Dier erste Wissenschaft als Ontologie. Aristoteles' "Metaphysik", Buch I


Hausarbeit, 2014

13 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Ontologie in Buch IV

3. Das Problem der ersten Wissenschaft in Buch I

4. Die Ontologie in Buch I
4.1. Erscheinung und Prinzip
4.2. Ätiologie und Ontologie
4.3. Das Seiende und das Eine

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der Metaphysik sucht Aristoteles nach einer ersten und höchsten Substanz [οὐσία] und nach einer ersten und höchsten Wissenschaft [πρώτη επιστήμη], die sich mit dieser befasst, wobei die Bücher I, IV und VI sich letzterem widmen, vor allem die Bücher VII bis IX ersterem. Die erste Wissenschaft wird in Buch eins als Ätiologie, in Buch IV als Ontologie und in Buch VI als Theologie gedacht. Die einzelnen Bücher sind dabei jedoch mit erheblichem zeitlichem Abstand verfasst und geben tendenziell eher einen Reflexionsprozess wieder als eine geschlossene Theorie. Es gab daher immer wieder Interpretationsansätze, die die Metaphysik nicht als einheitliches Werk ansehen, sondern elementare Gegensätze in ihr ausmachen. Dabei wurde oft das Verhältnis zwischen Theologie und Ontologie als widersprüchlich gesehen. Denn die gesuchte erste Wissenschaft könne ja nicht eine von Gott und gleichzeitig eine von allem Seienden sein. Werner Jäger sah daher in den theologischen Passagen der Metaphysik die Relikte einer früheren, von der platonischen Ideenlehre geprägten Philosophie. Paul Natorp vermutete gar, dass diese Gedanken nicht von Aristoteles selbst stammen können und es sich um Interpolationen handele. In der neueren Forschung lesen Autoren wie Günther Patzig und Giovanni Reale die Metaphysik dagegen wieder als ein einheitliches Werk und interpretieren die genannten Bestimmungen der ersten Wissenschaft daher als aufeinander angewiesen.

Eine weitere Frage, welche die Einheitlichkeit der Metaphysik in Zweifel zieht, ist inwiefern in ihr überhaupt ein durchgängiger Begriff von erster Wissenschaft vorliegt. So argumentiert Joseph Owens, dass im ersten Buch nur von Weisheit [σοφία] allgemein die Rede sei und nicht von erster oder höchster Wissenschaft im Sinne der Bücher IV und VI. Auch ihre Bestimmung als Suche nach den ersten Ursachen und Prinzipien sowie das empirische Vorgehen passe nicht zur πρώτη επιστήμη der späteren Bücher. Das Buch I, so Owens stehe also eher in Zusammenhang mit der vorangegangenen Physikabhandlung, als mit der nachfolgenden Metaphysik.

Tatsächlich fällt der Begriff der ersten Philosophie in Buch I nur in Abgrenzung zu den Vorsokratikern und auch die Nähe zur Physik ist unübersehbar, da sich Aristoteles auf deren vier Grundursachen beruft. Auch vermutet man, dass sich das erste Buch aus früheren programmatischen Schriften zusammensetzt.[1] Daher stellt sich die Frage, inwiefern das erste Buch als zur restlichen Metaphysik gehörig angesehen werden kann. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass die einheitliche Lesart von Patzig und Reale auch auf Buch I zutrifft. Dafür werde ich untersuchen, inwiefern die Ontologie des vierten Buchs implizit bereits im ersten enthalten ist.

2. Die Ontologie in Buch IV

Die Untersuchung des Buches IV hat zunächst die Bestimmung der ersten Philosophie als Wissenschaft vom Seienden zum Gegenstand. Hierzu bemerkt Aristoteles, dass die (zuvor in Buch I) gesuchten Ursachen und Prinzipen diejenigen einer Wesenheit an sich sein müssen, also eines Seien qua seien [ὄν ᾗ ὄν]. Dieses Wiederum müsse identisch mit dem Einen sein, was wie folgt exemplifiziert wird:

„(…) wie alles, was gesund genannt wird, sich auf Gesundheit bezieht, indem es dieselbe nämlich erhält oder hervorbringt oder ein Zeichen derselben oder sie aufzunehmen fähig ist;“[2]

Aristoteles betont, dass es sich hier nicht nur um eine bloße Namensgleichheit handelt, sondern, dass die verschiedenen Zustände jeweils Attribute, Affekte, Veränderung oder Negation des Einen seien (in diesem Beispiel der Gesundheit). Sie verhalten sich also in Bezug auf das Eine. Analog hierzu verhalte es sich auch auf einer höheren Abstraktionsstufe: Denn das Seiende kann sowohl eine Wesenheit [οὐσία], deren Affektion und Negation als auch Privation etc. bedeuten. In jedem Fall verhält sich das so in mehrfachem Sinne Seiende aber in Bezug auf die Wesenheit und mithin auf ein Prinzip. Die Erforschung dieser Prinzipien und Ursachen sei die Aufgabe der gesuchten Wissenschaft.[3]Giovanni Real betrachtet hier deshalb Ätiologie und Ontologie als jeweils aufeinander reduziert.[4]Auch die vorsokratischen Philosophen haben bereits nach den Ursachen des Seins gesucht, wenn auch in unvollkommener Weise, sodass Aristoteles die Zusammenlegung der Seiens- und Ursachenforschung in der Tradition der Philosophie bestätigt sieht.[5]

Die verschiedenen Zustände des Seins beziehen sich dabei immer auf die Substanzen. In einem weiteren Beispiel erläutert Aristoteles, dass die Ausdrücke „einMensch und seiender Mensch und Mensch“ dem Sinn nach keinen Unterschied machen. Denn das Eine sei nicht von dem Seienden verschieden, wie er erläutert, sondern;

„Auch ist jede Wesenheit [οὐσία] Eins, nicht bloß im akzidentellen Sinne, und ebenso ist sie seiend an sich.“[6]

Die Frage nach dem Einen und dem Seienden läuft also zusammen in der Bestimmung der οὐσία. Dies ist für seine Ontologie überaus entscheidend. Denn es ist nicht selbstverständlich, dass die erste Wissenschaft, die ja das per se Seiendes zum Inhalt hat, auch solches Seiende thematisieren soll, dem nur in Bezug auf dieses ein Seien zukommt. Durch den Bezug auf ein Identisches handelt es sich jedoch um ein paronymisches Verhältnis, wie Günther Patzig schreibt:

„Jenes Identische, das als Bezugspunkt solcher paronymischen Definitionen dienen kann, nennt Aristoteles das „Erste“: So ist die οὐσία das erste Seiende (…).“[7]

Da die gesuchte Wissenschaft eine der Substanzen ist, kann Sie also eine Wissenschaft von Allem sein. Denn sie bezieht sich zwar primär auf das per se Seiende, hat aber als Wissenschaft der Substanzen auch die anderen Kategorien des Seienden zum Gegenstand, also jene, welche nur indirekt auf dieses Seiende bezogen sind.[8]Aristoteles folgert hieraus:

„So viel es also Arten des Eins gibt, soviel gibt es auch Arten des Seienden, deren Was [τὸ τί ἐστι] zu untersuchen die Aufgabe einer der Gattung nach einzigen Wissenschaft ist, ich meine z.B. die Untersuchung über das Identische, das Ähnliche und anderes dergleichen.“[9]

Die Untersuchung des Identischen und des Ähnlichen schließt aber wiederum die des Unähnlichen, der Negation und der Privation mit ein, die Aristoteles als Vielheit dem Einen entgegengesetzt sieht. Denn diese beziehen sich entweder auf das Sein oder auf das Eine. Je nachdem in welchem Verhältnis der jeweilige Gegenstand zum Einen und zum Sein stehe, sei er zu kategorisieren.[10]

Aus dieser Abhängigkeit geht hervor, dass nur die Substanzen im eigentlichen Sinne seiend sind. Denn sie verleihen den im anderen kategorialen Sinne seienden Entitäten erst dieses Sein. Das Sein des Vergehens ist also letztlich nur das Sein der Substanz dessen was vergeht.[11]

In Buch IV. laufen Ontologie und Ätiologie also in der Bestimmung der Substanzen zusammen. Die gesuchte Wissenschaft ist demnach eine von den ersten Prinzipen und Ursachen des per se Seienden. Diese Qualität erfüllt letztlich nur die οὐσία, zu der sich aber wiederum alles andere in Beziehung setze.[12]Dass die Philosophie in ihrer Eigenschaft als Ousiologie eine Wissenschaft von Allem sei, verdeutlicht Aristoteles, wenn er diese gegen Dialektik und Sophistik abgrenzt. Diese betrachten zwar richtiger Weise auch alles als ihren Forschungsgegenstand. Weil sie aber über keinen Begriff von Substanzen verfügen, können sie sich unter anderem Vergehen und Entstehen nicht erklären.[13]Die Ontologie wird im vierten Buch also geschildert alles eine Wissenschaft von allem Seienden, d.h. von dessen Substanzen. Dabei werden sie jedoch immer unter dem Aspekt des an-sich-Seiens betrachtet, also nur insofern sie überhaupt sind, was sich in der Bezeichnung ὄν ᾗ ὄν ausdrückt und zu unterscheiden ist etwa von einer Betrachtung unter dem Aspekt der Veränderung.[14]

3. Das Problem der ersten Wissenschaft in Buch I

Die Suche nach der ersten Philosophie im ersten Buch der Metaphysik als einer nach den Ursachen und Prinzipen wurde aus verschiedenen Gründen von der in den nachfolgenden Büchern als separat angesehen. Dies lässt sich unter anderem an der Art der Bestimmung der Ursachen festmachen. Wie oben geschildert leitet Aristoteles diese aus der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung ab:

„Denn Verwunderung veranlaßte zuerst wie noch jetzt den Menschen zum Philosophieren, indem man anfangs über die unmittelbar sich darbietenden unerklärlichen Erscheinungen sich wunderte, dann allmählich fortschritt und auch über Größeres sich in Zweifel einließ.“[15]

In dieser Passage will Aristoteles die Selbstständigkeit der Gesuchten Wissenschaft hervorheben. Denn ein solches Philosophieren sei erst möglich gewesen sei, nachdem die materiellen Grundbedürfnisse der Menschen gedeckt waren. Dennoch erscheint es so auch als in der menschlichen Natur angelegt. Joseph Owens leitet hieraus jedoch auch Aussagen über Aristoteles Ontologie ab. Die Philosophie, so Owens beginne für Aristoteles in der wahrnehmbaren Welt und der Bestimmung ihrer Ursachen. Der finale Begriff des Seienden müsse also ebenfalls aus den wahrnehmbaren Dingen entwickelt werden. Demnach sei die Ontologie im ersten Buch zu verstehen als eine Suche nach den Prinzipien des Materiellen, die nicht auf eine Abstraktion der Ursachen abzielt.[16]Da Aristoteles im dritten Kapitel die ersten Ursachen als die vier Ursachen setzt, die er bereits in der Physikabhandlung thematisiert hatte, folgert Owens über diese:

„These are definitetly not abstractions. They are physical principles, found as such in the material universe. They are either the components of sensible things, or else producers or corresponding ends of physical change.”[17]

Dennoch, identifiziert er die Formursache mit der οὐσία. Diese bestimme im ersten Buch das Seiende jedoch lediglich als Form-Materie-Komposita und habe noch keinerlei universale Konnotation, die ihr erst in den späteren Büchern zukomme. Es handle sich hier also um eine Reduktion der platonischen Ideen auf die konkreten materiellen Dinge, was einer empirischen Methode entspringt und als antiplatonischer Zug gegen den absoluten Charakter der Ideen gedeutet werden müsse. Demzufolge sei die gesuchte Wissenschaft im ersten Buch nicht identisch mit der der späteren Bücher, insbesondere der Bücher vier und sechs. Vielmehr gehe es hier um die Bestimmung von Weisheit im Allgemeinen. Hinzu kommt, dass Aristoteles in Buch I den Begriff πρώτη φιλοσοφία nicht verwendet und stattdessen nur vonσοφίᾱ spricht.[18]Lauri Routila erwidert aud Letzteres, dass sich das erste Buch vermutlich aus vorangegangen Programmschriften zusammensetzt, was die philologischen Unterschiede erkläre. Die strukturellen Überschneidungen mit den nachfolgenden Büchern überwiegen jedoch sodass von einem durchgängigen Begriff vonπρώτη φιλοσοφία ausgegangen werden kann, auch wenn dieser in Buch I nur implizit Erwähnung findet.[19]Die Einwände gegen eine einheitliche Lesart der Metaphysik, d.h. einen durchgängigen Begriff (zumindest implizit) von erster Philosophie an zunehmen sehen das erste Buch also eher als eine platonkritische Naturphilosophie.

4. Die Ontologie in Buch I

4.1. Erscheinung und Prinzip

Aristoteles leitet seine Suche nach der ersten Wissenschaft mit einer erkenntnistheoretischen Überlegung ein in dem er die verschiedenen Stufen der Erkenntnis hierarchisiert. Die Grundlegendste Stufe ist für ihn die sinnliche Wahrnehmung, die alle Lebewesen teilen. Einige verfügen jedoch über die Fähigkeit zur Erinnerung, welche sie zur Erfahrung befähigt, wobei er auch hier differenziert zwischen Tieren, die zwar über Erinnerung verfügen, diese jedoch Teil ihrer Vorstellungswelt bleibt und solchen die aus ihr Erfahrung ableiten.[20]Dem Menschen dagegen bleibt es vorbehalten aus der Erfahrung wiederum Wissenschaft und Kunst abzuleiten, was anhand von aus Erfahrung gewonnenen medizinischen Wissens exemplifiziert wird:

„Denn die Annahme, daß dem Kalias, indem er an dieser bestimmten Krankheit litt, dieses bestimmte Heilmittel half, und ebenso dem Sokrates (…), ist eine Sache der Erfahrung; daß es dagegen allen, von solcher und solcher Beschaffenheit (indem man sie in einem Artbegriff einschließt), allen die an dieser Krankheit litten zuträglich war, (…) diese Annahme gehört der Kunst an.“[21]

[...]


[1]Vgl. BRENTANO, Margherita, Zum Problem der ersten Philosophie bei Aristoteles, in: Wirklichkeit und Reflexion, S. 38 ff.

[2]1003a 30-35.

[3]Vgl. 1003b 5-20.

[4]REALE, Giovanni, The Concept of First Philosophy and the Unity of the Metaphysics of Aristotle, S. 116.

[5]Vgl. 1003a 25.

[6]10003b 25 f.

[7]PATZIG, Günther, Theologie und Ontologie in der Metaphysik des Aristoteles, in: Kantstudien Nr. 52, S. 194.

[8]Vgl. 1004a 25 f.

[9]1003b 33-37.

[10]Vgl. 1004a 10 ff.

[11]Vgl. REALE, S. 123.

[12]Vgl. Ebd. S. 125.

[13]Vgl. 1004b 19 ff.

[14]Vgl. DANGEL, Tobias Hegel und die Geistmetaphysik des Aristoteles, in: Quelle und Studien zur Philosophie, Bd. 115, S. 39 ff.

[15]982a 12-16.

[16]Vgl. OWENS, Joseph, The Doctrine of Being in the Aristotelian Metaphysics, S. 88.

[17]Ebd. S. 89.

[18]Vgl. Ebd. S. 109 f.

[19]Vgl. ROUTILLA, Lauri, Die aristotelische Idee der ersten Philosophie, in: Acta Philosophica Fennica, Nr. 23, S. 49 f.

[20]Vgl. 980b 25.

[21]981a . 1-12.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Dier erste Wissenschaft als Ontologie. Aristoteles' "Metaphysik", Buch I
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Philosophisches Seminar)
Note
1,7
Autor
Jahr
2014
Seiten
13
Katalognummer
V364755
ISBN (eBook)
9783668441309
ISBN (Buch)
9783668441316
Dateigröße
628 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Aristoteles, Metaphysik, Ontologie, erste Wissenschaft, Substanz
Arbeit zitieren
Johannes Konrad (Autor:in), 2014, Dier erste Wissenschaft als Ontologie. Aristoteles' "Metaphysik", Buch I, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/364755

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