertagesstätten spielt, wer diese Rolle ausüben, wie diese beschaffen sein sollte und welche Faktoren einen Einfluss auf Führungsverhalten sowie Führungserfolg/-misserfolg haben“ (Ballaschk/Anders 2015, S. 877f.).

In der vorliegenden Arbeit soll auf der Basis der Systemtheorie u.a. obigen (von Ballaschk und Anders ausgeführten) Themenbereichen nachgegangen werden und versucht werden folgende Fragen zu klären: Was bedeutet im Rahmen dieser Theorie „Führung“, wer hat Macht in der Einrichtung und wie wird damit umgegangen, wer fällt Entscheidungen und wie werden sie gefällt, wie kann Motivation gelingen? Zudem kann man die Frage stellen, ob es so banal ist in sozialen Organisationen „für die institutionelle Gewährleistung […] pädagogischer Angebote“ zu sorgen (ebd., S. 881).

Um diesen Fragen nachgehen zu können, erscheint es zunächst notwendig, auf den Unterschied zwischen den Begriffen „Organisation“ und „Institution“ einzugehen. Dann werden die für diese Arbeit wichtigen Grundlagen der Systemtheorie als Ausgangspunkt für die weitere Analyse zusammenfassend dargestellt. In die Analyse wird dann zusätzlich die Frage einbezogen, ob es einen Unterschied macht, wenn eine Kita-Leiterin „nur“ mit Leitungsaufgaben befasst ist und nicht neben den Leitungsaufgaben auch noch in einer Gruppe mitarbeitet. Im letzteren Fall können sich „Konflikte aus der Doppelrolle zwischen Gruppendienst und Management ergeben“ (Stremel/Ulber 2014, S. 14; vgl. dazu auch Nentwig-Gesemann et al., S. 61ff.); die Leiterin muss einen „permanenten Rollenwechsel […] bewältigen“ (Stremel/Ulber 2014, S. 16).6 Diese Problematik betrifft immerhin mehr als die Hälfte der Kita-Leiterinnen, denn 57% der Kita-Leiterinnen arbeiten zusätzlich zu ihrer Leitungstätigkeit in einer Gruppe mit (vgl. Autorengruppe Fachkräftebarometer 2014, S. 36).7 Bei der Bearbeitung der Themenfelder „Entscheidungen“, „Macht“, „Motivation“ im Zusammenhang mit Führung wird versucht, sie systemtheoretisch zu analysieren und dabei auch diesen Rollenkonflikt mit einzubeziehen.

In der Organisationssoziologie hat sich in den letzten Jahren - ganz allgemein - das Verständnis von Organisation verändert. Als Grundlage der Analyse von Leitung bzw.

Führung8 einer Kita wird in der vorliegenden Arbeit deshalb die Systemtheorie gewählt, weil sie als eine „der produktivsten Konzeptionen in den Sozialwissenschaften“ gelte (Steinkellner 2006, S. 87). Sie verfüge über eine gewisse „Eigenkomplexität“ (ebd.), und diese braucht es auch - so Steinkellner - um „in einer hochkomplexen und zugleich hochorganisierten Welt“ (ebd.) aussichtsreich wirken zu können. Der „systemtheoretische Ansatz (weise) ein höheres Maß an Problemangemessenheit auf, da er die komplexe Struktur von Organisation und Organisationsumwelten akzeptiert und versucht, diese Komplexität nicht sinnzerstörend zu reduzieren“ (ebd.). Nach Luhmann begreift die Systemtheorie „soziale Gebilde jeder Art - Familien, Produktionsbetriebe, Geselligkeitsvereine, Staaten […] - als sehr komplexe Handlungssysteme, die eine Vielzahl von Problemen lösen müssen, wenn sie sich in ihrer Umwelt erhalten wollen“ (Luhmann 1991b, S. 70); und zu diesen sozialen Gebilden gehören auch Kitas.

2. Grundlegendes zum Organisationsbegriff

2.1 Der Wandel des Organisationsverständnisses: Relativierung der zweckrationalen Ausrichtung

Für Max Weber sind „Organisationen stark geprägt […] durch eine rationale Anordnung von Zwecken und Mitteln“ (Grunwald 2009, S. 92). Die Zweckrationalität zeigt sich dadurch, dass derjenige, der handelt, „in seinen Handlungen eine Abwägung von verschiedenen Zwecken vornimmt, möglichst günstige Mittel zur Umsetzung der festgelegten Zwecke wählt und bei dieser Auswahl von Zwecken und Mitteln potentielle unerwünschte Konsequenzen berücksichtigt“ (ebd.). In diesem Sinne ist eine Organisation also „in Form von Zweck-Mittel-Ketten“ (ebd.) zu verstehen.

Organisationsziele sind folglich „definiert als die Zwecke, um derentwillen eine Organisation gegründet wird und deren Erfüllung sie erreichen soll“ (Abraham/Büschges 2009, S. 110; vgl. dazu auch: Gukenbiehl 2008, S. 156). Dies macht den hohen Stellenwert von Organisationszielen deutlich, denn - geht man von einer zweckrationalen Grundlegung von Organisationen aus - diese bestimmen die Leistungen, die die Organisation erbringen soll. Aus ihnen soll dann u.a. abgeleitet werden, wie die Organisation strukturiert wird (vgl. Abraham/Büschges 2009, S. 110-115).

Doch mittlerweile wird vielfach Kritik daran geübt, dass Organisationszielen eine so hohe Bedeutung beigemessen wird (vgl. Grunwald 2009, S. 92)9, u.a. auch, weil sich bspw. in den jeweiligen Abteilungen unterschiedliche Ziele entwickeln können, so z.B. in Kitas, in denen sowohl Schulkinder als auch Kindergarten- und Krippenkinder betreut werden. Hier können z.B. die Bedürfnisse der Schulkinder nach dem Mittagessen stark gegenüber den Bedürfnissen der Krippenkinder differieren, was zur Folge haben kann, dass auch die in den verschiedenen Gruppen tätigen Erzieherinnen jeweils andere Ziele entwickeln. Grunwald bezeichnet dies als Ablösung der Rationalität durch „lokale Rationalitäten“ (Grunwald 2006, S. 190). Führungskräfte haben es also mit Zielbündeln zu tun, die durchaus in Konflikt miteinander stehen können (vgl. Gukenbiehl 2008, S. 156; vgl. dazu auch Grunwald 2012, S. 63).

Neuere sozialwissenschaftliche Theorien leugnen nicht die „Zweckrationalität in Institutionen“ (Grunwald 2006, S. 188). Diese sei neben vielen anderen Aspekten vorhanden, sie stehe jedoch nicht zwangsläufig im Mittelpunkt (vgl. ebd.). „Vielmehr sind Zweck-Mittel-Relationen ein Merkmal von Organisationen neben anderen“ (Grunwald/Steinbacher 2007, S. 93). Die unterstellte Fähigkeit der genauen Vorhersagen in Organisationen und die damit verbundene „exakte Planung, die behauptet hatte, die Zuweisung von Ressourcen (Personal, Räume, Finanzen) sei im Vorhinein nahezu fehlerfrei möglich“ (ebd.), wird vermehrt in Zweifel gezogen.10

2.2 Der normative Rahmen von sozialen Organisationen

Sowohl der Begriff Organisation als auch der Begriff Institution sind alltagssprachlich bekannt und häufig werden „öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäuser als Institutionen (bezeichnet), während man für „Fabriken oder Kaufhäuser eher den Begriff Organisation benutzt“ (Gukenbiehl 2008, S. 146; Hervorh. i. Orig.), oder aber man verwendet die Begriffe synonym, was sogar in den Erziehungswissenschaften vorkommt (vgl. Kuper 2011, S. 443; vgl. dazu auch Focali 2011, S. 39).

Es stellt sich also die Frage, was diesen Begriffen gemein ist und was sie trennt.

Mit beiden Begriffen kann etwas Ähnliches analysiert werden

(vgl. Gukenbiehl 2008, S. 146; vgl. dazu auch Hobmair 2006, S. 21) und als „gemeinsamer Kern (wird) die geregelte Kooperation von Menschen, ein Zusammenwirken und Miteinanderumgehen, das weder zufällig noch beliebig so geschieht“ angesehen (ebd.).

Als Beispiel für eine Institution nennt Focali die Familie: „Die Institution Familie meint nicht die Einzelfamilie als solche, sondern den anerkannten normativen Gehalt, der mit der Institution Familie verbunden ist“ (Focali 2011, S. 39). Auch die Schule kann als Institution betrachtet werden, wenn sie „als gesellschaftliche Einrichtung zur Wissensvermittlung ebenso wie zur Verteilung von Lebenschancen“ angesehen wird (ebd.).11

Organisationen dagegen sind „Instrumente zur Erreichung spezifischer Ziele oder Zwecke, d.h. von bestimmten Zuständen oder Ergebnissen, die durch das bewußt geregelte Zusammenwirken von Menschen und die Nutzung von Mitteln erreicht werden sollen“ (Gukenbiehl 2008, S. 156). Sie haben sich „eher in der Moderne und vor allem auf dem Boden der Rationalität“ entwickelt (ebd., S. 154). Sie sind insbesondere gekennzeichnet durch „das Organisieren als Form des Denkens und Handelns“ (ebd.).12

Völlig getrennt kann man allerdings Institutionen und Organisationen nicht voneinander betrachten, da Institutionen den „normativen Rahmen“ (Hobmair et al. 2006, S. 21) des Handelns in Organisationen bilden (vgl. ebd.).

Konkret am Beispiel der Kita heißt das, dass diese eine Institution darstellt, wenn man sie als Einrichtung der Bildung, Erziehung und Betreuung betrachtet (vgl. Laewen 2006, S. 96; vgl. dazu auch Ballaschk/Anders 2015, S. 881), die gesellschaftliche Aufgaben erfüllt. Eine Organisation stellt sie dagegen dar, wenn sie als Gebilde gesehen wird, in dem in einem formalen Rahmen mit Hilfe der Mitarbeiter Ziele verfolgt werden - jedoch unter dem „normativen Rahmen“ der Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern.

Auch hier kann es zu Zielkollisionen kommen, und zwar insofern als sich in Organisationen mit der Zeit noch andere Ziele entwickeln können, wie bspw. Erhaltung der Arbeitsplätze (vgl. Gukenbiehl 2008, S. 151) bzw. Gewinnmaximierung der privaten Kitas, die dann möglicherweise einen de facto gleich hohen Stellenwert wie die oben formulierten Institutionsziele bekommen.

3. Die Organisation als System

3.1 Vorbemerkung

Kuper bezeichnet die Organisationstheorie Luhmanns, die dieser insbesondere in seinem Buch „Organisation und Entscheidung“13 dargestellt hat, als „die theoretisch differenzierteste Ausarbeitung einer auf dem Entscheidungsbegriff basierenden Organisationstheorie“ (Kuper 2011, S. 453), welche systemtheoretisch ausgerichtet ist.

Um herauszufinden zu welchem „Organisationsverständnis“ und zu welchem „Führungsverständnis“ man mit der Systemtheorie kommt, sollen zunächst die für diese Arbeit wichtigsten Grundlagen der Systemtheorie herausgefiltert und in aller Kürze dargestellt werden, wohlwissend, dass dies Luhmanns Systemtheorie nicht gerecht werden kann. Zudem wird das komplexe Thema „Organisation“ so eingeschränkt, dass an dieser Stelle zunächst zentrale Begriffe und Grundgedanken dargestellt werden, um Wiederholungen in den folgenden Kapiteln soweit wie möglich zu vermeiden. Zu den Grundlagen gehören in dieser Arbeit m.E. auch systemtheoretische Vorstellungen von Kommunikation, da Organisationen mit Kommunikation operieren (vgl. Cleppien 2014, S. 351).

3.2 Grundlegendes zur Systemtheorie

3.2.1 Begriffe und Zusammenhänge

Systeme sind für Luhmann „dadurch gekennzeichnet, dass sie sich in einer äußerst komplexen, veränderlichen und im Ganzen nicht beherrschbaren Umwelt zu sich selbst identisch halten“ (Merkens 2005). Wichtige Aspekte sind hierbei die Unterscheidung zwischen System und Umwelt (vgl. ebd.) sowie die Unterscheidung zwischen sozialen (z.B. Organisationen) und psychischen Systemen, was die Konsequenz hat, dass psychische Systeme „zur Umwelt sozialer Systeme und umgekehrt“ gehören (Luhmann 1991, S. 21 in: Merkens 2006, S. 160). Systeme verhalten sich autopoietisch, was bedeutet, „dass sich Systeme selbst erhalten, steuern und reproduzieren“ (Miller 2001, S. 60).

Dass psychische und soziale Systeme getrennt voneinander betrachtet werden können, was sicherlich ein zentraler Gedanke dieser Theorie ist, hat mit der Tatsache zu tun, dass die rollentheoretische Perspektive allgemein Eingang in die Soziologie fand (vgl. Luhmann 2011, S. 81; s. dazu auch S. 17f.) und Luhmann diese auch in seine Theorie integriert hat.14

Sowohl soziale als auch psychische Systeme sind nach Luhmann „temporalisierte, sinnverarbeitende Systeme, die in ihren Elementen aus flüchtigen Ereignissen der Informationsverarbeitung bestehen, welche sich sinnhaft aufeinander beziehen und sich damit zu einem Prozess der Informationsverarbeitung zusammenschließen“ (Fischer 2009, S. 27f.). Dass Systeme sich „ausschließlich mit eigenen rekursiv vernetzten Operationen, genauer mit eigenen Kommunikationen, selbst reproduzieren können“ (ebd., S. 29),15 bezeichnet Luhmann als „operative Geschlossenheit“ (Luhmann 2005b, S. 26; vgl. dazu auch Hafen 2004, S. 217f.). Jedes System verwendet seine eigene Art von Operationen16 und verbindet diese miteinander (vgl. Schneider 2009, S. 383). Dabei kann „jedes System […] nur an seine eigenen Operationen anschließen und die dabei erzeugten Strukturen benutzen“ (ebd.). Folglich können Systeme außerhalb ihres Rahmens nicht operieren (vgl. ebd.), was bedeutet, dass sich eine Operation „entweder in psychischen oder in sozialen Systemen“ vernetzt (Luhmann 2011, S. 81). Dies macht deutlich, dass soziale Systeme gegenüber ihrer Umwelt autonom sind (vgl. ebd., S. 51; vgl. dazu auch Fischer 2009, S. 29).

Trotz aller operativen Geschlossenheit der Systeme sieht Luhmann aber auch einen Zusammenhang zwischen dem sozialen und dem psychischen System, welchen er als „strukturelle Kopplung“ bezeichnet, worauf weiter unten noch näher eingegangen wird (s. S. 12f.). Damit ist, kurz angedeutet, gemeint, „dass zwischen sozialen und psychischen Systemen […] (die strukturelle Kopplung) immer vorhanden (ist), weil soziale Systeme nicht selbst wahrnehmen und sprechen können, sondern ständig auf psychische Systeme angewiesen sind“ (Miebach 2014, S. 311). Auch aus der Perspektive des psychischen Systems ist diese Kopplung sehr wichtig, da es „im sozialen Handeln ständig durch Kommunikation in sozialen Systemen zu neuen Gedanken angeregt“ wird (Miebach 2012, S. 34). Hier deutet sich bereits ein wesentlicher Gedanke bezüglich des Zusammenwirkens von Kita-Leiterin und Erzieherinnen an, der in vielen Bereichen von Führung im weitesten Sinn eine wesentliche Rolle spielt bspw. bei der Motivation von MitarbeiterInnen und im Umgang mit Macht: Das soziale System kann, wenn schon nicht direkt, dann doch zumindest indirekt, auf das psychische System einwirken, es „irritieren“, wie Luhmann sagen würde.

Aber die Irritation bzw. Anregung gelingt nur dann, wenn das System das von der Umwelt Kommende auf eine irgendwie geartete Weise (z.B. zur Selbsterhaltung von Organisationen) als für das System wichtig definiert (vgl. Fischer 2009, S. 29). Dies verdeutlicht, dass das jeweilige System selbst festlegt, „welchen der unzähligen Reize in seiner Umwelt es Informationswert zuschreibt und welche Strukturveränderungen (welche Lernprozesse) aufgrund der verarbeiteten Informationen einsetzen“ (Hafen 2004, S. 216f.). Diese Sichtweise hat Konsequenzen für das, was man unter Intervention in ein System verstehen kann: Luhmann weist z.B. für den Bereich der Erziehung darauf hin, „dass sie nicht tun kann, was sie will“ (Luhmann 1991, S. 23 in: Merkens 2006, S. 161), denn sie stößt immer an die Grenzen des psychischen Systems des Anderen, der letztlich nur das lernt, was er will. Man kann entsprechend Wissen anbieten, annehmen muss es jedoch der Andere und dieser entscheidet darüber.17

Die Analogie zur Führung liegt auf der Hand. So sind Mitarbeiterinnen eigenständige psychische Systeme mit einer „unaufhebbaren Autonomie“ (Fischer 2009, S. 24), die folglich nicht direkt lenk- und beeinflussbar sind, sondern höchstens indirekt. Dies stellt sicherlich ein wichtiges Kriterium dar, wenn es darum gehen soll, das Phänomen „Führung einer Organisation“ aus systemtheoretischer Perspektive zu untersuchen, um auch zu erklären, wie in diesem Zusammenhang Motivation von Mitarbeiterinnen überhaupt möglich ist.

3.2.2 Kommunikation und die enge Verbindung von psychischem und sozialem System

Luhmann geht „von der Grundannahme aus, daß soziale Systeme sich überhaupt erst durch Kommunikation bilden“ (Luhmann 2012, S. 12) und dass Systeme die multiple Auswahl von Vorgängen entweder rückwirkend oder entsprechend vorwegnehmend bestimmen (vgl. ebd.; s. dazu auch Punkt 5.1). Und dies „funktioniert“ mit Kommunikation, welche Organisationen „soziale Sinnhaftigkeit“ (ebd.) verleiht. „Kommunikation ist nur möglich, wenn Kommunikation in Gang kommt und einen eigenen Prozeß der Reproduktion von Kommunikation durch Kommunikation in Gang hält. Sie ist und bleibt abhängig von der Autopoiesis eines sozialen Systems, das die Kommunikation betreibt“ (Luhmann 2005a, S. 111).

Luhmann geht zunächst von der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation aus (vgl. Luhmann 2009b, S. 29ff.), da immer mit der Ablehnung von Kommunikation durch den anderen zu rechnen sei und weil es zudem unwahrscheinlich sei, dass sich die Kommunikationspartner vollkommen verstehen. Beides führe eher zu einem Unterlassen von Kommunikation, da man nie wisse, wie sich der andere verhalten werde (vgl. ebd.; vgl. dazu auch Brodocz 2012, S. 249f.).

Die Ursache dafür liegt in der operativen Geschlossenheit der jeweiligen psychischen Systeme, d.h. dass man nicht in den Kopf des jeweils anderen „hineinsehen“ kann. Zu beachten ist m.E. jedoch, dass auch schon die Nicht-Mitteilung und auch die Kommunikationsablehnung Kommunikation ist.18 So betrachtet erscheint Kommunikation eher nicht unwahrscheinlich, sondern im Gegenteil: sogar als unumgänglich.

Für Luhmann ist Kommunikation ein „dreistelliger Selektionsprozeß“ (Luhmann 1991a, S. 194), da sie aus den drei Komponenten „Information, Mitteilung und Verstehen“ besteht (Brodocz 2012, S. 250). Gemeint ist also mit Kommunikation nicht schon allein eine Mitteilung, sondern sie „kommt vielmehr erst dann zustande, wenn verstanden wurde, wenn die Mitteilung als Hinweis auf eine Information behandelt wird“ (ebd.). Damit Kommunikation entstehen kann „ist es dabei völlig irrelevant, was verstanden wurde, relevant dagegen ist, dass verstanden wurde“ (ebd.; Hervorh. i. Orig.). Der Begriff Verstehen meint allerdings nicht die Akzeptanz der Kommunikation, sondern Verstehen muss sogar als Voraussetzung dafür gesehen werden, ob das Kommunizierte angenommen oder aber abgelehnt wird, was wiederum kommuniziert werden muss (vgl. ebd.). „Eine Rückkommunikation von Ablehnung und die Thematisierung der Ablehnung in sozialen Systemen ist Konflikt“ (Luhmann 2012, S. 12).

Wie schon auf S. 10f. dargestellt, sind psychische und soziale Systeme einerseits operativ geschlossen, andererseits bestehen zwischen diesen beiden Systemen jedoch auch Verbindungen, die in der Systemtheorie mit dem Begriff „strukturelle Kopplung“ beschrieben werden. Auf diesen Zusammenhang soll nun näher eingegangen werden.

Voraussetzung von Kommunikation ist Bewusstsein und deshalb wird „das psychische System […] als Zwischenspeicher für kommunikative Informationen gebraucht“

(Horster 2005, S. 99). Einerseits sind Systeme „sowohl als Sender wie auch als Empfänger von Mitteilungen […] stets überwiegend mit sich selbst beschäftigt“ (Luhmann 2009a, S. 16), also autopoietisch. Damit Kommunikation nun aber möglich wird, müssen sich das psychische und das soziale System miteinander verknüpfen, „also Anschlußmöglichkeiten finden“ (Horster 2005, S. 99), welche durch Interpenetration19 zustande kommt (vgl. ebd.). Interpenetration stellt einen noch stärkeren Zusammenhang zwischen dem sozialen und dem psychischen System als die strukturelle Kopplung dar (vgl. ebd., S. 104). Beide Systeme sind stark voneinander abhängig und zwar insofern als „psychische Systeme […] die bestehende Kommunikation des sozialen Systems in Anspruch (nehmen), andererseits ist Kommunikation auf psychische Systeme als Zwischenspeicher angewiesen“ (ebd.). Brücke der beiden Systeme, also das, was Interpenetration möglich macht, ist der Sinn (vgl. ebd., S. 105). Dieser „ist Voraussetzung dafür, daß etwas (eine Information, eine Aussage, eine Bezeichnung etc.) Bedeutung haben kann“ (Schützeichel 2003, S. 32). Und zudem „ermöglicht Sinn die Anschlussfähigkeit an vergangenes Handeln oder an vergangene Kommunikation“ (Scheef 2009, S. 61).

Die Frage, die sich hier m.E. stellt ist: wie kann seine solche Interpenetration zustande kommen? Das grundsätzlich Komplexe der Kommunikation liegt m.E. darin, dass sich Gedanken im Bewusstsein des psychischen Systems bilden, diese jedoch nicht den Kopf des Menschen verlassen, sondern nur in Form von Worten, Sätzen, Gestik und Mimik in das Kommunikationssystem einfließen, d.h. sie werden codiert. Und dann wiederum ist ein anderes psychisches System mit Bewusstsein notwendig, welches diese Worte, Sätze etc. mit einer neuen Bedeutung versehen muss, die logischerweise nicht unbedingt der ursprünglichen entspricht (vgl. Schulz von Thun 1981, S. 61). Dies bezeichnet man alltagssprachlich dann als Missverständnis bzw. Nicht-Verstehen des anderen, was jedoch verdeutlicht, wie schwierig es ist, dass Interpenetration tatsächlich zustande kommt.

4. Die Führungskraft in sozialen Organisationen - Rolle, Rollenkonflikte und Führung

4.1 Vorbemerkung - die Führungskraft wird ins Blickfeld gerückt

In Organisationen arbeiten Menschen zusammen, die bspw. aufgrund ihrer jeweils unterschiedlichen Qualifikationen und Erfahrungen verschiedene Rollen einnehmen, welche mit unterschiedlichen Erwartungen einhergehen, die wiederum in Widerspruch zueinander geraten können. Ausführlich beschäftigt mit diesem Thema Rollenkonflikte hat sich die Rollentheorie, die ja von Luhmann integriert worden ist und die damit in die Systemtheorie Einzug gehalten hat (vgl. Luhmann 2011, S. 81; s. dazu auch S. 17f.). Deshalb soll nachfolgend dargestellt werden, was systemtheoretisch unter „Rolle“ verstanden wird.

Mögliche Rollenkonflikte werden hier relativ ausführlich dargestellt und dahingehend analysiert, ob die Kita-Leiterin noch zusätzlich in einer Gruppe mitarbeitet oder ob sie vom Gruppendienst freigestellt ist und nur in ihrer Rolle als Leiterin agiert.20 Diese Unterscheidung ist m.E. wesentlich, weil diese Problematik ja über die Hälfte der Leiterinnen betrifft.21 Im Anschluss daran sollen zunächst grundlegende Gedanken zum Phänomen der Führung systemtheoretisch betrachtet dargestellt werden. Damit rückt zunächst die Führungskraft in den Fokus, was auf den ersten Blick als Widerspruch zu Luhmann erscheint, da dieser ja eigentlich die Dinge aus der Sicht des sozialen Systems analysiert.

Auf der Basis von Luhmanns Systemtheorie haben sich verschiedene systemische Führungstheorien entwickelt (vgl. Stippler et al. 2007, S. 1). Das Gemeinsame dieser Ansätze ist, „dass sie die Organisation als soziales System betrachten, das sich durch Selbstorganisation (Autopoiesis) selbst reguliert und nicht von außen direkt steuerbar ist“ (ebd.).

Trotzdem lässt sich bei den „neueren Vertretern“ (ebd.) der systemischen Führungstheorien wie bspw. Pinnow eine Tendenz hin „zu einer wieder ausgeprägteren Personenorientierung“ erkennen (ebd.). In diesem Zusammenhang bezeichnet Steinkellner die Systemtheorie sogar als Universaltheorie, die die Verbindung von Psychologie und Soziologie ermögliche. „Diese Verbindung erscheint (ihm) deshalb so wesentlich, da Führung nur erklärt werden kann, wenn man sowohl soziale als auch psychische Vorgänge berücksichtigt und soziale und psychische Systeme untersucht“ (Steinkellner 2006, S. 94).

Diese These einer Universaltheorie erscheint m.E. etwas gewagt, da Luhmann sich sogar ausdrücklich davon distanziert, psychische Vorgänge zu berücksichtigen, und betont, dass es ihm nicht „um innerpsychische Mechanismen“ gehe (Luhmann 2011, S. 94), denn das sei Sache der Psychologen. Ihm gehe es um „die Verwendung von Motivzuschreibungen in der sozialen Kommunikation“ (ebd.) - und nur das sei Sache der Soziologen. Deshalb plädiert bspw. auch Fischer dafür, die Systemtheorie durch weitere Theorien zu ergänzen. Auch er rückt die Führungskraft wieder mehr in den Fokus, als es die Systemtheorie bisher tat, und weist darauf hin, dass dazu die Systemtheorie eben nicht auf alle Fragen befriedigende Antworten geben könne (vgl. Fischer 2009, S. 44).

Systemtheorie versucht soziale Systeme zu analysieren, weshalb die Systemtheorie oft dahingehend kritisiert wird, dass sie sich nicht für den Menschen an sich interessiere. So wird sie u.a. von Kieser und Ebers scharf kritisiert. Diese sehen den - wie sie es nennen - „blinden Fleck“ in Luhmanns theoretischen Überlegungen „in seinem Desinteresse für andere“ (Kieser/Ebers 2006, S. 448). Sie werfen ihm vor, dass „sein Interesse […] nach wie vor dem Funktionieren von Organisationen, nicht der Selbstverwirklichung ihrer Mitglieder“ gelte (ebd.). Auch Miebach stellt fest, dass diese Kritik nicht ganz von der Hand zu weisen sei, „denn die Elemente des sozialen Systems sind Kommunikationsakte, die sich an einer emergenten Struktur des Systems orientieren und die offen für Irritationen durch Umwelt und durch Selbstbeobachtung sind“ (Miebach 2014, S. 311; Hervorh. i. Orig.). Die Bestandteile des Systems sind „demnach nicht die Individuen als Mitglieder, sondern Kommunikationsakte“ (ebd.). Abgesehen aber davon, dass jede Theorie bestimmte Sachlagen durch einen bestimmten „Tunnelblick“ sieht (anders kann Wissenschaft gar nicht funktionieren), ist sich Luhmann, wie oben aufgezeigt, der Problematik sehr wohl bewusst.

4.2 Rollen in sozialen Organisationen

4.2.1 Interaktionen in Organisationen - formelle und informelle Rollen

Ein grundlegendes Element von Organisationen ist die Interaktion der jeweiligen Individuen (vgl. Abraham/Büschges 2009, S. 155). Das Handeln der einen Person wird auf „den jeweiligen Interaktionspartner (bezogen), indem (sie) […] die Kommunikationsinhalte

- z.B. Beratung, Terminabsprache, […] - an diesem ausrichtet“ (ebd.). Übertragen auf eine Kita geht es um Mitarbeitergespräche, Teambesprechungen, Elterngespräche, Betreuung des Kindes etc. „Die Akteure in Organisationen sind also in unterschiedlichem Ausmaß voneinander abhängig oder interdependent“ (ebd.). Diese „Koordination des Handelns einzelner Akteure“ (ebd., S. 157) ist überlebenswichtig für das Funktionieren einer Organisation, was am Beispiel des Nicht-Funktionierens in der Organisation Krankenhaus deutlich wird: „würden Chefarzt, Assistenzarzt und Krankenschwester jeweils eigenständig ohne Absprache und Information über die Medikamentierung eines Patienten entscheiden, kann dies u.U. zu lebensbedrohlichen Überdosen führen“ (ebd.). In einer Kita geht es in diesem Sinne zwar nicht um ‚Leben und Tod‘, jedoch wäre die Entwicklung eines Kindes gefährdet, wenn alle unabhängig voneinander an ihm ‚herumdoktern‘. Die Interaktionen in Organisationen gehen einher mit Arbeitsteilung der Organisationsmitglieder (vgl. ebd., S. 156). Jeder hat ein bestimmtes Aufgabenfeld und damit eine bestimmte Position inne (vgl. ebd.). Eng mit der Position in einer Organisation verbunden ist die Organisationsrolle (formelle Rolle). Sie kann verstanden werden als „Summe aller Normen, Verhaltenserwartungen und struktureller Restriktionen für eine gegebene Position in der Organisationshierarchie, mit denen Akteure als Positionsinhaber und Rollenträger in einer Organisation konfrontiert werden“ (ebd., S. 160). Es geht also in einer Kita um Positionen wie Gruppenleiterin und Zweitkraft in einer Kindergruppe, Kita- Leiterin, hauswirtschaftliche Leitung etc. Zudem ist es möglich, dass man nicht nur eine Position inne hat, sondern mehrere; so kann eine Kita-Leiterin gleichzeitig Gruppenleiterin sein.

Nun gibt es aber neben den formalen Strukturen und Abläufen (Sachebene) in Organisationen auch eine „Verhaltensstruktur […], (die) sehr stark durch Gefühle und Stimmungen geprägt“ ist (Abels 2009, S. 185; Hervorh. i. Orig.). So kommt es dazu, dass sich „Mitglieder […] aus irgendwelchen Gründen verbunden (fühlen) oder […] sich nicht“ mögen (ebd.). Dadurch bilden sich innerhalb der Organisation Gruppen, insbesondere dann, wenn Mitglieder außerhalb der Organisation gemeinsame Interessen verfolgen bzw. sich privat treffen (vgl. ebd.). Diese informellen Strukturen führen dann zu einer „Gruppensolidarität“ (ebd.). Sie sind im positiven Fall „förderlich (funktional) […], weil sie die Zusammenarbeit erleichtern, sie können aber auch störend (dysfunktional) sein, wenn die Mitglieder, die sich besonders verbunden fühlen“ (ebd.), sich aus Solidarität zueinander - bewusst oder unbewusst - verbünden und andere Ziele verfolgen als die Organisation. Es bilden sich also sog. informelle Gruppen (vgl. Hobmair et al. 2006, S. 207f.) und entsprechend informelle Rollen.22 Kitas sind meistens relativ kleine Einrichtungen. Wenn es in solch kleinen Organisationen zu einer - wie oben aufgezeigten - Gruppenbildung kommt, in Folge derer die jeweiligen Gruppenmitglieder Ziele der Gruppe verfolgen und dabei Ziele der Institution evtl. aus dem Auge verlieren, können möglicherweise gravierende Probleme im Team und allg. in der Organisation entstehen.

4.2.2 Rolle systemtheoretisch betrachtet

Das soziale System Organisation kommuniziert mit den psychischen Systemen der Mitarbeiterinnen. Dazu benötigt die Systemtheorie „das Konstrukt der Person zur Adressierung von Verhaltenserwartungen“ (Miebach 2014, S. 315). Person ist nicht gleich psychisches System, welches aus der Sicht des sozialen Systems „nicht fassbar“ (ebd.), sondern lediglich „als die Konstruktion der Person durch soziale Systeme beobachtbar ist“ (ebd.). Die Erwartungen, welche von der Organisation formuliert werden, treffen im psychischen System auf „Ansprüche, die zur Selbstbindung des Individuums an Erwartungen führen“ (ebd.).

Miebach fasst dies so zusammen:

Das psychische System ist nicht unmittelbar in sozialen Systemen präsent, sondern wird als Person vom sozialen System konstruiert und ist auf diese Weise in der Kommunikation ansprechbar. Gegenüber der Person baut das psychische System Ansprüche auf und bestimmt auf diese Weise seine Identität. Das soziale System hält Rollen als generalisierte Verhaltenserwartungen bereit, die von unterschiedlichen Personen ausgefüllt werden können (Miebach 2014, S. 316; Hervorh. i. Orig; vgl. dazu auch ebd., Abb. 85)

Insofern rückt also Luhmanns Systemtheorie in die Nähe der Rollentheorie (vgl. Luhmann 2011, S. 81; vgl. dazu auch Hafen 2004, S. 215).

Wie schon auf S. 9f. kurz erwähnt, hat die Übernahme der rollentheoretischen Perspektive dazu geführt, dass psychische und soziale Systeme getrennt voneinander betrachtet werden können. „Rolle war dabei als an Individuen adressierte soziale Verhaltenserwartung definiert“ (Luhmann 2011, S. 81f.; Hervorh. i. Orig.).23 Er betont, dass „die Soziologie nicht (dahinter) zurückfallen sollte“ (ebd., S. 82) und wendet sich gegen „einen methodologischen Individualismus“ und gegen handlungstheoretische Ansätze (vgl. ebd.). Mit Hilfe der Rollentheorie lässt sich, so Luhmann, erklären, weshalb „ein Mitglied einer Organisation verschiedene, fremddeterminierte Verhaltensweisen ausführen kann, ohne (dabei) an Selbstrespekt einzubüßen und ohne mit der Vorstellung von sich selbst in Konflikt zu geraten“ (ebd., S. 84).

[...]


1 Ausbau der Kindertagesstätten für Unter-Dreijährige in Form von Krippe bzw. Erweiterung der Altersgruppe von ursprünglich 3-6-jährigen auf 2-6-jährige Kinder.

2 Nachfolgend als Kita bezeichnet und z.T. zum Begriff „soziale Organisation“ synonym verwendet.

3 Dieses Gesetz ist am 1. August 2013 in Kraft getreten.

4 Im Folgenden wird die weibliche Form verwendet, da in Kitas überwiegend weibliches Personal beschäftigt ist.

5 Nachfolgend als Kita-Leiterin bezeichnet.

6 Wenn die Kita-Leiterin in einer Kindergruppe mitarbeitet, befindet sie sich in einer ähnlichen Situation wie SchulleiterInnen: „Schulleiter/innen ihrerseits sind für die Lehrer/innen nicht nur Vorgesetzte, sondern immer auch Kolleg/inn/en, und daraus resultieren oft für beide Seiten gravierende Spannungen“ (Ulich 1996, S. 179). Allerdings hinkt dieser Vergleich insofern als in einer Kita, in der die Leiterin in einer Gruppe mitarbeitet, diese sowohl Vorgesetzte als auch Kollegin von allen Kolleginnen der Gesamteinrichtung ist, aber auch noch zusätzlich Kollegin von jemandem, der in der selben Gruppe arbeitet, während LehrerInnen und SchulleiterInnen i. d. R. alleine in ihren Klassen unterrichten.

7 Von diesen 57% sind 61% Gruppenleitung, 13% Zweit- bzw. Ergänzungskraft und 21% arbeiten in verschiedenen Gruppen mit (vgl. Autorengruppe Fachkräftebarometer 2014, S. 36, Abb. 2.18).

8 Die Begriffe Leitung und Führung werden im Folgenden synonym verwendet.

9 Unter anderem kritisiert auch Kühl die Betonung der zweckbestimmten Funktionsweise von Organisationen und konstatiert, dass „gerade die Oberzwecke so abstrakt, schwammig und interpretationsfähig formuliert (seien), dass sich aus der Zwecksetzung keine eindeutig richtigen Mittel ableiten lassen“ (Kühl 2005, S. 131; vgl. dazu auch Abraham/Büschges 2009, S. 110-115).

10 Hinzu kommt das Vorhandensein einer informalen Organisationsstruktur (vgl. Preisendörfer 2005, S. 114; vgl. dazu auch Hobmair et al. 2006, S. 381f.) welche der formalen entgegenwirken kann. So kann schon allein die Existenz einer informalen Organisationsstruktur zu einer „Diskrepanz zwischen Sollen und Sein, zwischen normativen Vorgaben und dem, was in Organisationen faktisch“ geschieht, führen (Preisendörfer 2005, S. 114).

11 Institutionen können als „Sinneinheit von habitualisierten Formen des Handelns und der sozialen Interaktion, deren Sinn und Rechtfertigung der jeweiligen Kultur entstammen und deren dauerhafte Beachtung die umgebende Gesellschaft sichert“ definiert werden (ebd.) und Focali definiert in Anlehnung an Terhart Institution in aller Kürze als „ein gesellschaftlich anerkanntes bzw. bekanntes Regelwerk“ (Terhart 2001, S. 49 in: Focali 2011, S. 39).

12 Als Beispiel für Organisationen nennt Focali wiederum die Schule. Die Schule, betrachtet als ein Gebilde, das das Ziel des Lernens verfolgt, das formale Strukturen aufweist (Klassenverbände, Klausuren, Zeugnisse, etc.) und mit dem die Schüler Bildung erfahren und - mal mehr und mal weniger - auf das weitere Leben vorbereitet werden. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist die Schule eine Organisation.

13 Das Buch wurde im Jahr 2000 posthum veröffentlicht.

14 Luhmann versteht unter Rolle eine „an Individuen adressierte soziale Verhaltenserwartung“ (Luhmann 2011, S. 81f.).

15 „Als rekursiv bezeichnet man einen Prozeß, der seine eigenen Ergebnisse als Grundlage weiterer Operationen verwendet, also das, was weiterhin unternommen wird, mitbestimmt durch das, was bei vorherigen Operationen herausgekommen ist“ (Luhmann 2005a, S. 42).

16 Psychische Systeme operieren mit Bewusstsein und soziale Systeme operieren mit Kommunikation (vgl. Cleppien 2014, S. 351).

17 Prange und Strobel-Eisele sprechen in diesem Zusammenhang von der „pädagogischen Differenz“. Damit wird die Tatsache beschrieben, dass in einer pädagogischen Situation jeweils zwei unterschiedliche Operationen geschehen. Auf der einen Seite wird erzogen, im Sinne von anregen, auf der anderen Seite wird gelernt bzw. das Kind bildet sich und konstruiert seine Welt (vgl. Prange/ Strobel-Eisele 2006, S. 14). Zwischen Erziehung und Bildung besteht ein Wirkungszusammenhang, und zwar insofern als „erzieherisches Tun des einen Menschen bei einem anderen Menschen Lernen zwar induziert (anregt, initiiert), aber nicht unmittelbar und vollständig bewirkt werden kann“ (Grunder 2004, S. 107).

18 Um es mit Watzlawick (1. Axiom) zu sagen: „Man kann nicht nicht kommunizieren“ (Watzlawick et al. 1974, S. 53; Hervorh. i. Orig.). Dies bedeutet, dass jedes Verhalten Kommunikation ist.

19 „Von Interpenetration soll immer dann die Rede sein, wenn die Eigenkomplexität von Umweltsystemen als Unbestimmtheit und Kontingenz für den Aufbau eines mit ihnen nicht identischen Systems aktiviert wird“ (Luhmann 1977, S. 67). Voraussetzung für Interpenetration ist, „daß in dem Bereich, der für das Bezugssystem als Umwelt fungiert, bzw. durch Systembildung zur Umwelt wird, hochkomplexe Systeme bestehen, die für sich selbst ein hohes Maß an (1) Stabilität, (2) Individualisierung und (3) Feinregulierung gewährleisten“ (ebd.).

20 Im Folgenden als Leiterin mit bzw. ohne Gruppendienst bezeichnet.

21 s. Einleitung.

22 Auf den Zusammenhang von informeller Rolle und Organisationskultur sowie auf den Zusammenhang von informeller Rolle und Macht wird in den Abschnitten 8.4.3 bzw. 6.3 eingegangen.

23 Luhmann distanziert sich hier von einem frühen Rollenbegriff Parsons, da dieser „als Nahtstelle von individueller Motivation und sozialer Stabilität“ verstanden werden könne (Luhmann 2011, S. 82). So will Luhmann den Begriff der Rolle nicht verstanden wissen. Zum einen lasse sich „keineswegs alles soziale Handeln spezifischen, als Einheit erwarteten sozialen Rollen zuordnen. Zum anderen werden individuelle Motivation und soziale Stabilität dadurch so stark integriert, dass alle Eigendynamik des individuellen Bewusstseins nach Konformität und Abweichung klassifiziert werden muss“ (ebd.).

Ende der Leseprobe aus 70 Seiten

Details

Titel
Die Leitung von Kindertagesstätten und die Bedeutung von Motivation
Untertitel
Eine systemtheoretische Betrachtung
Hochschule
Universität Trier
Note
1,7
Autor
Jahr
2016
Seiten
70
Katalognummer
V366539
ISBN (eBook)
9783668483255
ISBN (Buch)
9783668483262
Dateigröße
923 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
leitung, kindertagesstätten, motivation, Systemtheorie, systemische Betrachtung, Personalführung, Macht, Luhmann, Entscheidungen
Arbeit zitieren
M.A. Gisa Vogel (Autor:in), 2016, Die Leitung von Kindertagesstätten und die Bedeutung von Motivation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/366539

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