Theorie des sozialen Handelns (Thomas Luckmann)


Seminararbeit, 1998

43 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Handlungstheorie als Grundlage der Sozialwissenschaften
2.1. Handlungstheorie - ein geschichtlicher Abriß
2.2. Handlungstheorien im Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft

3. Phänomenologie
3.1. Erläuterungen zum Begriff der Phänomenologie
3.2. Phänomenologische Analyse

4. Handeln als Wirklichkeitsveränderung und als Bewußtseinsleistung
4.1. Erleiden und Tun
4.2. Die Konstitution von Sinn im Handeln
4.2.1. Der Sinngebungsprozeß im Erleiden (Typ 1)
4.2.2. Der Sinngebungsprozeß im Tun (Typ 2)
4.3. Sinn als Relation

5. Das Verstehen von Handlungen
5.1. Elementare Axiome
5.2. Deutungsschema für das Handeln anderer
5.3. Handeln und Verhalten

6. Handeln in der Welt und Handeln in die Welt

7. Die Zeit- und Sinnstruktur von Handeln
7.1. Die Zeitperspektive des Entwurfs
7.2. Die Zeitperspektive des Handlungsvollzugs
7.3. Die Sinnstruktur des Handlungsvollzugs
7.4. Der Zeit- und Sinnzusammenhang von Entwürfen

8. Der Handlungsentwurf
8.1. Entwurf als praktische Utopie
8.2. Entwurf als Denkakt aus Bausteinen
8.3. Entwerfen nach dem Baukastenprinzip
8.4. Die Wahl zwischen Entwürfen
8.5. Wahlvorgang

9. Der Handlungsvollzug
9.1. Die Schwellenüberschreitung im Handlungsvollzug
9.2. Anfang und Ende des Handlungsvollzugs
9.3. Verlaufstypen von Handlungen
9.3.1. Erfolgreiche Handlung im engeren Sinn
9.3.2. Erfolgreiche Handlungen im weiteren Sinn: Unterbrechung und Umweg
9.3.3. Verlaufstyp: Abbruch der Handlung
9.3.4. Verlaufstyp: Zielverfehlung
9.3.5. Verlaufstyp: Zielveränderung

10. Schluß

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

Der Alltag eines Menschen ist geprägt von einer Fülle unterschiedlicher Handlungen. Es gibt kleine routinisierte Handlungen, wie Wecker stellen, Zähne putzen oder Kaffee kochen und große bedeutungsvolle Handlungen, wie eine Hochzeit, eine Bergbesteigung oder die Fertigstellung einer wissenschaftlichen Arbeit. Auch wenn nicht alles im menschlichen Leben Handeln ist, so besteht doch das elementare Grundgerüst jeden Tages im Prinzip aus einer Aneinanderreihung von Handlungen. Diese Verkettung, mit welcher sich der Mensch tagtäglich konfrontiert sieht, wird oft in ihrer Bedeutung nicht bewußt wahrgenommen: im Zusammenleben von Mitgliedern einer Gesellschaft muß der Mensch zum Überleben handeln. Ein Leben mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit ist denkbar, ein Tag gänzlich ohne Handlungen dagegen bleibt allein der Phantasie vorbehalten. Wir leben mit anderen Menschen, handeln für oder gegen andere. Die menschliche Gesellschaft kann aus diesem Blickwinkel auch als konkreter Handlungszusammenhang von Mitmenschen betrachtet werden und ist bereits - entstehungsgeschichtlich gesehen - das Ergebnis einer langen Handlungsfolge.

Es ist schwierig, die Komplexität menschlichen Handelns zu beschreiben und in Worte zu fassen. Diese Arbeit möchte trotzdem den Versuch wagen, das soziale Handeln als eine alltägliche Leistung in ihren Grundzügen zu umreißen. Im ersten Teil sollen die wichtigsten Grundlagen einer Beschäftigung mit menschlichem Handeln benannt werden - im Vordergrund stehen hierbei v.a. Aussagen zur Begrifflichkeit und ein kurzer geschichtlicher Abriß der Handlungstheorie.

Der Schwerpunkt der Arbeit befaßt sich mit der Theorie des sozialen Handelns von Luckmann - hier soll ein möglichst differenziertes Bild der Handlungsstruktur sowie des Handlungsvollzugs in seinen Grundzügen entwickelt werden.

2. Handlungstheorie als Grundlage der Sozialwissenschaften

‚Handeln macht nicht immer Geschichte, aber es macht Gesellschaft‘ (Luckmann 1992).

Menschliche Gesellschaften haben eine Geschichte und stehen jeweils an der Spitze eines langen Entwicklungsprozesses. Zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den komplexen Zusammenhängen von gesellschaftlichem Handeln ist viel an Rüstzeug aus unterschiedlichen Disziplinen notwendig: u.a. beispielsweise Wissen aus der Anthropologie zur Einschätzung von instinkthaften Elementen menschlichen Lebens oder auch historische Fakten zur Vielfalt gesellschaftlicher Entwicklungen.

Das Fundament einer allgemeinen Gesellschaftstheorie bilden jedoch die soziologische Institutionenlehre und Handlungstheorie, die sich in einem Spannungsverhältnis zueinander befinden. ‚Diese beiden Eckpfeiler sind mit theoretischer Notwendigkeit aufeinander bezogen: Institutionen entstehen im Handeln, und einmal entstanden, steuern sie Handeln ihrerseits vermittels verinnerlichter Normen und äußerer Zwänge‘ (Luckmann 1992).

Handlungsvorgänge - in ihrer Bedeutung als Grundlage des gesellschaftlichen Daseins begriffen - befinden sich demzufolge in jeder sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung im Fokus der Aufmerksamkeit. Das gesamte Handlungsspektrum zwischen alltäglichen Gewohnheitshandlungen und bedeutungsvollem einmaligem Handeln scheint hierbei von besonderem Interesse zu sein.

Wissenschaften, die soziales Handeln in Gesellschaften interpretieren, müssen bei der Deskription alltäglicher Wirklichkeit ansetzen. Sie bildet das soziale Fundament, auf welchem menschliches Handeln stattfindet. Um Erklärungen für das Entstehen von Gesellschaft als Lebenszusammenhang zu finden, ist demnach eine Beschreibung von Handeln als alltägliche Leistung notwendig. Das heißt konkret: Will man gesellschaftliche Entstehungszusammenhänge klären, muß man sich in einem ersten Schritt mit den grundsätzlichen Prinzipien und Bestandteilen von Handlungen beschäftigen.

2.1. Handlungstheorie - ein geschichtlicher Abriß

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Als Handlungstheorie läßt sich eine ‚Gruppe soziologischer Theorien bezeichnen, die ihr gemeinsames Merkmal darin finden, daß sie gesellschaftliche Systeme auf soziales Handeln in sozialen Situationen zurückführen (vgl. Abbildung 1) und dabei Organisationen, Institutionen und soziale Strukturen aus der Perspektive sozialer Akteure zu erschließen versuchen ‘ (vgl. Abbildung 2, Fachlexikon der sozialen Arbeit 1986).

Blickt man zurück in die Geschichte der Handlungstheorie, lassen sich verschiedene Hauptentwicklungslinien der systematischen Beschäftigung mit den oben genannten Grundfragen des menschlichen Handelns herauskristallisieren (vgl. Abbildung 3).

In der Entdeckung der Person als Grund des Handelns durch den griechischen Philosophen Aristoteles (384-322 v. Chr.) wird die Geburtsstunde der Handlungstheorie vermutet. Die Hauptaspekte seiner Nikomachischen Ethik beziehen sich zum einen auf die Erkenntnis der Wahlfreiheit der Person zur Entscheidung von Zwecken und Mitteln einer Handlung. Weiterhin proklamiert er die Zurechnungsfähigkeit einer Person, die er als zureichenden Grund des Handelns ansieht.

Diese kritische Auseinandersetzung mit der Verantwortungszuschreibung einer Handlung ließ bald darauf den Gedanken aufkommen, wie sich denn diese ‚Wahlfreiheit des handelnden Menschen mit der Annahme einer durchgehenden Bestimmtheit des Weltgeschehens‘ (Luckmann 1992) vertragen würde. Dieser Gedanke bewegte vor allem die frühe und später die mittelalterliche christliche Theologie und streute seine Ausläufer (mit der zentralen Frage: ‚ Wie kann der Schöpfer-Gott das Böse zulassen? ‘) sogar bis in die Neuzeit hin zu Luther, Calvin und der katholischen Theologie und Religionsphilosophie.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Im 16. Jahrhundert findet eine ‚moderne‘ wissenschaftliche Beschäftigung mit der Theorie des Handelns ihre Anfänge. Es bilden sich Grundkategorien von Fragestellungen heraus, die immer größere Bereiche der Wirklichkeit als diesseitig erfassen. In den Fokus rückt der individuelle Mensch, der in einem weltlichen Staat, einer Gesellschaft, handelt. Schlüsselfigur dieser neuen Perspektive, d.h. Begründer einer handlungstheoretisch ausgerichteten Sozialwissenschaft, ist Nicolo Machiavelli (1469 - 1527). In seinen systematischen Analysen von Macht und Herrschaft kommt er zur Kernaussage seiner Forschungsarbeit. Überzeugt, daß (v.a. politisches) Handeln von unterschiedlichen (v.a. religiösen) Motiven geleitet wird, arbeitet er in seinem Hauptwerk ‚Il Principe‘ (1513) Strategien zu einem ‚ erfolgreichen politischen Handeln ohne Berücksichtigung moralischer Prinzipien ‘ (Luckmann 1992) heraus.

Ungeachtet einer näheren Beschreibung weiterer handlungstheoretischer Entwicklungen in der Geschichte mit all ihren großen Denkern soll im Rahmen dieser Arbeit ein zeitlicher Sprung ins 18. und 19. Jahrhundert vollzogen werden. Hier bestand wissenschaftliches Interesse am individuellen Handeln nur in zweiter Linie, das gesellschaftlich Ganze trat als das eigentlich Wirkliche in den Mittelpunkt theoretischer Denkrichtungen. Die kollektivistische Zentrierung der Hauptströmungen auf die gesellschaftliche Gesamtheit läßt individuelles Handeln völlig in den Hintergrund rücken. Als Anhänger dieser Konstruktion von gesellschaftlicher Ordnung können hier auszugsweise Auguste Comte (1798 - 1857), Charles Darwin (1809 - 1882), Karl Marx (1818 - 1883) und später im Übergang zum 20. Jahrhundert auch Emile Durkheim (1858 - 1917) und seine Schule genannt werden.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß sich in der jahrhundertelangen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Grundfragen gesellschaftlichen Daseins vor allem zwei Hauptströmungen herauskristallisiert haben: eine eher handlungstheoretische Denktradition steht einer vornehmlich kollektivistisch orientierten Theorie gegenüber.

Mit Max Weber‘s (1864 - 1920) verstehender Soziologie gelangt dieses umstrittene Verhältnis zwischen individuellem Handeln und gesellschaftlicher Ordnung zu einer Art Ausgleich. Aspekte des methodologischen Individualismus und ein grundsätzliches Verständnis der gesellschaftlichen Folgen individuellen Handelns verband er stimmig mit seinem historischen Interesse an der Totalität gesellschaftlicher Ordnung sowie den Rahmenbedingungen sozialen Wandels. Durch die Verschmelzung dieser verschiedenen Perspektiven zu einer homogenen Theorie des sozialen Handelns konnte er der Soziologie eine systematische handlungstheoretische Grundlage schaffen.

2.2. Handlungstheorien im Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Beschäftigung mit Handeln als sozialer Kategorie findet immer in einem Spannungsverhältnis zwischen zwei Polen statt: dem individuellen Handeln auf der einen Seite steht die gesellschaftliche Ordnung andererseits gegenüber. Je nach theoretischen Grundüberlegungen bezieht sich der Schwerpunkt einer Handlungstheorie demnach entweder auf die Bedeutung des individuellen Handelns innerhalb gesellschaftlicher Strukturen oder auf die Auswirkungen sozialer Rahmenbedingungen auf die Handlungsorientierung der Mitglieder einer Gesellschaft.

In der aktuellen handlungstheoretischen Diskussion innerhalb der Soziologie lassen sich vor allem drei Hauptströmungen benennen, die ihre jeweils eigene Position innerhalb des beschriebenen Spannungsverhältnisses einnehmen (vgl. Abbildung 4).

Der symbolische Interaktionismus von George Herbert Mead (1863 - 1931) sieht Gesellschaft und ihre Strukturen vor allem als ein Produkt sozialer Akteure, wobei die Frage nach dem objektiven Charakter sozialer Integration, ‚ dem nicht in subjektive Intentionen aufzulösenden objektiven Gehalt sozialer Strukturen‘ (Fachlexikon der sozialen Arbeit 1986), offenbleibt. Normative Ordnungen versucht Mead als Resultat individuellen (sprachlich und symbolhaft vermittelten) Handelns transparent zu machen. Den Leitsätzen des Symbolischen Interaktionismus zufolge wird individuelles soziales Handeln als ein Vorgang verstanden, der Gesellschaft produziert.

In der soziologischen Theorietradition beschreiten der Strukturfunktionalismus und die Systemtheorie mit der Einnahme einer eher gesellschaftlichen Perspektive als Ausgangspunkt den entgegengesetzten Weg. Der Akzent der Theorie verlagert sich auf die Konzeption normativ strukturierten Handelns und legt damit eher objektivistische Interpretationen nahe, einen Weg, den Talcott Parsons (1902 - 1979) beschritten hat. Parsons versucht, Integration sozialer Ordnung, ‚ausgehend von den Handlungsorientierungen der Akteure, über die normative Dimension des Handelns zu begründen und gelangt zu einer funktionalistischen Strukturtheorie, die die unauflöslich subjektiv-konkreten, situativen Momente des Handlungszusammenhangs den strukturellen Bestandteilen opfert‘ (Fachlexikon der sozialen Arbeit 1986).

Wird subjektives Handeln bei Parson eher als normativ vorstrukturierter, bei Mead eher als ein gesellschaftliches Leben produzierender Vorgang begriffen, so nimmt Max Weber (1864 - 1920) mit seiner verstehenden Soziologie den Platz in der Mitte dieses Spannungsfeldes ein. In seiner Konzeption von Handeln begreift er menschliches Verhalten als Handeln, wenn die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. Als soziales Handeln faßt er ein Handeln auf, welches seinem Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und in seinem Ablauf daran orientiert ist. Bei Weber wird ‚ Sinn zur zentralen Kategorie, die die Perspektiven des wissenschaftlichen Beobachters und des Handelnden verknüpft und so dessen Intentionen über Sinndeutungen rekonstruierbar werden läßt ‘ (Fachlexikon der sozialen Arbeit 1986). Auf diese Weise beanspruchen die Weber‘schen Kategorien individuelles, über die Bestimmungsgründe auf ‚Allgemeinheit‘ bezogenes Handeln ebenso zu fassen, wie die normativen Strukturen gesellschaftlicher Organisationen.

Alfred Schütz (1899 - 1959) knüpft an Weber‘s Handlungstheorie an mit der Intention, die Konstitution von Sinn im Handeln durch sorgfältige phänomenologische Analysen zu erfassen. Er läßt sich hierbei von der Überzeugung leiten, daß es einer Theorie des sozialen Handelns bedarf, bei welcher durch ‚ phänomenologische Analyse der Sinnkonstitution im Handeln ‘ (Luckmann 1992) das ‚Sinn-Problem‘ gelöst werden könnte. Im ‚ sinnhaften Aufbau der sozialen Welt verfolgte er die Sinnkonstitution bis in die Tiefenschichten passiver Bewußtseinsleistungen in subjektiven Erlebnissen zurück ‘ (Luckmann 1992). In späteren Arbeiten (‚Strukturen der Lebenswelt‘) wandte sich Schütz immer mehr der Beschreibung des Handelns in der ‚ natürlichen Einstellung des vergesellschafteten täglichen Lebens ‘ (Luckmann 1992) zu. Er stirbt vor Vollendung einer systematischen Zusammenfassung seines Denkens und Forschens. Schütz‘ Gedanken und die Ergebnisse seiner phänomenologischen Handlungsanalysen wurden von Thomas Luckmann aufgegriffen und weitergeführt. Sie dienen als Grundlage für seine ‚Theorie des sozialen Handelns‘ - Teilaspekte dieser Handlungstheorie bilden die Grundlage der weiteren Ausführungen dieser Arbeit.

3. Phänomenologie

Zu einem näheren Verständnis dessen, wie Schütz das Weber’sche Theoriegerüst weiterentwickelt und wissenschaftstheoretisch begründet hat, ist eine Auseinadersetzung mit dem zugrundeliegenden Vorgehen, der Phänomenologie, unumgänglich.

3.1. Erläuterungen zum Begriff der Phänomenologie

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Phänomenologie kann nach ihrem Begründer, dem deutschen Philosophen Edmund Husserl (1859 -1938), als ‚ die Wissenschaft von den Wesenheiten der Gegenstände und Sachverhalte ‘ (Duden-Lexikon 1983) beschrieben werden. Sie versteht sich als ‚ von vorgefaßten Theorien freie Untersuchung der Phänomene, der Sachen selbst ‘ (Duden-Lexikon 1983) und widmet sich der Analyse von den Bewußtseinsstrukturen bzw. den Strukturen des bewußten Erlebens. Ausgangspunkt sind unterschiedliche Phänomene (Dinge, so wie sie sich dem Betrachter jeweils zeigen, was sie ihm bedeuten) sowie die Annahme, daß das ‚ menschliche Verhalten stärker von der Art des Erfassens von Erscheinungen bzw. von den Erfahrungen bestimmt ist als durch die physikalisch definierbare, äußere Wirklichkeit ‘ (Fröhlich 1978).

Husserls Phänomenologie wird als eine reine, streng philosophische Wissenschaft vom Bewußtsein, von einem ‚ Nichts, das auf etwas verweist ‘ (Luckmann 1992), verstanden. Gegenstand sind hierbei nicht reale Objekte, sondern die Gegenstände des Bewußtseins, beginnend mit ihren besonderen Erscheinungsweisen, jedoch in der Absicht, ihre allgemeine Struktur, ihr Wesen zu erfassen (vgl. Luckmann 1992, Abbildung 5).

Luckmann spricht in diesem Zusammenhang von Bewußtsein als einzig verfügbarem Zugang zur Wirklichkeit, das in etwas auftritt bzw. auf etwas anderes als auf sich selbst verweist und sich somit transzendiert. Als Grundcharakter des Bewußtseins begreift er seine Intentionalität. ‚ Phänomenologie macht keine direkten Aussagen zur Wirklichkeit, sondern beschreibt den Wirklichkeitsanspruch, mit dem die intentionalen Objekte im Bewußtsein auftreten. Ziel der Phänomenologie ist die genaue Beschreibung des Aufbaus von Bewußtseinsgegenständen in Bewußtseinsleistungen verschiedener Art‘ (Luckmann 1992).

3.2. Phänomenologische Analyse

Das Verfahren der Phänomenologie wird Konstitutionsanalyse genannt. Die bewußtseinsanalytische Phänomenologie bedient sich im Analyseprozeß der Methode des Ausschlusses und der ‚unsystematischen Annäherung‘ und setzt im Rückgriff auf die unmittelbare Erfahrung an einem Gegenstand an, der allem Denken und Philosophieren vorangeht. Hierbei verfährt sie nach dem Prinzip, von der besonderen Erscheinungsweise der Bewußtseinsgegenstände zu ihrer allgemeinen Struktur vorzudringen (vgl. Luckmann 1992). In der phänomenologischen Analyse wurde demzufolge eine Methode generiert, die durch Ausklammerung (=Reduktion) stufenweise reduziert, was sich im Bewußtsein konstituiert. Bildlich gesprochen ist dieses Vorgehen in der Phänomenologie auch vergleichbar mit dem Schälvorgang einer Zwiebel. Nach und nach wird durch Reduktion zum Kern des Bewußtseins vorgedrungen. Alles, was diesen Kern umgibt, muß hierbei schichtweise ausgeklammert werden.

Die Konstitutionsanalyse beginnt mit der Deskription der ‚Bewußtseinsgegenstände in der vollen Konkretheit ihrer besonderen Erscheinungsweise, so wie sie im empirischen Strom subjektiver Erlebnisse und Erfahrungen auftreten, also sozusagen unrein ‘ (Luckmann 1992). In einem weiteren Schritt der phänomenologischen Analyse müssen anschließend vorgefaßte Meinungen, Bewertungen und konkretes Wissen über die Welt und Wirklichkeit reduziert werden. Will man den Kern der ursprünglichen Bewußtseinsgegenstände herauskristallisieren, so Luckmann (1992), muß jegliches theoretische Wissen mythologischer, religiöser oder kausalwissenschaftlicher Art in einer ersten Reduktion stufenweise ausgeschlossen werden. All diese Aspekte dürfen in eine Beschreibung der Bewußtseinsgegenstände nicht mit einfließen. Ziel dieser stufenweise Ausklammerung ist letztendlich die Enthüllung des ‚ reinen Kerns intentionaler Objekte ‘ (Luckmann 1992).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Aron Gurwitsch (in: Luckmann 1992) unterscheidet in seiner Weiterentwicklung der Phänomenologie von Husserl zwischen ‚ einem thematischen Kern, welcher sich im Bewußtsein aktuell vorstellt, einem thematischen Feld, welches den Kern umgibt und aus für ihn relevanten und den aktuell vorhandenen Verweisungen und Sedimenten besteht, und einem offenen Horizont, in dem das thematische Feld steht ‘ (Luckmann 1992). In der phänomenologischen Analyse der Konstitution von Sinn im Handeln schreibt Schütz vor allem den thematischen ‚reinen‘ Kernen, die sich im Bewußtsein bilden, eine besondere Bedeutung zu. Sie stellen die Grundlage aller Sinnkonstitution dar (vgl. Abbildung 6).

4. Handeln als Wirklichkeitsveränderung und als Bewußtseinsleistung

Als allgemein menschliche Grunderfahrung bezeichnet Luckmann (1992) den Umstand, daß manches an der Wirklichkeit ‚ bleibt wie es ist, anderes sich von selbst verändert und einiges bleibt oder sich nur verändert, wenn wir etwas tun oder unterlassen ‘. Daraus läßt sich folgern, daß zur ‚Natur‘ des menschlichen Daseins ein Kernbestand aus unweigerlich Auferlegtem, das unveränderbar ist, und ein Bereich aus Verfügbarem, das unserem Wirken offen steht, zu rechnen ist.

4.1. Erleiden und Tun

Zum Zentrum des Unabänderlichen, das wir erleiden, können sicherlich unverrückbare zeitliche sowie räumliche Gegebenheiten gezählt werden, die sich menschlichem Einflußvermögen in der Regel entziehen. So ist es keinem Menschen möglich, den zeitlichen Ablauf seiner Erfahrungen nachträglich zu verändern: Den gestrigen Tag mit all seinen Erlebnissen vermag kein Mensch im Nachhinein zu beeinflussen. Ähnliche Erfahrungen machen Menschen mit den räumlichen Dimensionen. Gebunden an eine räumliche Verortung des Körpers ist es dem Menschen nicht möglich, gleichzeitig an unterschiedlichen Orten anwesend zu sein, mit Luckmann (1992) gesprochen: ‚ Sind wir hier, können wir nicht auch zugleich dort sein‘. Allein unserer Phantasie bleibt es vorbehalten, vom Fliegen aus eigener Kraft zu träumen oder wie die Fische im Wasser zu schwimmen.

Die Grenzbereiche des Unabänderlichen können jedoch von Gesellschaft zu Gesellschaft, innerhalb der Generationenfolge oder auch von Mensch zu Mensch variieren. Eine Verschiebung ließ sich beispielsweise durch die Entwicklung technischer Hilfsmittel (wie das Flugzeug oder U-Boot) oder medizinische Erkenntnisse in den letzten Jahrhunderten beobachten. Die Grenzen der Einflußmöglichkeiten hinsichtlich der auferlegten Wirklichkeit verändern sich natürlich nicht nur in geschichtlichen Zusammenhängen, sondern können bereits im Laufe eines Einzellebens je nach Alter und Gesundheitszustand ganz unterschiedlich ausgeprägt sein.

[...]

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Theorie des sozialen Handelns (Thomas Luckmann)
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg  (Institut für Pädagogik)
Veranstaltung
Seminar: Interaktionstheorien
Note
sehr gut
Autor
Jahr
1998
Seiten
43
Katalognummer
V3605
ISBN (eBook)
9783638122238
Dateigröße
833 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Theorie, Handelns, Luckmann), Seminar, Interaktionstheorien
Arbeit zitieren
Ulrike Roppelt (Autor:in), 1998, Theorie des sozialen Handelns (Thomas Luckmann), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/3605

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