Die Grundrechtecharta der Europäischen Union


Diplomarbeit, 2005

32 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhalt

Abkürzungen

1 Einführung

2 Die wachsende Bedeutung der Menschenrechte im Zuge des Fortschreitens der europäischen Integration
2.1 Von den Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Union
2.2 Die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza

3 Wozu braucht die EU eine eigene Grundrechtecharta
3.1 ... angesichts der Existenz der EMRK?
3.2 ... angesichts der Existenz der ESC?
3.3 Die rechtspolitischen Funktionen der Grundrechtecharta

4 Von Köln über Tampere bis nach Nizza: Die Entstehungsgeschichte der Grundrechtecharta
4.1 Ausarbeitung
4.2 Strittige Punkte

5 Struktur und Inhalt der Grundrechtecharta
5.1 Allgemeines
5.2 Kapitel I: „Würde des Menschen“
5.3 Kapitel II: „Freiheitsrechte“
5.4 Kapitel III: „Gleichheit“
5.5 Kapitel IV: „Solidarität“
5.6 Kapitel V: „Bürgerrechte“
5.7 Kapitel VI: „Justizielle Rechte“
5.8 Kapitel VII: „Allgemeine Bestimmungen“

6 Rechtsvergleichende Würdigung
6.1 Die liberalen Rechte der Grundrechtecharta im Vergleich zur EMRK
6.2 Die sozialen Rechte der Grundrechtecharta im Vergleich zur ESC

7 Der Geltungsbereich der Grundrechtecharta
7.1 Persönlicher sowie sachlicher Geltungsbereich
7.2 Unionsexterner Geltungsbereich: Das Verhältnis zur EMRK und zu den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten

8 Die (indirekte) Rechtswirkung der bis dato unverbindlichen Grundrechtecharta
8.1 Judikatur von EuGH, EuG und nationalen Gerichten zur Grundrechtecharta
8.2 Erwähnung der Grundrechtecharta an anderen Stellen

9 Die Grundrechtecharta als Bestandteil der zukünftigen Verfassung für Europa

10 Gesellschaftspolitische Aspekte

11 Fazit

Quellen

Abkürzungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einführung

Die im Jahr 2000 feierlich proklamierte und 2003 in die neue Verfassung inkorporierte Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRC) bildet den vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung, die 1689 mit der englischen „Bill of Rights“ ihren (bescheidenen) Ausgang genommen hat (vgl. Lang 2002:11f). Die darin enthaltenen beiden Grundrechtskategorien – Menschen- und Bürgerrechte – wurden, in Anlehnung an die 1776 verabschiedete „Virginia Bill of Rights“ und die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, in der französischen „Déclaration des Droits de l´Homme et du Citoyen“ 1789 vorbildlich ausgebaut. Als Geburtsstunde des humanitären Völkerrechts, einer Vertiefung des menschenrechtlichen Gedankens, gelten die kriegerischen Geschehnisse in Solferino 1859, die Henry Dunant zur Gründung des Roten Kreuzes bewegten; humanitäre Konventionen von Den Haag und Genf folgten später.

Den eigentlichen Wendepunkt im Menschenrechtsschutz stellte schließlich der Zweite Weltkrieg dar, im Anschluss dessen die Vereinten Nationen, der Europarat und die Europäischen Gemeinschaften geschaffen wurden. Im Rahmen der Vereinten Nationen nahmen die in der Generalversammlung vertretenen Staaten am 10. Dezember 1948 feierlich die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ an; verbindliche rechtliche Instrumente, nämlich die Pakte über zivile und politische Rechte bzw. über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, wurden erst 1966 von der Generalversammlung verabschiedet. Da engere politische, kulturelle und religiöse Bindungen die Konsensfindung auf regionaler Ebene vereinfachen, gelang dem Europarat bereits am 4. November 1950 die Annahme der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die sich unter anderem wegen der für alle Mitgliedsstaaten verbindlichen Strassburger Rechtssprechung zu einem äußerst effizienten Instrument entwickelt hat. Die durch den Paris-Vertrag 1951 und die Rom-Verträge 1957 gegründeten Europäischen Gemeinschaften waren zunächst vorwiegend um die wirtschaftliche Integration Europas bemüht; spätestens seit dem Maastricht-Vertrag über die Europäische Union spielt jedoch die politische Integration eine immer wichtigere Rolle.

Sichtbarstes Zeichen der sich beschleunigenden Entwicklung von der Wirtschaftsgemeinschaft über die politische Gemeinschaft bis zur Grundrechtsgemeinschaft auf europäischer Ebene ist die eingangs erwähnte GRC, die im Zuge dieser Seminararbeit ausführlich beleuchtet werden wird. Zuerst möchte ich aber in Kapitel 2 kursorisch die steigende Bedeutung der Menschenrechte im Prozess der europäischen Integration skizzieren, weil ich dies für das bessere Verständnis der GRC als bisherige „Krönung“ dieses Prozesses für wichtig halte. Im Anschluss sollen insbesondere folgende Fragestellungen Berücksichtigung finden:

- Kapitel 3: War eine eigene GRC für die EU wirklich notwendig? Hätte nicht ein Beitritt zur EMRK oder zur Europäischen Sozialcharta (ESC) genügt? Welche rechtspolitischen Funktionen erfüllt die GRC?

- Kapitel 4: Wie erfolgte die Ausarbeitung der GRC? Welche Punkte waren besonders strittig?

- Kapitel 5: Welche Rechte sind in der GRC enthalten, wie ist sie strukturiert?

- Kapitel 6: Wie verhalten sich die liberalen Grundrechte der GRC zur EMRK bzw. die in ihr enthaltenen sozialen Grundrechte zur ESC?

- Kapitel 7: Worauf erstrecken sich der persönliche bzw. sachliche sowie der unionsexterne Geltungsbereich der GRC?

- Kapitel 8: Welche (indirekten) Rechtswirkungen hat die (noch unverbindliche) GRC bisher gezeitigt?

- Kapitel 9: Worin bestehen die Konsequenzen der Inkorporierung der GRC in die künftige europäische Verfassung?

- Kapitel 10: Welche gesellschaftspolitischen Aspekte der GRC fallen ins Auge?

- Kapitel 11: Welches Gesamtzeugnis kann man der GRC ausstellen?

2 Die wachsende Bedeutung der Menschenrechte im Zuge des Fortschreitens der europäischen Integration

2.1 Von den Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Union

Ein Menschenrechtskatalog war weder explizit im Vertrag von Paris 1951 (EGKS) noch in den Verträgen von Rom 1957 (EWG und EAG) verankert (vgl. Nowak 2002:254). Erste Ansätze finden sich jedoch im Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen (Art 141, ex Art 119, EGV), im Verbot jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art 12, ex Art 6, EGV) und in der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art 39, ex Art 48, EGV). 1977 gaben das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission eine gemeinsame Grundrechtserklärung ab. 1986 nahm die Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte Bezug auf Demokratie und Menschenrechte. Drei Jahre später erfolgte seitens des Europäischen Parlaments eine Erklärung der Grundrechte und Grundfreiheiten, und im selben Jahr einigte man sich auf die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer.

Den Grund für die ursprünglich geringe Bedeutung, die den Menschenrechten durch die Europäischen Gemeinschaften beigemessen wurde, sieht Hummer (2002:17) in der Ersetzung des staatlichen „Gewaltenteilungsprinzips“ durch die verbandliche „Funktionenordnung“: Zwecks Sicherung des Individualrechtsschutzes gilt nur gewaltenteilend organisierte und mit Grundrechten ausgestattete Staatsgewalt als rechtsstaatlich; dagegen richteten sich die Ziele der Verbandsgewalt der Europäischen Gemeinschaften primär auf die Verwirklichung einer Zollunion, des gemeinsamen Marktes, des Binnenmarktes und der Wirtschafts- und Währungsunion.

Bei der Gründung der EGKS 1951 bedachte man eine mögliche Verletzung von Grundrechten nicht (vgl. Hummer 2002:24-28). Dagegen haben 1957 die Gründungsväter der EWG – auch wenn sie die Eingriffstiefe der Verbandsgewalt unterschätzt haben – diesen Aspekt wohl nicht übersehen können; vielmehr verzichteten sie aus anderen Gründen auf eine Einbeziehung von Grundrechten in die Verträge: Ein Grundrechtskatalog hätte erstens zu sehr an eine staatliche Verfassung erinnert, wodurch die wirtschaftliche Integration politisch belastet worden wäre. Ein Verweis auf die mitgliedsstaatlichen Grundrechte hätte zweitens die Fixierung eines unterschiedlichen Grundrechtsschutzniveaus zur Folge gehabt. Drittens waren soziale und wirtschaftliche Grundrechte noch umstrittener als heute. Schließlich glaubte man, die nationalen Verfassungsgerichte würden den Grundrechtsschutz für die Gemeinschaften ohnehin übernehmen – was sich aber angesichts der Judikatur des EuGH zur unmittelbaren Wirkung (1963) und zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts (1964) als falsch erwies. Eine große Zahl von Rechtsakten der Gemeinschaften war somit wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts einerseits der nationalen Grundrechtskontrolle entzogen, unterlag aber gleichzeitig wegen des nicht existenten Grundrechtskatalogs auch keiner internen Rechtmäßigkeitskontrolle durch die Gemeinschaften. Der EuGH zog aus seiner eigenen Judikatur erst ab der Rs Stauder (1969) die nötigen Konsequenzen und begann mit der judikativen Entwicklung eines Grundrechtsschutzes, demzufolge Grundrechte Teil der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts sind und auf den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten und den internationalen Verträgen beruhen. Zur Beschleunigung des gerichtlich entwickelten Grundrechtsschutzes trugen auch die nationalen Verfassungsgerichte bei, die Druck auf den EuGH ausübten (etwa das deutsche Bundesverfassungsgericht in der Rs Solange I). In den folgenden Jahrzehnten führte die Verdichtung des von EuGH und EuG entwickelten Bestands an Grundrechten zu einer solchen Unübersichtlichkeit und Komplexität, dass eine Systematisierung und Kodifizierung angebracht erschien. Zu den durch die Rechtssprechung entwickelten Rechten gehörten unter anderem die menschliche Würde, Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung, Vereinigungsfreiheit, Religionsfreiheit, Privatheit, Eigentum und Achtung des Familienlebens (vgl. Nowak 2002:257).

2.2 Die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza

Mit dem Vertrag von Maastricht über die Europäische Union (EUV) 1992 (1993) gewann der europäische Integrationsprozess an Tiefe (vgl. Nowak 2002:252-256): Die Präambel des EUV nimmt Bezug auf Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit. Art 6/2 (ex Art F/2) EUV betont, dass die Union die Grundrechte achtet, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Einen Schritt weiter geht der Vertrag von Amsterdam 1997 (1999): Der neue Abs 1 des Art 6 (ex Art F) EUV erklärt, dass die Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit beruht; diese Grundsätze seien allen Mitgliedsstaaten gemeinsam. Für den Fall einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der genannten Grundsätze sieht der neue Art 7 EUV die Aussetzung bestimmter Rechte eines Mitglieds vor. Für einen Beitritt zur EU macht eine neue Passage des Art 49 (ex Art O) EUV die Achtung der Grundsätze aus Art 6/1 (die jedoch de facto schon seit den politischen Kopenhagener Kriterien 1993 ein Beitrittskriterium darstellten) zur Bedingung. Art 46 EUV bejaht die Zuständigkeit des EuGH für Art 49. Der Vertrag von Nizza 2000 (2003) brachte nebst institutionellen Reformen im Licht der anstehenden EU-Osterweiterung eine Änderung des Art 7 EUV, wonach eine Aussetzung von Rechten bereits bei der eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Grundrechtsverletzung möglich ist.

Erwähnt sei abschließend, dass Menschenrechte in den letzten Jahren auch in den Außenbeziehungen der EU eine Bedeutungszunahme erfuhren, so in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, in der Entwicklungszusammenarbeit und in bilateralen Verträgen. Insofern wurde das Fehlen eines eigenen Grundrechtskatalogs bzw. einer konsistenten Menschenrechtspolitik nach innen zunehmend als Problem doppelter Standards wahrgenommen (vgl. Nowak 2002:253).

3 Wozu braucht die EU eine eigene Grundrechtecharta ...

3.1 ... angesichts der Existenz der EMRK?

Alle Unionsmitglieder haben die Europäische Menschenrechtskonvention des Europarates von 1950 ratifiziert. Diese enthält bürgerliche und politische Rechte, also Rechte der so genannten ersten Generation von Menschenrechten, die als Gesamtheit angenommen werden müssen und deren Einhaltung durch ein Beschwerdesystem vor einem permanenten und unabhängigen Gerichtshof, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg, überwacht wird.

Da die Staaten jedoch im Lauf der Jahre immer mehr Kompetenzen an die Europäischen Gemeinschaften abtraten, entstanden Rechtsschutzdefizite, die (wie bereits erwähnt) der EuGH durch seine Grundrechtsjudikatur partiell ausglich. Aufgrund deren Unübersichtlichkeit und Zerstreuung brachte die Kommission der Europäischen Gemeinschaften schon Ende der 1970er Jahre zwei Lösungsvorschläge ins Spiel: einerseits den Beitritt der Gemeinschaft(en) zur EMRK, andererseits die Ausarbeitung eines eigenen kodifizierten Grundrechtskatalogs (vgl. Hummer 2002:29-31). Die Kommission plädierte 1979 in einem Memorandum für den ersten Ansatz, dem sich auch das Europäische Parlament 1982 anschloss. Allerdings war aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht nicht geklärt, ob der E(W)G-Vertrag einen solchen Beitritt überhaupt zuließ. Als die Kommission 1990 dem Rat eine Mitteilung vorlegte mit dem Ziel, ein Verhandlungsmandat zur Festlegung der Bedingungen für einen Beitritt der EG zur EMRK zu erhalten, stellte der Rat 1994 einen Gutachtenantrag an den EuGH. Dieser verneinte in seinem Gutachten 2/94 vom 28. März 1996 eine Zuständigkeit der EG für einen Beitritt zur EMRK.

Die Entscheidung des EuGH fiel wohl auch wegen der problematischen rechtlichen Konsequenzen eines Beitritts der EG zur EMRK negativ aus: Indem nämlich die EMRK gemäß Art 300/7 EGV Bestandteil des Gemeinschaftsrechts geworden wäre, hätte der EuGH die Rechte eigenständig, jenseits der Interpretationspraxis des EGMR, auslegen müssen. Auch bezüglich der Rangfrage hätte sich durch den Beitritt ein Problem ergeben, da die EMRK gemäß Art 300/7 EGV einen Zwischenrang zwischen Primär- und Sekundärrecht eingenommen hätte; via allgemeine Rechtsgrundsätze der Mitgliedstaaten stand sie aber mit dem Primärrecht auf derselben Stufe.

Eine Novellierung des EGV wäre also für den Beitritt der EG zur EMRK erforderlich gewesen; dazu fehlte aber die Bereitschaft im Zuge der Ausarbeitung des Vertrags von Amsterdam. Stattdessen forderten immer mehr teils offiziöse, teils wissenschaftlich-private Stimmen die Ausarbeitung eines eigenen Verfassungs- bzw. Grundrechtsdokuments. Vor allem das Europäische Parlament hatte schon seit den 1980er Jahren einige konkrete Vorschläge zu Grundrechtskatalogen, teils im Rahmen von Verfassungsentwürfen, teils isoliert, vorgelegt, darunter beispielsweise den „Luster-Pfennig“-Entwurf 1983, den „Spinelli“-Entwurf 1984 oder den „Herman“-Entwurf 1994. Warum dauerte es mit der Realisierung eines Grundrechtsdokuments jedoch bis Ende der 1990er Jahre? Die Antwort liegt in der Angst einiger europäischer Staaten, allen voran Großbritanniens und der skandinavischen Länder, vor der immanenten Verknüpfung der Ausarbeitung eines Grundrechtskatalogs mit der Verfassungsdebatte. Aus diesem Grund galt ein solches Dokument von vornherein als politisch nicht konsentierbar (vgl. Hummer 2002:32-36).

3.2 ... angesichts der Existenz der ESC?

Die Europäische Sozialcharta des Europarates von 1961, die durch mehrere Zusatzprotokolle ergänzt wurde und von der eine revidierte Fassung 1999 in Kraft getreten ist, gilt als die „kleine Schwester“ der EMRK, was mit dem geringeren Stellenwert der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, der so genannten zweiten Generation von Menschenrechten, zu tun hat. Die in ihr enthaltenen Rechte sind weniger verbindlich formuliert und können zudem von den Vertragsstaaten „à la carte“ („opting-in-System“) ratifiziert werden; die internationale Überwachung erfolgt durch ein Berichtssystem und ein Kollektivbeschwerdesystem mit dem Ministerkomitee als zuständigem Organ. Erst knapp zwei Drittel der Europaratsstaaten haben die ESC bzw. ihre revidierte Fassung ratifiziert (vgl. Nowak 2002:189).

Die Europäischen Gemeinschaften bzw. die EU selbst sind nicht Vertragspartei der ESC.[1] Jedoch bezogen sich die Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft schon in der Präambel zur Einheitlichen Europäischen Akte 1987 auf die in der Sozialcharta anerkannten Grundrechte, insbesondere Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit, um ihr Bekenntnis dazu zu bekräftigen. Auch der EuGH nahm schon einige Male auf die ESC Bezug; er zieht sie als Rechtserkenntnisquelle bei der Aufstellung allgemeiner Grundsätze des Gemeinschaftsrechts heran. Das Europäische Parlament befürwortete stets einen Beitritt der EG bzw. der EU zur ESC. Allerdings sprach sich der EuGH in seinem Gutachten 2/94 vom 28. März 1996 dagegen aus, weil der EG dazu eine Rechtsgrundlage fehlt.

Mit der Aufnahme der GRC in die Verfassung der EU ist ein zukünftiger Beitritt der EU zur EMRK bzw. zur ESC noch unwahrscheinlicher geworden. Dennoch wird offiziell die Auffassung vertreten, dass zusätzlich ein Beitritt zumindest zur EMRK wünschenswert ist. So lautet Art 7/2 im Titel II des Verfassungsentwurfs: „Die Union strebt den Beitritt zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten an.“

3.3 Die rechtspolitischen Funktionen der Grundrechtecharta

Die GRC erfüllt laut Hummer (2002:69f) folgende politische Funktionen:

- Die Einzelnen können sich leichter auf ihre Rechte berufen, wodurch sie sich direkter mit dem Rechtssystem identifizieren.
- Die Verbandsgewalt wird legitimiert und die Demokratie gestärkt.
- Die EU wächst über den Status einer reinen Wirtschafts- und Währungsunion hinaus und erhält einen Wertekanon.
- Die GRC kann als Basis einer europäischen Verfassung dienen.
- Im Gegensatz zum schwer auffindbaren Richterrecht macht die Charta die Rechte transparent.
- Die Charta entfaltet Symbolwirkung nach außen und stärkt die Identität nach innen.
- Lückenschließung wird durch die GRC erleichtert.
- Die GRC erhöht die Rechtssicherheit.
- Sie kann als Maßstab für den Einsatz des Sanktionsverfahrens gemäß Art 7 EUV dienen.

Das meiner Ansicht nach wichtigste Argument ist das des dringenden Legitimationsbedarfs der EU. Immer mehr Lebensbereiche werden von Brüssel aus reguliert, Problemlösungen werden „hochgezont“. Hohmann (2000:3) konstatiert, dass die „bisherigen ökonomisch geprägten Legitimationsmodelle (die Gemeinschaft als bloße Vereinigung von an Handelsliberalisierung interessierten Marktbürgern) aufgrund der enormen Dynamik der Binnenmarktkonzeption versagen mussten und versagt haben.“ Legitimation könne heute vielmehr durch Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte, Sicherheit, Demokratie und Föderalismus/Subsidiarität gewährleistet werden.

[...]


[1] Quelle: http://www.europarl.eu.int/workingpapers/soci/104/teil2_de.htm (18. Dezember 2004)

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Die Grundrechtecharta der Europäischen Union
Hochschule
Universität Wien  (Staats- und Verwaltungsrecht)
Veranstaltung
SE EU und Menschenrechte - neueste Entwicklungen
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2005
Seiten
32
Katalognummer
V35918
ISBN (eBook)
9783638356954
ISBN (Buch)
9783638683043
Dateigröße
506 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Grundrechtecharta, Europäischen, Union, Menschenrechte, Entwicklungen
Arbeit zitieren
MMag. M.A. Gisela Spreitzhofer (Autor:in), 2005, Die Grundrechtecharta der Europäischen Union, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/35918

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