Evgenij Griškovecs Erzählung "Reki". Eine fachdidaktische Auseinandersetzung


Hausarbeit, 2016

34 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Einleitung

1. Textauswahl
1.1 Angemessenheit des Sprachniveaus
1.2 Angemessenheit der Form
1.3 Angemessenheit des Inhalts

2. Sachanalyse

3. Fachinhaltliche Schwerpunktsetzung
3.1 Reduktionsentscheidungen
3.2 Didaktische Begründung
3.2.1 Exemplarische Bedeutung
3.2.2 Gegenwartsbedeutung
3.2.3 Zukunftsbedeutung
3.3 Lernziele

4. Aufgabenstellungen

5. Fazit

6. Literatur

7. Anhang
A: Originaltext
B: Arbeitsblatt (mit formulierten Arbeitsaufträgen)
C: Lösungsblatt (mit antizipierten Schülerantworten)

0. Einleitung

„Da verselbstständigt sich doch die Methode!“ (Haas/Menzel/Spinner 1994, S. 24). So lautet einer der Vorwürfe, der sich gegen den handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht richtet. Dieser Vorwurf sollte sich aber meines Erachtens nicht allein gegen diesen richten, sondern in allen Bereichen des Lesens, nicht nur im herkömmlichen, sondern auch im Fremdsprachenunterricht zur Kenntnis genommen werden. Der Schulalltag ist nämlich nicht selten durch solche Situationen geprägt, die das eigentliche Ziel des Literaturunterrichts verfehlen. So steht z. B. das Trainieren einer Lesestrategie, das eigentlich den Leseprozess strukturieren und dadurch das Textverständnis erleichtern bzw. vertiefen sollte (Vgl. Wapenhans 2014, S. 126), öfters im Vordergrund, wobei das Besondere des Textes – sein Inhalt, seine Sprache, seine Struktur usw. – vernachlässigt werden.

Wie kann man nun das Verselbständigen einer Methode im fremdsprachlichen Literaturunterricht vermeiden? Eine der gängigen und plausibelsten Möglichkeiten, der auch in der vorliegenden Arbeit nachgegangen wird, ist das Ausgehen vom jeweiligen Textgegenstand. Mit anderen Worten wird allein der Text zum Ausgangspunkt der Planung bzw. der Arbeit gemacht. Es wird also nicht der Frage nach der Passung des zu vermittelnden Stoffes zu einer im Voraus ausgewählten Methode, Ziel etc., sondern nach dem Potenzial des Textes und den damit verbundenen möglichen Lernzielen nachgegangen. Um an einen Textgegenstand so unvoreingenommen wie möglich heranzutreten, wurde der hier vorliegende Textauszug aus Evgenij Griškovets[1] Geschichte „Reki“ eher zufällig ausgewählt, d.h. die Auswahl des literarischen Textes fand ohne die Berücksichtigung der üblichen Einflussfaktoren der Textauswahl wie die Berücksichtigung der Gruppendynamik, der Lernvoraussetzungen einer Gruppe, der Zeitvorgaben, der räumlichen Voraussetzungen, Lernzielen usw. statt. Die Eignung des Textes zum Einsatz im Fremdsprachen- bzw. Russisch als Fremdsprachenunterricht wird dementsprechend ausschließlich anhand der Textspezifik belegt bzw. widerlegt.

Um dieses Ziel zu erreichen, müssen mehre Unterfragen schrittweise geklärt werden. Als erstes wird die Textauswahl begründet, die den Einsatzbereich bzw. die entsprechende Niveaustufe des ausgewählten Textes mittels der Auswahlkriterien bestimmen soll. Als nächstes wird eine umfangreiche Gegenstands- bzw. Sachanalyse durchgeführt, die das Erfassen möglichst vieler Lernanhaltspunkte des Textes gewährleisten und dadurch die Eignung des Textes bereits an dieser Stelle bestätigen sollte. Um aber den Einsatz des Textes in einer tatsächlichen Lernsituation begründen zu können, müssten zusätzlich konkrete Lernziele formuliert werden. Diese werden wiederum aus der fachinhaltlichen Schwerpunktsetzung abgeleitet, die ihrerseits mittels der Reduktionsentscheidungen und der didaktischen Begründung aus der Sachanalyse deduziert wird. Schließlich werden die abgeleiteten Lernziele in konkrete Aufgabenstellungen transformiert. Die Verknüpfung der Aufgaben mit den jeweiligen Methoden sowie die Intention jeder einzelnen Aufgabe werden ebenso begründet.

1. Textauswahl

Die Selektion der literarischen Texte wird, wie eingangs betont, im Normalfall von vielen Faktoren beeinflusst. Die Lehrkraft wählt eben die Texte aus, die ihrer Meinung nach den Lernzielen des Unterrichts, den Lernvoraussetzungen der Schüler und den von ihr vorgesehen Lernsituationen entsprechen könnten. Da das Ziel dieser Arbeit aber die Ableitung der Lernziele ausgehend von der Analyse des Gegenstandes vorsieht, werden an dieser Stelle nur die Ermittlung der Sprachniveaustufe und die damit verbundenen Anforderungen an den Text im Vordergrund stehen. Es werden also folgende Fragen an den Text gestellt: Welchem Sprachniveau entspricht der Text? Würde er die Interessen und die Emotionen der Schüler auf dieser Niveaustufe ansprechen? Würde er die Schüler zum (weiteren) Nachdenken bewegen? Und schließlich, weil es sich bei den hier ausgewählten Text um einen Textauszug handelt, sollen die Fragen auch an die Textform gestellt werden: Ist der Textumfang bezüglich dieser Niveaustufe angemessen? Kann der Textauszug für sich alleine stehen?

Aus all diesen Fragen lassen sich folgende drei Kriterien der Textauswahl ableiten, die keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit erheben, aber im Hinblick auf das Ziel der Arbeit durchaus ausreichend sind: Angemessenheit des Sprachniveaus, der Form und des Inhalt des Textes.

1.1 Angemessenheit des Sprachniveaus

Es lässt sich wohl nicht leugnen, dass die Bestimmung der sprachlichen Angemessenheit eines Textes vielmehr als eine Einschätzung und weniger als eine Gewissheit zu verstehen ist. Objektiv gesehen hat man als Lehrperson zwar Orientierungskriterien, die z. B. im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GeRS) in Form von Globalskalen bzw. Raster der Referenzniveaus oder in den Rahmenlehrplänen für Russisch als Fremdsprache (RLP) in Form von Kompetenzbeschreibungen aufgeführt sind. Diese werden aber je nach Lehrkraft individuell interpretiert und umgesetzt. Dazu kommt noch, dass das Verstehen der „literarische[n] zeitgenössische[n] Prosatexte“ (Vgl. GeRS, Tabelle 2) im GeRS erst auf der Niveaustufe B2, also auf dem Abiturniveau auftaucht. Im RLP der Sekundarstufe 2 wird dieser Aspekt etwas erweitert. Da spricht man vom Verstehen der fiktionalen Texte, „wenn diese im Wesentlichen in Standardsprache verfasst sind und überwiegend Themen aus vertrauten Sachgebieten behandeln“ (RLP Sek II 2006, S. VII). Es bedeutet aber natürlich nicht, dass die Schüler[2] in einer Fremdsprache gar keine literarischen Texte bis in das Abitur lesen sollen. So spricht man im Zusammenhang mit erweiterten Standards auch im RLP für Sekundarstufe 1, also auf der Niveaustufe B1/B1+ vom Verstehen der fiktionalen Texte, wenn diese ebenfalls „im Wesentlichen in Standardsprache verfasst sind und überwiegend Themen aus vertrauten Sachgebieten behandeln“ (RLP Sek I 2006, S. 18). Demnach kann der Text Ende der 10. oder Anfang der 11. Klasse eingesetzt werden. Um das Ganze noch präziser einordnen zu können, müssen noch die sprachlichen, strukturellen und inhaltlichen Textmerkmale genauer betrachtet werden (Vgl. Löschmann/Schröder 1988, S. 25ff.). An dieser Stelle werden zunächst die sprachlichen bzw. grammatisch-lexikalischen Textmerkmale betrachtet. Darunter sind die Nähe oder Abweichung von der Standardsprache, die Relation zwischen unbekannten und bekannten Wörtern, die Satzlänge, die Konventionalität oder Originalität des Stils usw. zu verstehen (Vgl. ebd., S. 27f.).

In Bezug auf die Textspezifik können zunächst zwei Aspekte der Lexikverwendung hervorgehoben werden. Erstens kommt der Text einer gesprochenen Sprache sehr nahe. Dementsprechend wird sehr oft auf die von der Standartsprache abweichende umgangssprachliche Lexik zurückgegriffen. Dies macht sich insbesondere bei der Verwendung der Verben bemerkbar: „лазать по фруктовым деревьям“ (Anhang: A, Z. 17), „гонять на велосипедах“ (Ebd., Z. 18.), „натаскать из садов“ (Ebd., Z. 21), „стащить баклажаны“ (Ebd., Zz. 24f.) usw. Zweitens ist der Text durch das Eröffnen zweier Gegenpole von Sibiriern und Nichtsibiriern gekennzeichnet, sodass der Norden bzw. Sibirien und der Süden zu den Diskursbegriffen des Textes werden. Folgende Begriffe werden dabei im Zusammenhang mit Sibirien eingeführt: „из Сибири“ (Ebd., Zz. 2f.), „от сибиряка“ (Ebd., Z. 5), „Сибирскому ордену“ (Ebd., Z. 14), „Уважали за Сибирь“ (Ebd., Z. 45). Diese Begriffe stehen im Zusammenhang mit Süden: „южные люди“ (Ebd., Z. 2), „южанам“ (Ebd., Z. 15), „южной беспечности“ (Ebd., Z. 43) usw.

Neben den textspezifischen lexikalischen Schwierigkeiten hält der ausgewählte Textauszug allgemeine für den Fremdsprachenlerner komplexe Lexik bereit. Dabei sind expressive und für die literarische Texte typische Adverbien oder Adjektive wie „с почтением спрашивали“ (Ebd., Z. 3), „неведомыми южанам“ (Ebd., Z. 15), „неразменной монетой“ (Ebd., Z. 44) anzuführen. Darüber hinaus greift der Text oftmals auf die Substantive, die aus dem den Schülern nicht bekannten Bezugssystem stammen, zurück: „рыбоконсервный комбинат“ (Ebd., Z. 28), „гильзы“ (Ebd., Z. 35), „маяк“ (Ebd., Z. 40) usw. Hinzu kommt noch die zwar eher seltene aber dennoch vorhandene Verwendung der Partizipien („приобщенным“ (Ebd., Z. 13), „спаянному“ (Ebd. Z. 15), „собранную“ (Ebd., Z. 20)) und Adverbialpartizipien („узнав“ (Ebd., Z. 2)). Im Idealfall sollten diese auf der Niveaustufe B1 nur rezeptiv als solche erkannt und erst auf der Niveaustufe B2 produktiv verwendet werden.

Zusätzliche Schwierigkeiten bringt die durchaus häufige Verwendung der langen Sätze mit sich. Diese ist mit der Imitation der Mündlichkeit verbunden, sodass der Schwierigkeitsgrad dadurch noch mehr erhöht wird. Insbesondere sind dabei die für die Mündlichkeit typischen Stolper bzw. Satzbetonungen hervorzuheben, die nicht nur den Fremdsprachenlerner, sondern auch den Muttersprachler zum wiederholten Lesen anhalten. So wird z. B. das Wegwerfen der Auberginen durch eine rhetorische Frage begründet, die durch die Konjunktion „потому что“ eingeführt wird: „Баклажаны потом выбрасывали, потому что, а как их было есть?“ (Ebd., 23f.). Somit hat man mehrere Betonungspunkte im Satz, da der Aussagesatz, die eingeschobene Konjunktion und schließlich der Fragesatz individuell und unterschiedlich stark betont werden müssen. Dies kann aber nur dann berücksichtigt werden, wenn man die Satzbedeutung verstanden hat und die mündliche Satzbetonung sehr gut beherrscht.

1.2 Angemessenheit der Form

Bei der Arbeit mit einem literarischen Textauszug ist in erster Linie die Abgeschlossenheit des Auszugs zu beachten. So muss der ausgewählte Text einen klaren Anfang und ein eindeutiges Ende haben. Der Anfang des Auszuges ist durch eine Fragestellung markiert: „Но только мне было непонятно, как это может быть не холодно зимой?“ (Ebd., Z1). Diese scheint zunächst wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Da aber das Aufkommen dieser Frage im weiteren Textverlauf erläutert wird, bildet sie einen eindeutigen Ausgangspunkt und damit einen klaren Anfang des Auszuges. Darüber hinaus wird durch diese Fragestellung der Kontrast zwischen den Sibiriern und Nichtsibiriern eröffnet, der den ganzen Text bestimmt. Das Zusammenfassen des Hauptunterschieds zwischen den beiden Gegenpolen in Form von südlicher Sorglosigkeit und sibirischer Wachsamkeit (Vgl. ebd., Z. 43ff.) bildet schließlich das Ende des Textes. Damit wirkt der Auszug klar in sich abgeschlossen.

Abgesehen von der Abgeschlossenheit des Auszugs spielt auch der Auszugsumfang eine entscheidende Rolle. Um die Schüler auf dieser Niveaustufe dahingehend zu unterstützen, mit dem Textumfang der bevorstehenden Abiturprüfung vertraut zu sein, scheint mir in diesem Zusammenhang die Orientierung an die Vorgaben der Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung im Fach Russisch (EPA) am logischsten zu sein. Für die schriftliche Prüfung wird die Textvorlagenlänge im Leistungskursfach zwischen 400 und 900, im Grundkursfach zwischen 350 und 700 Wörtern vorgesehen (Vgl. EPA 2004, S. 14). Demnach liegt der Textumfang des ausgewählten Textes mit 456 Wörtern genau in dem vorgesehenen Bereich der Oberstufe.

Als letzten Punkt sollen die strukturellen Textmerkmale genauer betrachtet werden. Dabei werden solche Aspekte der Textstruktur wie die Komplexität des Aufbaus, die Anzahl der Handlungsstränge, der Grad der Explizitheit usw. (Vgl. Löschmann/Schröder 1988, S. 26 f.) analysiert. In diesem Sinne weist der Text eine klare, aufeinanderfolgende und explizite Struktur auf, die eher durch eine geringe Anzahl an Handlungssträngen gekennzeichnet ist.

1.3 Angemessenheit des Inhalts

Hinsichtlich der inhaltlichen Angemessenheit der literarischen Texte wird von den meisten Autoren in erster Linie der Bezug zu der Lebenswelt der Schüler genannt (Vgl. dazu Bredella/Burwitz-Melzer 2004, Fehrmann 2001, Löschmann/Schröder 1988). In diesem Zusammenhang mag der Text zunächst als unpassend erscheinen, da das Bezugssystem, in dem sich der Hauptprotagonist bewegt, den Schülern aus dem deutschsprachigen Raum bzw. einer Großstadt in der Regel unbekannt ist. Nichtsdestotrotz schafft der Text einen Bezug zu der Lebenswelt der Schüler, da er in erster Linie von einer Heimat handelt. Mehr noch geht es dabei um unterschiedliche Heimatsorte, die etwas mit demjenigen machen, der dort aufwächst. Insbesondere in Berlin, der sogenannten Multikulti-Stadt, wo man mittlerweile in jeder Klasse auf unterschiedliche Kulturen, Mentalitäten usw. trifft, kann der Inhalt des Textes meines Erachtens nicht treffender gewählt werden.

Man kann sich in diesem Aspekt auch an die Themenbereiche des GeRS und die Inhalte des Rahmenlehrplans für die Sekundarstufe 1 oder 2 orientieren, zumal der Textinhalt den Vorschlägen der Dokumente entspricht. Im Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe 2 wird der entsprechende Themenbereich als „Russland erleben/ Узнать и понять Россию“ (RLP Sek II 2006, S. VIII) bezeichnet. Dabei sollen sich die Schüler „[a]usgehend von ihrer eigenen Lebenswelt […] mit der Realität junger Menschen in Russland [beschäftigen]“ (Ebd.). Dies soll wiederum zur Schärfung des Verständnisses „für Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie deren Zusammenhang mit den jeweiligen soziokulturellen Bedingungen“ (Ebd.) beitragen.

Ein weiterer, für mich persönlich sehr wichtiger Punkt ist die Aktualität des Textes. Einerseits kann die Tatsache, dass diese Texte aktuell in Russland gelesen werden, demnach also authentisch sind, die Motivation der Schüler steigern. Andererseits werden im Russischunterricht nicht selten noch die Werke gelesen, die in der russischen Gesellschaft nicht mehr diskutiert werden. Warum also nicht mit der Zeit gehen und eben die Literatur lesen, die auch die russische Gesellschaft bzw. die Gleichaltrigen bewegt?

Zusammenfassend für das gesamte Kapitel soll festgehalten werden, dass der vorliegende Textauszug der Niveaustufe B1+ entspricht, der sowohl Ende der 10. als auch Anfang der 11. Klasse eingesetzt werden kann. Aufgrund der sprachlichen, strukturellen und inhaltlichen Merkmale wird in dieser Arbeit der Einsatz in der 11. Klasse vorgesehen. Diese Entscheidung ist größtenteils auf die sprachlichen Schwierigkeiten des Textes, also die Verwendung der umgangssprachlichen, themenspezifischen Lexik sowie der Partizipien und Adverbialpartizipien zurückzuführen. Diese Einordnung hat sich zudem auf der strukturellen Ebene durch den Textumfang, der zwischen 350 und 700 (Grundkurs) bzw. 400 und 700 (Leistungskurs) Wörtern liegt, sowie auf der inhaltlichen Ebene durch den Bezug zu den Themenbereichen des Rahmenlehrplans für die Sekundarstufe 2 bestätigt.

2. Sachanalyse

Nachdem die Sprachniveaustufe und der Einsatzbereich des Textes geklärt wurden, soll nun vertieft auf die Spezifik des Textes eingegangen werden. Mit anderen Worten wird in diesem Kapitel der folgenden Frage nachgegangen: Was kann der Text, was die anderen nicht können? Die Analyse des Gegenstandes bzw. die Sachanalyse kann dabei auf verschiedenen Ebenen durchgeführt werden. Hinsichtlich eines literarischen Textes kann man sich allgemein auf die eigenen Eindrücke, auf die Interpretationen der anderen, auf den geschichtlichen Aspekt des Textes und/oder auf die biographischen Angaben zum Autor konzentrieren (Vgl. Abraham et. al. 2007, S. 281). In Bezug auf den Fremdsprachenunterricht kann der Text auf das Spracherwerbspotenzial untersucht werden, d.h. auf den möglichen Beitrag zur Schulung der Teilkompetenzen wie der Aussprache, der Grammatik, des Wortschatzes oder des landeskundlichen Wissens. Da eine Sachanalyse nicht nur eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, im Unterricht didaktische Schwerpunkte zu setzen, sondern einer Lehrkraft zusätzlich helfen solle, auf möglichst viele Lernsituation vorbereitet zu sein (Vgl. Kämper-van den Boogaart 2014, S. 285f.), werden in folgender Analyse sowohl literarische, als auch fremdsprachliche Aspekte der Sachanalyse berücksichtigt.

Im Zusammenhang mit der Geschichte „Reki“ kann der Autor Evgenij Griškovec nicht unerwähnt bleiben. Erstens kann er wegen seiner Vielschichtigkeit nicht ignoriert werden, Griškovec ist nämlich nicht nur ein Autor, sondern auch ein Dramatiker, Theater-Regisseur, Schauspieler und Sänger (Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Jewgeni_Walerjewitsch_Grischkowez). Zweitens spricht der Erfolg, der in allen Schaffensbereichen des Autors zu verbuchen ist, für sich (Vgl. ebd.). Dies macht Griškovec, drittens, zu einer bedeutenden Persönlichkeit des zeitgenössischen Russlands und legitimiert gleichzeitig das Behandeln dieser im Russisch als Fremdsprachenunterricht. Im RLP der Sek II wird dieser Aspekt im Zusammenhang mit möglichen Inhalten des Unterrichts, genauer unter dem Punkt 4.2 Nationale und kulturelle Identität angeführt (Vgl. RLP Sek II 2006, S. 20). Viel interessanter in Bezug auf den konkreten Autor ist aber die Tatsache, dass Griškovec ein Onlinetagebuch führt, das einen Zugriff nicht nur auf seine derzeitigen Künstlertätigkeiten, sondern auch auf jegliche Werke ermöglicht. Diese können online gelesen, gehört oder gesehen werden. So liegt unter anderem auch die Geschichte „Reki“ als Hörbuch vor, das vom Autor selber vorgelesen wird. Dadurch bekommen die Schüler die Möglichkeit, sich individuell, wiederholt und dadurch intensiv nicht nur mit der Geschichte, sondern auch mit dem Autor selber – seiner Art zu schreiben, seiner Art zu sprechen und seiner Art auf der Bühne aufzutreten –, auseinanderzusetzen.

Als nächstes soll das inhaltliche Potenzial des ausgewählten Textauszuges diskutiert werden. Fokke Joel bezeichnet in seinem Artikel „Jewgenij Grischkowez. Eine Pelzmütze namens Heimat“ „Reki“ als „eine sanfte Geschichte des Fortgehens und Wiederkommens“, die von einem aus Sibirien weggegangenen fiktiven Autor erzählt wird. Diese beschränkt sich ausschließlich auf die eigenen Erfahrungen des Hauptprotogonisten, die größtenteils von seiner Kindheit und Jugend erzählen. Dabei versucht der Hauptprotagonist die Antworten auf folgende Fragen zu finden: Was ist Sibirien überhaupt? Was macht einen Sibirier aus? Ist er selber noch ein Sibirier? Damit setzt sich der Hauptprotagonisten gleichzeitig mit dem Dilemma der eigenen Identität auseinander. Während seiner Suche hebt der fiktive Autor solche Eigenschaften Sibiriens wie Kälte, Größe, Entfernung und Geschichtslosigkeit hervor (Vgl. Joel). Die Kälte spielt auch im ausgewählten Textauszug, der über die Sommerferien im Süden Russlands handelt, eine große Rolle, wobei sie hier eher im Zusammenhang mit der Definition eines Sibiriers steht:

Когда мы ездили летом к морю, южные люди, дети и взрослые, узнав, что я из Сибири, с почтением спрашивали меня: «Ой, у вас там, наверное, очень холодно зимой?» Сначала я честно говорил, что не холодно, а нормально, а потом понял, что от сибиряка нужен обязательный ответ: «Холодно!» (Anhang: A, Zz. 2ff.)

Für einen Sibirier ist die sibirische Kälte also nichts Besonderes bzw. normal. Für einen Nichtsibirier ist sie etwas Außergewöhnliches, ja sogar Faszinierendes: „Мне приятно было видеть, какое впечатление и ужас расширяли глаза моих юных слушателей. -35С° для них были невероятной температурой“ (Ebd., Zz. 11f.). Diese Dichotomie von Sibiriern und Nichtsibiriern bestimmt und strukturiert den kompletten Textauszug. Dabei werden die Charaktereigenschaften sowohl der Sibirier, als auch der Nichtsibirier ausschließlich aus den vorherrschenden Wetterbedingungen bzw. geographischen Gegebenheiten des Geburts- und Aufwachsortes abgeleitet. So fühlte sich der Hauptprotagonist aufgrund seines Heimatortes im Vergleich zu seinen Freuden aus dem Süden als abgehärtet, stark und erfahren: „Я чувствовал себя закаленным, сильным, опытным, а главное, приобщенным к какому-то великому братству, некоему благородному Сибирскому ордену, спаянному неведомыми южанам морозами, снегами и льдами“ (Ebd., Zz. 12ff.). Im Gegenteil dazu wurden die Nichtsibirier vom Hauptprotagonisten als viel flinker, sorgloser und eifriger als er selber wahrgenommen:

Южные ребята гораздо проворнее меня лазали по фруктовым деревьям, скакали через заборы, плавали на лодках, гоняли на велосипедах, и бегали босиком по горячему песку и асфальту. В них было гораздо больше беспечности, какого-то летнего азарта (Ebd., Zz. 17ff.)

Auf diese ungezwungene und leichte Art der Kindheitsbeschreibung macht der Hauptprotagonist den Leser aber auf drei meines Erachtens sehr wichtige und durchaus komplexe Aspekte der eigenen Identifizierung aufmerksam. Erstens definiert man sich selber bewusst oder unbewusst über die Heimat bzw. die geographischen Gegebenheiten der Heimat, die mal mehr und mal weniger aber stets einen Einfluss auf die Persönlichkeitsbildung haben. Ausgehend von diesem Aspekt werden im Gegenzug einer unbekannten Person, zweitens, öfters die Eigenschaften zugeschrieben, die man ebenfalls ihrem Heimatort zuteilt (Stereotypen). Mehr noch sind in der Regel diese Stereotypen und nicht die jeweilige Charakterausprägung für die anfängliche Anerkennung bzw. Nichtanerkennung der unbekannten Person ausschlaggebend. So wird auch der Hauptprotagonist in erster Linie aufgrund seines Heimatortes und der dort vorherrschenden ‚extremen‘ Wetterbedingungen anerkannt: „Но мои морозы в моем родном городе, мои льды и снега оставались при мне неразменной монетой. Меня уважали. Уважали за Сибирь“ (Anhang: A, Zz. 43 ff.). Dies führt schlussendlich zum letzten Aspekt der eigenen Identifizierung: Die eigene Identität wird auch über die Anderen definiert. Einerseits spielt dabei das Anderssein des Gegenübers, das durch den Kontrast zum Verstehen des eigenen Ichs verhilft, eine bedeutende Rolle. Andererseits wird die eigene Identifizierung über die Anerkennung der Anderen definiert. Obwohl also Griškovetcs Schreibstil von vielen Rezensenten aufgrund seiner angeblichen Trivialität kritisiert wird – Vladimir Itkin vergleicht ihn z. B. mit dem Herauspicken einzig der besten Realitätsstücke (Vgl. Itkin 2005)[3] –, konnte meines Erachtens durch die obigen Ausführungen das Gegenteil bewiesen werden. Darüber hinaus ist die auf den ersten Blick scheinbare Leichtigkeit der Lektüre der Grund dafür, dass man sich so schnell mit dem Hauptprotagonisten identifiziert und sich gleich wie er intensiv mit dem gar nicht einfachen Thema der Identität auseinandersetzt. Dies wird zusätzlich durch die Lückenhaftigkeit des Textes verstärkt. Marina Abaševa begründet diese nämlich folgendermaßen:

[...]


[1] Bei der Transliteration des Kyrillischen wird in dieser Arbeit auf die Kodeks-ISO-Transliterationstabellen zurückgegriffen, die den aktuellen wissenschaftlichen Normen der Transliteration des Kyrillischen entspricht (Vgl. Kempgen).

[2] Aus Gründer der Ökonomie wird durchgängig die maskuline Form benutzt.

[3] Dies ist keine wörtliche Übersetzung, sondern eine Wiedergabe der Aussagebedeutung von Itkin. Das Original lautet folgendermaßen: „Гришковец снимает пенку с реальности“ (Itkin 2005).

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Evgenij Griškovecs Erzählung "Reki". Eine fachdidaktische Auseinandersetzung
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Slawistik)
Veranstaltung
Modul: Literatur und Medien im Russischunterricht
Note
1,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
34
Katalognummer
V359077
ISBN (eBook)
9783668444683
ISBN (Buch)
9783668444690
Dateigröße
864 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sachanalyse, didaktische Analyse, Reduktionsentscheidungen, Textauswahl, Angemessenheit der Sprache, Angemesseheit der Form, Angemessenheit des Inhalts, Auswahlkriterien, mögliche Aufgabenstellungen, Lernziel
Arbeit zitieren
Sofia Gutjahr (Autor:in), 2016, Evgenij Griškovecs Erzählung "Reki". Eine fachdidaktische Auseinandersetzung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/359077

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