Vertikale Ungleichheiten im sozialen Raum. Eine Gegenüberstellung von Schulzes Modell der Erlebnisgesellschaft und Bourdieus "Die feinen Unterschiede"


Hausarbeit, 2016

24 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Gliederung

1 Einleitung

2 Pierre Bourdieu und sein Werk „Die feinen Unterschiede“
2.1 Der „Habitus“ und der „soziale Raum“
2.2 Kapital bei Bourdieu
2.2.1 Ökonomisches Kapital
2.2.2 Kulturelles Kapital
2.2.3 Soziales Kapital
2.3 „Die feinen Unterschiede“ im Geschmack

3 Gerhard Schulzes Modell der „Erlebnisgesellschaft“
3.1 Alltagsästhetische Schemata
3.2 Fünf Milieubeschreibungen
3.2.1 Niveaumilieu
3.2.2 Harmoniemilieu
3.2.3 Integrationsmilieu
3.2.4 Selbstverwirklichungsmilieu
3.2.5 Unterhaltungsmilieu

4 Diskussion: Was verbindet bzw. unterscheidet die dargestellten Theorien?

5 Hat Schulzes Entvertikalisierungsthese Bestand?
5.1 Wertewandel als „Ventilfunktion“
5.2 Entvertikalisierung oder doppelte Vertikalisierung?

6 Zum Schluss

Literaturverzeichnis

Anhang

1 Einleitung

In der Ungleichheitssoziologie erleben, wie in jeder wissenschaftlichen Disziplin, bestimmte Begrifflichkeiten, Fragestellungen und theoretische Konzepte ihren Aufschwung. Derzeit feiert der Begriff der „Klasse“ ein bedeutendes Comeback. In den 1980er- und frühen 1990er-Jahren wurde die Ungleichheitsforschung durch die „Lebensstils-“ und „sozialen Milieukon­zepte“ dominiert. Obwohl Klassen damals sowohl als analytische Kategorie als auch als gesellschaftliche Akteure als irrelevant deklariert wurden, sind die soziale Frage und die vertikalen Ungleichheiten mittlerweile „zurückgekehrt“. Gesellschaftliche Risiken wie Erwerbslosigkeit oder Armut und Krankheit sind ungleicher verteilt, als vom Individualisierungsparadigma vermutet wird, und häufen sich zudem in bestimmten sozialen Schichten der Gesellschaft. Begleitet werden diese Entwicklungen von einer anhaltenden Transformation des deutschen Wohlfahrtsstaates: Er verlässt das Prinzip der Status- hin zu demjenigen der Basissicherung. Entsprechend ist die vertikale Ungleichheitsdimension nicht nur wieder in den Fokus soziologischer Forschung gerückt, sondern erfährt auch massive öffentliche und mediale Aufmerksamkeit.

Als Primärliteratur dienen dieser Arbeit die beiden in dem Seminar „Theorien der Kultur“ thematisierten Hauptwerke der Theoretiker Pierre Bourdieu („Die feinen Unterschiede“; 1979) und Gerhard Schulze („Die Erlebnisgesellschaft“; 1992). Bourdieu löst sich von einer rein ökonomischen Sichtweise auf den Kapitalbegriff und erweitert diesen um einen sozialen sowie kulturellen Aspekt, dessen Bedeutung für die Reproduktion von Klassenstrukturen hervorgehoben wird. Gerhard Schulze hat die These vertreten, dass die herkömmliche Sicht auf das kulturelle Kapital zu eng sei, da es zu einer Entstrukturierung der Klassengesellschaft durch eine Pluralisierung der Lebensstile und daher der Formen kulturellen Kapitals gekommen sei (vgl. Rössel/Beckert-Zieglschmidt 2002: 497). Dabei wurde häufig postuliert, dass es aufgrund einer kollektiven Wohlstandszunahme sowie der Bildungsexpansion zu einer Bedeutungsabnahme von sozialer Ungleichheit für das Alltagsleben der Menschen und deren Lebensschicksal gekommen sei (vgl. ebd.). Das Phänomen kann auch mit dem vom deutschen Soziologen Ulrich Beck geprägten Begriff des „Fahrstuhleffekts“ erklärt werden. Dieser Effekt beschreibt den Aufstieg des Wohlstands der Gesellschaftsschichten um jeweils eine Schicht (vgl. Beck 1986: 122). Durch diesen Aufstieg würden Klasse und Schicht immer unwichtiger und der Lebensstil interessanter.

In vorliegender Arbeit werden zunächst die beiden Lebensstilkonzepte der beiden oben genannten Werke von Bourdieu (2) und Schulze (3) in den für die Vergleichsforschung relevanten Aspekten beleuchtet. Anschließend werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Theorien herausgearbeitet (4). Die Gegenüberstellung sowie die anschließende Diskussion der Entvertikalisierungsthese (5) verdeutlichen, dass der in der „Erlebnisorientierung“ zum Ausdruck kommende Wertewandel eine mögliche Ventilfunktion übernimmt, um den Konkurrenzkampf in der Sozialstruktur zu entschärfen, diesen aber nicht auflösen kann.

2 Pierre Bourdieu und sein Werk „Die feinen Unterschiede“

Pierre Bourdieus 1979 in Frankreich erschienenes bekanntestes Buch „La Distinction“ („Die feinen Unterschiede“) beinhaltet eine empirische Studie, die ab 1963 vorbereitet und im Jahr 1979 abgeschlossen wurde. Geschmack stellt für Bourdieu nichts Individuelles dar, sondern sei immer als etwas Gesellschaftliches zu betrachten (vgl. Treibel 2000: 218) und stehe somit in einem engen Zusammenhang zum sozialen Leben. Es ist verknüpft mit dem sozialen Raum und der sozialen Herkunft, die mit einem bestimmten Habitus verbunden ist. Bourdieu unterscheidet in seinem Werk drei Geschmacksdimensionen, die hier auch aufgegriffen werden sollen: den legitimen, den mittleren und den populären Geschmack. Zunächst müssen aber die Begriffe „sozialer Raum“ und „Habitus“ und in Grundzügen die „Kapitalarten“ beleuchtet werden.

2.1 Der „Habitus“ und der „soziale Raum“

Bourdieu stimmt mit Marx darin überein, dass die ökonomische Komponente bei der Verortung des Individuums in der Gesellschaft von zentraler Bedeutung sei (vgl. Horvarth 2009). Im Unterschied zu Marx ist damit jedoch nicht nur das Eigentum an Produktionsmitteln gemeint (vgl. Fuchs-Heinritz/König 2011: 163). Bourdieu identifiziert neben dem ökonomischen auch noch zwei andere Kapitalsorten: kulturelles und soziales Kapital. Je nach Menge und Zusammensetzung der Kapitalsorten positioniert sich das Individuum im sozialen Raum (vgl. Bourdieu 1985: 9ff.).

„Ausgehend von den Stellungen im Raum, lassen sich Klassen […] herauspräparieren, das heißt Ensembles von Akteuren mit ähnlichen Stellungen, und die da ähnlichen Konditionen und ähnlichen Konditionierungen unterworfen, aller Voraussicht nach ähnliche Dispositionen und Interessen aufweisen […]“ (Bourdieu 1985: 12).

Die Erfahrungen, die der Mensch sammelt, und die Kombination der Kapitalsorten verdichten sich nach Bourdieu zu Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die sich zu einem System vereinen. Dieses System sei veränderbar und forme die Handlungs- und Denkstrukturen des Individuums: den „Habitus“. Zu beachten sei, dass der Habitus dabei nicht die Handlungen selbst bezeichne, sondern das System von Dispositionen und Gewohnheiten, die den Handlungen zugrunde lägen und diese wahrscheinlich machten (vgl. Bourdieu 1987: 279).

Eine eindeutige Definition des Begriffes Habitus ist bei Bourdieu nicht gegeben. Vielmehr macht er es sich zur Aufgabe, den Begriff einzukreisen und ihn so näher zu bestimmen. Im Habitus eines Menschen kommt laut Bourdieu das zum Vorschein, was ihn zu einem gesellschaftlichen Wesen macht: seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder Klasse und die daraus resultierende „Prägung“. Damit sind die Merkmale wie z.B. seine Fähigkeiten, Gewohnheiten oder Einstellungen gemeint, die der Mensch durch seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse erhalten hat. Mit einer relativ großen Wahrscheinlichkeit verfügen gemäß Bourdieu die Personen der gleichen Klasse auch über den gleichen Habitus. Das bedeute jedoch nicht, dass alleine die Klassenzugehörigkeit ausreichen würde, um diesen zu bestimmen. Mitbestimmt werde die Klassenzugehörigkeit z.B. auch durch den Beruf und das sogenannte kulturelle Kapital, auf das im folgenden Kapitel noch näher eingegangen wird. Bourdieu folgt Marx und Engels in der Bestimmung der Klassenstruktur und stellt die These auf, dass diese sich wesentlich durch den Kampf um kulturelle „Distinktion“ reproduziere. Als Instrument zur Abgrenzung wird hier die ästhetische Dimension genutzt (vgl. ebd. 104f.).

2.2 Kapital bei Bourdieu

2.2.1 Ökonomisches Kapital

Der Begriff des „Kapitals“ stammt aus der Ökonomie. Ökonomisches Kapital ist für Bourdieu die herkömmliche Art von Kapital, mit dem zunächst die akkumulierbare Aneignung von materiellen Dingen wie Eigentum und Vermögen assoziiert wird (vgl. Fuchs-Heinritz/König 2011: 163). Neben der Wirtschaftswelt sieht Bourdieu eine Welt, deren „Güter“ jedoch nicht mit einem objektiven Preisschild gekennzeichnet werden könnten. Allein der materielle Besitz von Reich- und Eigentum garantiere noch keine Machtposition in sozialen Beziehungen. Daher müssten soziale Austauschbeziehungen in ihrer Gesamtheit betrachtet werden. Bourdieu schreibt dabei besonders dem kulturellen Kapital einen hohen Stellenwert zu. Dieses ist ebenfalls bei der Untersuchung sozialer sowie schulischer Chancenungleichheit von zentraler Bedeutung.

2.2.2 Kulturelles Kapital

Bourdieu versteht unter kulturellem Kapital die Gesamtheit der akkumulierten kulturellen Inhalte, die der Mensch durch seine Ausbildung in Schule und Beruf erlange, daher findet sich manchmal auch die Bezeichnung als „Bildungskapital“ (vgl. ebd.: 167). Diese Kapitalart sei in gewissem Grade vererbbar und werde so beständig reproduziert. Falls die (Groß-)Eltern bereits eine höhere Schulausbildung durchlaufen hätten, gelinge dies meistens auch ihren Nachkommen.

Es lassen sich nach Bourdieu drei Formen des kulturellen Kapitals unterscheiden: der inkorporierte, der objektivierte und der institutionalisierte Zustand (vgl. Bourdieu 2005: 53).Inkorporiertes Kulturkapitalwerde über die individuelle Zeitinvestition in Bildung akkumuliert und sei damit an die jeweilige Person gebunden. Für die Schule attestiert Bourdieu dem inkorporierten kulturellen Kapital, wie ein natürlicher vorschulischer Selektionsmechanismus zu wirken. Kinder wüchsen in verschiedenen familiären Milieus auf. „In der engsten Beziehung zum Schulerfolg des Kindes steht – mehr noch als die vom Vater erzielten Abschlüsse und mehr als des von ihm absolvierten Bildungsgangs – das allgemeine Bildungsniveau der Eltern.“ (Bourdieu 2001: 2). Ein wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang sei die Art der Weitergabe kulturellen Kapitals. Sie verlaufe meist nicht intendiert, sondern im Hintergrund während der Sozialisierung des Kindes (vgl. ebd.: 5). Die unterschiedliche Stärke der Akkumulation in verschiedenen familiären Umfeldern weise auf einen ersten Ursprung der Chancenungleichheit für die Kinder hin.

Als Beispiele für die Kapitalsorte desobjektivierten Kulturkapitalsließen sich Güter wie Bücher, Instrumente oder Maschinen anführen (vgl. Bourdieu 2005: 53). Diese Kapitalsorte gewinnt ihre Bedeutung aus ihrer ambivalenten Rolle als Teilaspekt des Objektes, dessen Potenzial allerdings nur über die entsprechende Existenz des eben beschriebenen inkorporierten kulturellen Kapitals ausgeschöpft werden könne. Hier werde der Unterschied zwischen materieller Übertragung und symbolischer Aneignung kulturellen Kapitals deutlich. Die Einzigartigkeit kulturellen Kapitals bestehe in der Schwierigkeit der Übertragung.

Als Antwort auf die Eigenart des inkorporierten Zustands kulturellen Kapitals, das an den Eigner gebunden sei, ist dieinstitutionalisierte Formzu nennen – wie der Namen bereits erkennen lässt, ist sie „institutionalisiert“, d.h. juristisch abgesichert. Als klassisches Beispiel könne hier der amtliche Titel angeführt werden. Ein Wesensmerkmal der Kapitalsorte liege in ihrer wechselseitigen Umwandelbarkeit in ökonomisches Kapital: Einem schulischen Titel könne zumindest in gewissem Maße ein Geldwert zugewiesen werden (vgl. ebd.: 62).

Obwohl das nötige inkorporierte Kulturkapital vorhanden sein müsse, erkennt Bourdieu das ökonomische Kapital als die dominante Kapitalsorte an, wodurch sich für die Bildungsinstitutionen ein enormer Konkurrenz- und gleichzeitig Selektionseffekt einstelle.

2.2.3 Soziales Kapital

In Abgrenzung zum ökonomischen wie zum kulturellen Kapital sei die Kapitalsorte des sozialen Kapitals zwar auch individuell akkumulierbar, jedoch ohne den Kollektivzusammenhang nicht zu denken. Der Grad des Sozialkapitals bestimme sich nicht nur aus der Größe des eigenen Personennetzwerkes, sondern vor allem aus der Größe des sozialen Kapitals des/der Bekannten. Zu unterscheiden seien hierbei zwei verschiedene Profite, die aus einer sozialkapitalbasierten Austauschbeziehung gewonnen werden könnten, nämlich materielle wie symbolische (vgl. ebd.: 65). Die große Bedeutung symbolischen Profits resultiere aus der Tatsache, dass das eigene Prestige mit dem Sozialkapital der zugehörigen Gruppe stehe und falle.

Der Beitrag des Konzepts des sozialen Kapitals zur Problematik der Chancenungleichheit lasse sich, ähnlich dem Konzept des kulturellen Kapitals, anhand der Reproduktionsfähigkeit erkennen. Kinder aus familiären Milieus mit einem geringen Bildungsniveau hätten somit beispielsweise nicht den gleichen Zugang zu symbolischen Sozialkapital wie solche aus einem bildungsstarken familiären Umfeld. Ein hoher Grad an institutionalisiertem kulturellen Kapital in Form von Titeln führe zu einem hohen Prestige, wodurch es den Eignern wiederum leichtfalle, ihr Sozialkapital zu unterhalten und zu akkumulieren (vgl. ebd.: 67).

Alle drei in diesem Abschnitt beschriebenem Kapitalarten seien mehr oder weniger durch Transformationsarbeit gegenseitig umwandelbar, begründeten aber immer eine vertikale Klassenstruktur (Bourdieu 1987: 278ff.).

2.3 „Die feinen Unterschiede“ im Geschmack

Neben den objektiven Lebensbedingungen und dem Habitus unterschieden sich die Klassen besonders durch den Geschmack, da er neben dem Lebensstil die auffälligste Äußerung des kulturellen Kapitals sei. Bourdieu unterscheidet drei große Klassen: die herrschende Klasse, die den Ton angebe (legitimer Geschmack), die mittlere Klasse, die aufsteigen möchte (prätentiöser Geschmack) und die untere Klasse, die Volksklasse, charakterisiert durch den Geschmack der Notwendigkeit. Die Gesellschaftsgruppen seien jedoch nicht klar voneinander abgetrennt, sondern überschnitten sich innerhalb eines sozialen Raumes aus mehreren Dimensionen, die Bourdieu als drei übereinandergelegte (transparente) Schemata konzipiert (vgl. Bourdieu 2005: 35). Die Verortung in diesem sozialen Raum erfolgt anhand der Zusammensetzung der im vorherigen Kapitel (Abschnitt 2.2) beschriebenen Kapitalarten.

Er führte Befragungen durch, bei denen Personen beispielsweise ihre bevorzugte Musikrichtung angeben mussten. Anhand der Ergebnisse traten die sozialen Unterschiede hervor und zeigten sich in den drei Geschmacksdimensionen. Der Begriff der Klasse wird bei Bourdieu dadurch nicht mehr nur an der ökonomischen Position festgemacht, sondern um eine kulturelle Komponente erweitert (vgl. Bourdieu 1987: 219f.).

Die erste Geschmacksdimension ist der legitime Geschmack. Dieser beschreibt die kulturelle Praxis der herrschenden Klasse. Sie setze sich zusammen aus den Intellektuellen und der Bourgeoisie. Diese gehobenen Kreise hätten das Vorrecht, den legitimen Geschmack zu definieren. Als ein besonderes Zeichen der geistigen Bildung sieht Bourdieu die musische Bildung und das Befassen mit Kunst sowie der gekonnt „gespielte“ (ebd.: 99) Umgang mit ihr. Dieser ist laut Bourdieu ein Produkt der familiären Sozialisation. Die Menschen wirkten selbstsicherer, weil sie den Umgang mit diesen hohen ästhetischen Positionen beherrschten, und distanzierten sich so von den anderen Menschen im sozialen Raum. Der Geschmack sei in Gegensätzen strukturiert, wobei Qualität und Quantität einerseits, Substanz und Form andererseits einander gegenübergestellt würden. Es gehe beispielsweise nicht um die Qualität bestimmter Kunstwerke. Im Sinne der Hochkultur begründe der Distinktionswert bestimmter kultureller Werke den Wert bzw. Nicht-Wert. Die kulturelle Abgrenzung der Oberschicht gegenüber den nachdrängenden sozialen Schichten könne nur aufrechterhalten werden durch die „Zirkulation der Modelle“. Das heißt, dass innerhalb der legitimen Modelle ständig Veränderungen stattfänden und die imitierten alten Modelle entwertet würden.

Bourdieu versucht aufzudecken, dass nicht die Kunst an sich zur Hochkultur gehöre, sondern diese nur als Distinktionsinstrument fungiere. Dazu bedürfe es einer Legitimationsdisziplin: der „gelehrten Ästhetik“. Diese sei der ideologische Ausdruck von Klassenherrschaft und legitimiere die ästhetischen Standards des Großbürgertums als kulturell überlegene Standards. Diese legitimierten wiederum reziprok die herrschende Position des Großbürgertums.

Der mittleren Klasse, dem Kleinbürgertum, wird von Bourdieu der Geschmack der Prätention zugeordnet. Charaktertisch für den Geschmack dieser Klasse sei, dass er sich an der legitimen Kultur orientiere und sich diese zum Maßstab setze (vgl. Treibel 2000: 222). Gleichzeitig neben dem Streben nach sozialem Aufstieg versuche diese Klasse, sich nach unten abzugrenzen. Diese Imitationsversuche schlügen jedoch zumeist fehl, da es den Anhängern dieser Klasse an der notwendigen Erfahrung und Vertrautheit mit den Kulturmodellen der Oberschicht mangele.

Das „Volk“, charakterisiert durch den Geschmack der Notwendigkeit, wolle sich nicht den oberen Klassen angleichen und schätze das Praktische. Was als legitime Kultur gelte, fehle dieser unteren Klasse (vgl. Bourdieu 2005: 39). Der Grund dafür liege in der Abgrenzung der oberen Klassen. „Per Definition sind die unteren Klassen nicht distinguiert; sobald sie etwas ihr eigen nennen, verliert es auch schon diesen Charakter.“ (Bourdieu 2005: ebd.).

3 Gerhard Schulzes Modell der „Erlebnisgesellschaft“

In Gerhard Schulzes Veröffentlichungen ging es vor allem um Zeitdiagnosen und zukünftige Entwicklungen. Seine wichtigsten Werke sind: „Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart“ (1992) und „Kulissen des Glücks“ (1999).

Ausgangspunkt der Untersuchung Schulzes ist die Auflösung traditioneller Bindungen der Individuen und damit bestehender gesellschaftlicher Gruppierungen. Befreit von äußeren Zwängen, könnten die Individuen innenorientiert ihren Bedürfnissen folgen. Das „Erleben des Lebens“ rücke in den Mittelpunkt, und hedonistische Erlebnisorientierung würden zum zentralen Handlungsmuster dieser Lebensauffassung. Die Folgewirkung sei die „Ästhetisierung des Alltagslebens“. Dabei erschließe sich das vorherrschende Glücksprinzip über den Begriff der „Erlebnisrationalität“ (vgl. ebd: 40ff.). Betont wird hier, dass es nicht die äußere Umwelt alleine sei, die auf die Menschen einwirke, sondern auch die Personen selber aktiv seien (vgl. Schulze 1992a: 35).

3.1 Alltagsästhetische Schemata

Das „Projekt des schönen Lebens“ (ebd.: 35) verbinde sich mit seinen Folgeproblemen von Unsicherheit und Enttäuschung zu einem dynamischen Motivationsgemenge, aus dem neue kollektive Strukturen hervorgingen. An die Stelle von Gesellschaftsbildung durch Not trete Gesellschaftsbildung durch Überfluss (vgl. ebd.: 67). Es bildeten sich über Wiederholungen, Vereinfachungen und Gemeinsamkeiten als Orientierungshilfe für die vereinzelten Subjekte neue Formen von Gesellschaftlichkeit heraus. Auf der Grundlage der unterschiedlichen Bedeutungsebenen Genuss, Distinktion und Lebensphilosophie arbeitet Schulze drei zentrale ästhetische Verhaltensweisen heraus: dasHochkulturschema, dasTrivialschemaund dasSpannungsschema.

„Tiefenbedeutungen des Hochkulturschemas blitzen auf, wenn man die Konnotation des Wortes ‚schöngeistig‘ auf sich wirken lässt“ (ebd.: 142). Das Genussschema definiert sich nach Schulze über die Zurücknahme des Körpers. Der Körper wird hier über ruhiges Zuhören und Betrachten von Dingen in einen Ruhezustand versetzt (vgl. ebd.: 143). Distinktion sei geprägt von Erlebniskompetenz, die beispielsweise das besondere Gefühl für Musik oder Kunst in diesem Hochkulturschema verkörpere. Wer diese Erlebniskompetenzen jedoch nicht schätze, lese dennoch Bücher der gewünschten Art oder sehe kulturell anspruchsvolle Fernsehsendungen, weil er „etwas auf sich hält“ (vgl. ebd. 145). Die Lebensphilosophie habe als kleinsten gemeinsamen Nenner den Sinn der Perfektion. Perfektion sollte hier trotzdem einen Seltenheitswert besitzen, der nicht zur Normalität werden dürfe (vgl. ebd.: 146f.)

Gemäß dem Trivialschema sieht das Genussschema den menschlichen Körper hier in einer aktiveren Rolle als das vorangegangene Schema (vgl ebd.: 150). Schulze spricht von einer „antiexzentrischen Distinktion“. Sie soll auf der einen Seite den Wunsch der Menschen verdeutlichen, dazuzugehören, aber auf der anderen Seite auch die zum Vorschein kommende Angst zeigen, die erscheine, wenn etwas Unbekanntes in das Leben trete. Sei es im Hochkulturschema zunächst darum gegangen, immer elaboriertere Formen eines immer reflektierteren Umgangs mit der Welt darzustellen, so richteten sich Inhalt und Form der kulturellen Güter des Trivialschemas vornehmlich auf das Vertraute. Die Lebensphilosophie verdeutliche den Wunsch der Menschen nach Harmonie (vgl. ebd.: 152 f.). Sie seien auf der Suche nach Sicherheit, zeigten eher eine Tendenz zum Positiven und stünden im sozialen Bereich viel mehr im Dienste der Gruppe, als dass sie sich zur Individualität bekennen würden.

[...]

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Vertikale Ungleichheiten im sozialen Raum. Eine Gegenüberstellung von Schulzes Modell der Erlebnisgesellschaft und Bourdieus "Die feinen Unterschiede"
Note
1,7
Autor
Jahr
2016
Seiten
24
Katalognummer
V358165
ISBN (eBook)
9783668431805
ISBN (Buch)
9783668431812
Dateigröße
651 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bourdieu, Schulze, Erlebnisgesellschaft, Die feinen Unterschiede, Sozialer Raum
Arbeit zitieren
Anja Niehoff (Autor:in), 2016, Vertikale Ungleichheiten im sozialen Raum. Eine Gegenüberstellung von Schulzes Modell der Erlebnisgesellschaft und Bourdieus "Die feinen Unterschiede", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/358165

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