Stärkt Europa den Nationalstaat?

Eine Diskussion von Andrew Moravcsiks Konzept des Liberalen Intergouvernementalismus vor dem Hintergrund des Amsterdamer Vertrages


Seminararbeit, 2003

18 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

I. Der Liberale Intergouvernementalismus
I.1 In den Nationalstaaten: gesellschaftliche Akteure
I.2 Zwischen den Staaten: gouvernementale Akteure

II. Der Amsterdamer Vertrag – Triumph nationaler Interessen?
II.1 Amsterdam aus der Perspektive des Liberalen Intergouvernementalismus
II.2 Amsterdam aus anderen Blickwinkeln

III. Fazit

Einleitung

Nach dem Abschluss des Amsterdamer Vertrages durch die Mitgliedsstaaten der EU im Sommer 1997 äußerten sich viele Beobachter enttäuscht über die Ergebnisse. Die gemachten Fortschritte erschienen den Kritikern als zu gering, insbesondere auf die bevorstehende Osterweiterung sah man die EU nach Amsterdam als unzureichend vorbereitet. In den zähen Verhandlungen der Regierungskonferenz schienen die erhofften Reformen steckengeblieben zu sein. In einem Artikel des European Policy Centre heißt es frustriert: „Given the inability of the EU's leaders to confront the task of reform {...} the existing process of intergovernmental conferences to amend and adapt the Union's Treaties has reached the end of its useful life.“[1] Und die Europa-Experten Christiansen und Jørgensen behaupten: „If anything, Amsterdam, in its high incidence of ‚non decisions’ has further formalised the way in which governments have accepted their inability to control the process.“[2] Ganz anders sieht das der Harvard-Professor Andrew Moravcsik. Aus der Perspektive seines ‚Liberalen Intergouvernementalismus’ beurteilt er die Konferenz von Amsterdam als äußerst erfolgreich, oder besser; effizient. Gerade in den relativ bescheidenen Integrationsfortschritten sieht er den Beleg für die zentrale These seines Theorieansatzes, dass auf dem europäischen Parkett nach wie vor die nationalen Regierungen das Sagen haben. Laut Moravcsik haben sich die europäischen Regierungen in Amsterdam in einem rationalen Abwägungsprozess nur auf solche Positionen geeinigt, die ihren jeweiligen nationalen Interessen nicht widersprechen, ungeachtet institutionellen Drucks oder politischen Idealismus. Einschätzungen, die dem europäischen Integrationsprozess eine den nationalstaatlichen Akteuren die Kontrolle mehr und mehr entziehende Eigendynamik zurechnen, stellt sich Moravcsik mit dem rationalistischen Ansatz des Liberalen Intergouvernementalismus entgegen.

In dieser Arbeit soll das Konzept des Liberalen Intergouvernementalismus vor dem Hintergrund des Amsterdamer Vertrages diskutiert werden. In einem ersten Teil wird zunächst Moravcsiks theoretischer Ansatz erläutert. Im Folgenden wird dann dieser Ansatz an Hand unterschiedlicher Betrachtungsweisen der Konferenz von Amsterdam erörtert, wobei die These von der Dominanz nationaler Regierungen im Mittelpunkt steht. Abschließend steht eine zusammenfassende Einschätzung der gewonnenen Erkenntnisse.

I. Der Liberale Intergouvernementalismus

Andrew Moravcsik, ‚Professor of Government and Director of the European Union Program’ in Harvard, hat mit seinem allgemein als Liberaler Intergouvernementalismus bezeichneten Theorieansatz (im Folgenden mit LI abgekürzt) ein Konzept zur Betrachtung des europäischen Integrationsprozesses vorgelegt, das aus einer empirisch-rationalistischen Perspektive diesen Prozess erklären soll. Im Gegensatz zu Vertretern von Theorien wie Institutionalismus oder Funktionalismus, lehnt Moravcsik die Vorstellung ab, dass der europäische Einigungsprozess eine selbstständige, alternativlose Entwicklung darstellt, die sich praktisch ungeachtet nationaler Interessen den Europäern aufdrängt. Mit diesem Versuch der Entwicklung einer wissenschaftlichen fundierten Theorie wendet sich Moravcsik auch gegen teleologische Betrachtungsweisen, die den Erfolg europäischer Politik stets an dem Ideal einer vollkommen geeinten Union messen.

Stattdessen betont der LI die Souveränität rationaler Akteure, in Bezug auf die nationalen Regierungen, ebenso wie auf die Individuen und gesellschaftlichen Gruppen innerhalb eines Staates. Der Ansatz unterteilt internationale Politik in zwei Bereiche, oder besser: zwei Ebenen. Auf einer liberalistischen Sichtweise der internationalen Beziehungen basierend, misst der LI auf nationalstaatlicher Ebene den gesellschaftlichen Akteuren zentrale Bedeutung bei und schreibt den Anlass zu internationaler Kooperation zunehmender Interdependenz im internationalen System zu. Auf internationaler bzw. europäischer Ebene vertritt Moravcsik eine intergouvernementalistische Sichtweise, die den nationalstaatlichen Regierungen weit gehende Souveränität zuschreibt. Hier wird die zentrale These des LI offenbar: In den internationalen Verhandlungen zur europäischen Integration sieht Moravcsik die Regierungen der Mitgliedsstaaten als dominante Akteure, die ihre nationalen Interessen durchsetzen.

Um eine sinnvolle und verständliche Diskussion dieses Theorieansatzes in Bezug auf den Amsterdamer Vertrag zu ermöglichen, sollen in diesem Teil zunächst die Grundannahmen des LI erläutert werden.

I.1 In den Nationalstaaten: gesellschaftliche Akteure

Um die Entstehung der politischen Vorstellungen und Ziele innerhalb eines Nationalstaates, die später auf internationaler, bzw. in diesem Fall auf europäischer Ebene vertreten werden, zu erklären, wählt Moravcsik einen liberalen Ansatz. Um das Wesen des Nationalstaates zu erläutern, wendet er sich entsprechend zunächst den gesellschaftlichen Akteuren zu. In einem Prozess der Präfenrenzbildung gestalten diese die Politik eines Staates. Jedes Individuum einer Gesellschaft trägt durch seine ideellen und politischen Vorstellung, durch sein Vorteils- und Gewinnstreben, zu der Herausbildung von „state preferences“[3] – einer Sammlung bestimmter politischer Vorstellungen und Ziele - bei, die sich dann in der Politik der Regierung des Nationalstaates widerspiegeln. Der Nationalstaat als politischer Akteur ist also keine unveränderliche Einheit sondern das Produkt der innerhalb seiner Gesellschaft ablaufenden Entscheidungsprozesse. Diese Sichtweise nennt Moravcsik eine „bottom-up“[4] -Perspektive. Deshalb sind die „state preferences“ potenziell einem ständigen Wandel unterworfen – ändern sich die Präferenzen von Individuen, Interessengruppen oder Parteien, ändern sich über kurz oder lang auch die Präferenzen ihres Nationalstaates, je nach Einfluss der jeweiligen gesellschaftlichen Akteure. Besonderen Wert legt Moravcsik in diesem Zusammenhang darauf, deutlich zu machen, dass der Prozess der innerstaatlichen Präferenzbildung nahezu vollständig rational abläuft. Er geht davon aus, dass im Normalfall jedes Mitglied der Gesellschaft seine Präferenzen auf Grund eines individuellen Kosten-Nutzen-Kalküls entwickelt. Damit vertritt Andrew Moravcsik – so seine Selbsteinschätzung – eine „liberal international relations theory in a nonideological and nonutopian form appropriate to empirical social science“[5].

I.2 Zwischen den Staaten: gouvernementale Akteure

Auf der europäischen Ebene nun, treffen die Präferenzen der verschiedenen Staaten aufeinander. Entsprechend seinem liberalistischen Theorieansatz sieht Moravcsik den Anlass zur Kooperation auf internationaler Ebene in Interdependenzen, also wechselseitigen Abhängigkeiten, z.B. im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder militärischen Bereich, zwischen den Staaten. Um nun die Beziehungen zwischen den europäischen Nationalstaaten zu analysieren, zieht Moravcsik allerdings einen klaren Schnitt. Während der Präferenzbildungsprozess innerhalb eines Staates vollkommen offen, unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Gruppen abläuft, ist die internationale Politik allein dem Einfluss der nationalen Regierungen unterworfen. In Verhandlungen bringen diese ihre Präferenzen vor und suchen sie so effizient wie möglich durchzusetzen. Während einer internationalen Regierungskonferenz (engl. abgekürzt: IGC) wie der von Amsterdam, nehmen die Staatschefs und ihre Delegationen allenfalls noch Rücksicht auf ihre nationalen Parlamente. Alle anderen Akteure dürfen hier nicht mehr mitreden.[6] Der Ablauf einer IGC aus der Sicht des LI lässt sich in drei Schritten schildern:

Ergeben sich in einem bestimmten Politikbereich zwischen zweien oder mehreren Staaten, wechselseitige Abhängigkeiten, „issue-specific interdependences“[7], werden diese auf die Tagesordnung gesetzt (Schritt 1). Die Regierungen treten in Verhandlungen, mit der Zielsetzung, den eigenen Standpunkt möglichst uneingeschränkt durchzusetzen. Dieses „bargaining“[8] findet, genau wie die innerstaatliche Präferenzbildung, auf rein rationaler Basis statt. Der Verhandlungsprozess wird also ausschließlich bestimmt durch die entschlossen vorgebrachten Präferenzen der jeweiligen nationalen Regierungen (Schritt 2). Kommt eine Einigung zu Stande - und dies geschieht nur dann, wenn keiner der Beteiligten eine Verschlechterung gegenüber dem Status quo hinnehmen muss, also in seinen nationalen Präferenzen nicht eingeschränkt wird – wird eine Institution damit betraut, die erreichten Fortschritte abzusichern (Schritt 3).[9]

Zu betonen ist in diesem Zusammenhang noch ein wichtiger Punkt: Die europäischen Nationalstaaten gehen internationale Verhandlungen und Verträge nicht ein, weil sie sich von einem inneren Drang beseelt, der europäischen Integration verpflichtet fühlten. Aus der Perspektive des LI handeln die Regierungen der Nationalstaaten als souveräne Akteure, die auf der Grundlage rationaler Entscheidungsprozesse auf dem europäischen Parkett in Aktion treten, um ihren Standpunkt zu verteidigen, bzw. ihre Stellung zu verbessern. Die erzielte Einigung sichern sie dann mit Hilfe von Institutionen ab. Von letzteren lassen sich die Staaten im Übrigen nicht ihre Politik diktieren. Die europäischen Institutionen wie Kommission oder Parlament stellen für den LI wenig mehr als Instrumentarien zur Durchsetzung nationaler Politikziele auf internationaler Ebene dar.[10] Moravcsik fasst das so zusammen: „European policy is, to a large extent, whatever member governments want it to be.“[11]

II. Der Amsterdamer Vertrag – Triumph nationaler Interessen?

Der Vertrag von Amsterdam, zur Revision der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht, ist das Ergebnis der Arbeit, die die Regierungskonferenz vom März 1996 bis Juni 1997 geleistet hat. {...} Die Union soll für die Herausforderungen gerüstet werden, die jetzt und in den kommenden Jahren an sie gestellt werden.[12]

So heißt es in einer vom Europarat herausgegebenen Broschüre. Ob Amsterdam die Union nun ausreichend für zukünftige Herausforderungen gerüstet hat, darüber lässt sich trefflich streiten. Veränderungen hat es jedenfalls gegeben, u.a. bei den Bürgerrechten, in der Außenpolitik wie in der Justiz, sowie weitere Reformen der EU-Organe, etwa die Abstimmungsverfahren betreffend. Allgemein aber wurden die Verhandlungsergebnisse eher zurückhaltend bis enttäuscht beurteilt. „The Amsterdam Treaty {...} is not likely to be remembered in the history of the European Union as the kind of watershed presented by its predecessors.“[13] meint auch Andrew Moravcsik. Doch das kümmert ihn wenig, betrachtet er doch den europäischen Einigungsprozess aus der erklärtermaßen unideologischen, rationalen Perspektive seines Liberalen Intergouvernementalismus – und sieht sich bestätigt in seiner These von der Dominanz europäischer Regierungen, des Vorherrschens nationaler Interessen. Der Amsterdamer Vertrag – vielleicht nicht gerade die Erfüllung europäischer Einigungsträume, aber immerhin ein Beleg des LI?

Dieser Frage soll im Folgenden unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Quellen nachgegangen werden. Zunächst werden die Argumentation Moravcsiks sowie eine seine Thesen stützende Analyse dargestellt. In einem zweiten Abschnitt werden etwaige Unzulänglichkeiten und Widersprüche dieser Sichtweise angesprochen und andere mögliche Interpretationsansätze zu Amsterdam vorgestellt.

II.1 Amsterdam aus der Perspektive des Liberalen Intergouvernementalismus

Wie schon weiter oben angesprochen sieht Andrew Moravcsik im Prozess und den Ergebnissen des Amsterdamer Vertrages eine Bestätigung seines intergouvernementalistischen Ansatzes. In dem zusammen mit Kalypso Nicolaidis verfassten Artikel „Explaining the Treaty of Amsterdam“ aus dem Jahr 1999 erläutert er dies ausführlich. Die Grund legende These ist, dass die Verhandlungen und Ergebnisse von Amsterdam genau durch die den LI charakterisierenden Eigenschaften – wie sie im ersten Teil dieser Arbeit erläutert wurden – geprägt sind:

[...]


[1] o.A.: Making Sense of the Amsterdam Treaty - A publication from the European Policy Center - Conclusions of the publication, in: Europa – The European Union Online; http://europa.eu.int/en/agenda/igc-home/instdoc/universe/europc.htm, September 1997

[2] Christiansen, Thomas und Jørgensen, Knud Erik: The Amsterdam Process: A Structurationist Perspective on EU Treaty Reform, in: European Integration online Papers (EioP) Vol. 3 (1999) N° 1; http://eiop.or.at/eiop/texte/1990-001.htm, 15.01.1999

[3] Moravcsik, Andrew: Taking Preferences Seriously – A Liberal Theory of International Politics, in: International Organization, 51:4 (Autumn 1997), S. 520

[4] Moravcsik, S. 517

[5] Moravcsik, S. 513

[6] vgl. Moravcsik, Andrew: Why the European Union Strengthens the State - Domestic Politics and International Cooperation, in: Center for European Studies, Working Paper Series #52, http://www.ces.fas.harvard.edu/working_papers/Moravcsik52.pdf, September 1994, S. 5-15

[7] Moravcsik, Andrew und Nicolaidis, Kalypso: Explaining the Treaty of Amsterdam – Interests, Influence, Institutions, in: Journal of Common Market Studies, Vol. 37, No.1, March 1999, S. 60

[8] Moravcsik/Nicolaidis, S. 60

[9] vgl. Moravcsik/Nicolaidis, S. 60ff

[10] vgl. Moravcsik, S. 15-26

[11] Moravcsik, S. 26

[12] Rat der Europäischen Union: Der Vertrag von Amsterdam – Herausforderungen und Lösungen, Luxemburg 1998, S. 5

[13] Moravcsik, Andrew und Nicolaidis, Kalypso: Explaining the Treaty of Amsterdam – Interests, Influence, Institutions, in: Journal of Common Market Studies, Vol. 37, No.1, March 1999, S. 60

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Stärkt Europa den Nationalstaat?
Untertitel
Eine Diskussion von Andrew Moravcsiks Konzept des Liberalen Intergouvernementalismus vor dem Hintergrund des Amsterdamer Vertrages
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Einführung in die neue politische Ökonomie am Beispiel der Europäischen Union
Note
2,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
18
Katalognummer
V36153
ISBN (eBook)
9783638358583
Dateigröße
569 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Eine, Konzept, Liberalen, Intergouvernementalismus, Hintergrund, Amsterdamer, VertragesStärkt, Europa, Nationalstaat, Konzept, Liberalen, Intergouvernementali, Einführung, Beispiel, Europäischen, Union
Arbeit zitieren
Andreas Schiel (Autor:in), 2003, Stärkt Europa den Nationalstaat?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36153

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