Das Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik am Leitfaden der Auffassung Max Webers


Examensarbeit, 2004

111 Seiten, Note: 8 Punkte


Leseprobe


Gliederung

A. Einführende Überlegungen zur Aufgabenstellung
I. Das Wesen der Rechtssoziologie
II. Die Sichtweise der Rechtsdogmatik
III. Strukturelle Unterschiede beider Positionen

B. Die grundsätzliche Trennung von Sein und Sollen in derRechtssoziologie Max Webers
I. Max Webers strikte Scheidung von Rechtssoziologie und Rechtsdog- matik
1. Der Gegenstand der Rechtssoziologie aus der Sicht Max Webers oder: die „Stammler-Kritik“
2. Das Wesen der Rechtsdogmatik
II. Juristischer und soziologischer Geltungsbegriff
1. Zum Begriff der Geltung einer „Ordnung“
a) Max Webers Vorstellung von „Ordnung“
b) Sein Geltungsbegriff
2. Die juristische Sichtweise
3. Die Geltung aus dem Blickwinkel der Soziologie
III. Die rationale Entwicklung des Rechts als Kennzeichen der Moderne
1. Die Herausbildung einer formal- rationalen Rechtsordnung
2. Die „Entzauberung der Welt“ oder: der Idealtyp eines formal- rationalen Rechts
3. Max Webers vierstufige Rechtsbetrachtung
4. Charakteristika des formal- rationalen Rechts
5. Hintergründe der rationalen Gesellschaftsentwicklung
6. Rationales Recht als Forderung des modernen Kapitalismus
7. Unaustragbarer Gegensatz formaler und materialer Rationalität
a) Der Richter als „Subsumtionsautomat“ oder: Max Weber als
Anhänger der Begriffsjurisprudenz
b) Die Gefahr der Rematerialisierung des Rechts
(1) Max Webers Bedenken gegen die Aufweichung des
Rechtsformalismus
(2) Der Kampf gegen die Freirechtsschule
(a) Das Programm der Freirechtler
(b) Die Kritik Max Webers an den materialen Tendenzen
der Freirechtsbewegung
8. Max Webers Prognose künftiger Rechtsanwendungspraxis
IV. Legitimation durch Verfahren
V. Das Werturteilsproblem
1. Max Webers Thesen zur Werturteilsproblematik
a) Werturteilsfreiheit im engeren Sinne
(1) Sein und Sollen als kategorisch verschiedene Ebenen
(2) Zum Unterschied von normativen und deskriptiven
Aussagen
(3) Der Hintergrund der Werturteilsfreiheit im engeren Sinne
b) Das Problem der Wertbeziehung
2. Immanente und grundsätzliche Kritik
a) Zur immanenten Kritik
(1) Die Entstehungsphase
(2) Die empirische Phase
(3) Der Verwendungszusammenhang
b) Die grundsätzliche Kritik
VI. Zur gegenseitigen Bedeutung und Wechselwirkung beider Disziplinen
1. Die Rechtswissenschaft als Gegenstand der Rechtssoziologie
2. Die unmittelbare Zugrundelegung empirischer Erkenntnisse
in der Rechtsdogmatik aus Sicht Max Webers
3. Max Webers Zugeständnis einer technischen Kritik
4. Eingeständnis der Unhaltbarkeit seines Trennungsprinzips?
VII. Zusammenfassende Betrachtung der Rechtsoziologie Max Webers zur Aufgabenstellung

C. Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik in heutiger Zeit oder: ZurAktualität Der Rechtssoziologie Max Webers
I. Die Trennung von Sein und Sollen in der heutigen Rechtspraxis
1. Die gesellschaftliche Entwicklung seit der Rechtssoziologie Max Webers
2. Wertungen in der heutigen Rechtsdogmatik
a) Die Grundrechte als objektive Werteordnung
b) Die Flucht in die Generalklauseln und unbestimmten Rechts-
begriffe
(1) Zu den Generalklauseln
(2) Unbestimmte Rechtsbegriffe
c) Mittelbare Einflußnahme als Konsequenz der technischen
Kritik Max Webers
d) Zur Laienrichterproblematik
e) Die Herausbildung einer Rechtstatsachenforschung
f) Die Folgendiskussion
(1) Notwendigkeit von Abwägungsformeln
(2) Das Problem der Gewaltenteilung
(3) Zu Konsequenzen und Kritik der Folgenorientierung
g) Weitere verfassungsrechtliche Problemstellungen
(1) Die Bindung des Richters gem. Art. 97 I GG
(2) Reformalisierung als Postulat des Demokratieprinzips?
II. Übergang zur Freirechtsschule durch die Hintertür?
III. Entkräftung der Infragestellung des Formalismus durch materielle Tendenzen?
IV. Bestätigung der „Schicksalhaftigkeit des Rechts“

D. Schlußbetrachtung und Ausblick
I. Schlußbetrachtung
II. Ausblick

Literaturverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

A. Einführende Überlegungen zur Aufgabenstellung

Die Frage nach dem Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik ist seit jeher ein Komplex von hoher Brisanz und nicht frei von Spannungen.[1]

Richtungweisend im Hinblick auf die Einordnung des Verhältnisses beider Disziplinen ist zunächst eine allgemeine Fixierung der Begriffe und des Wesens der Rechtssoziologie sowie der Rechtsdogmatik.

I. Das Wesen der Rechtssoziologie

Die Rechtssoziologie ist zunächst, wie sich bereits aus dem sprachlichen Sinn herleiten lässt, ein Teil der Soziologie, und zwar derjenige, der sich vornehmlich mit dem Rechtswesen beschäftigt.[2] Bei der Rechtssoziologie handelt es sich um eine empirische Wissenschaft mit eigenen Erkenntniszielen.[3] welche die wechselseitige Interdependenz und den funktionalen Zusammenhang zwischen dem Recht und den nicht-rechtlichen Gesellschaftsphänomenen zu ergründen sucht.[4] Sie setzt damit voraus, dass es sich bei dem Phänomen Recht um einen Vorgang der gesellschaftlichen Wirklichkeit handelt[5], welches der empirischen Forschung zugänglich ist. Der Rechtssoziologe fragt nach der sozialen Wirklichkeit des Rechts und gelangt so zu einer Beschreibung und Erklärung des Rechtslebens. Dies macht deutlich, dass sich die Rechtssoziologie mit Wirklichkeitstatbeständen, d.h. mit dem gesellschaftlichen „Sein“ beschäftigt.

II. Die Sichtweise der Rechtsdogmatik

Der Begriff der Dogmatik wird insbesondere im Hinblick auf das Recht nicht immer einheitlich verwendet.[6] Der Begriff „Dogma“ an sich bedeutet im Griechischen soviel wie „verbindlicher Lehrsatz“ oder „festgelegte Meinung“.[7] Angewendet auf das Recht bedeutet der Begriff „ Dogmatik“ die Lehre vom geltenden Recht.[8] Die Rechtsdogmatik befasst sich mit der Darstellung der für das geltende Recht maßgeblichen Begründungsansätze und Lösungsmuster..[9] Ihr geht es, anders als der Rechtssoziologie, aber nicht um die Darstellung von Theorien des Rechts, sondern vielmehr um den Inhalt der jeweiligen Verhaltensvorschriften sowie der Methodik seiner Ermittlung.[10]

Zweck der Rechtsdogmatik ist vor allem, die notwendige Vorarbeit für die praktische Rechtsanwendung zu leisten.[11] Sie orientiert sich daher nicht an theoretischen Fragestellungen, sondern scheidet Recht vom Unrecht und gibt somit dem entscheidenden Juristen praktische Begründungsmodelle an die Hand, mittels derer er sich im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Bindung an Recht und Gesetz im Sinne des Art. 97 I GG zu bewegen vermag.[12] Sie umschreibt die für die Rechtfertigung juristischer Entscheidungen zur Verfügung stehenden Begründungsstrukturen.[13] Indem sie die Komplexität der möglichen juristischen Entscheidungsalternativen reduziert, verfolgt die Rechtsdogmatik damit zugleich die Gewährleistung juristischer Rationalität.[14]

Die normative Produktion der Rechtsdogmatik erfolgt hierbei jedoch nicht gänzlich ungebunden und damit willkürlich, sondern gemäß den hierfür akzeptierten Methoden der juristischen Methodenlehre.[15]

Spricht man von Rechtsdogmatik, meint man hiermit in erster Linie die Jurisprudenz, so wie sie herkömmlicherweise an den Universitäten gelehrt und gerichtlicherseits praktiziert wird.[16]

III. Strukturelle Unterschiede beider Positionen

Zwischen den Positionen der Rechtssoziologie und der Rechtsdogmatik bestehen ganz grundlegende Unterschiede.

Während die Rechtsdogmatik das Recht als Gegenstand von innen heraus analysiert, betrachtet die Rechtssoziologie das Recht von außen[17] ; folglich handelt es sich um einen Unterschied des jeweiligen Blickwinkels.

Indem die Rechtssoziologie Aussagen über die empirische Wirklichkeit und damit über das Sein des Rechts entwickelt[18], die Rechtsdogmatik hingegen Werturteile als normative Sollens-Aussagen trifft[19], tritt hierbei eine logische Differenz zum Vorschein, die bereits David Hume erkannt hat: „In jedem Moralsystem, das mir bisher vorkam, habe ich immer bemerkt, daß der Verfasser eine Zeitlang in der gewöhnlichen Betrachtungsweise vorgehtPlötzlich werde ich damit überrascht, daß mir anstatt der üblichen Verbindungen von Worten mit ‚ ist ‘ und ‚ nicht ist ‘ kein Satz mehr begegnet, in dem nicht ein ‚ sollte ‘ oder ‚ sollte nicht ‘ sich fände“[20] – der Gegensatz von Sein und Sollen.

Das Verhältnis von empirischer Rechtssoziologie und normativer Rechtsdogmatik ist demzufolge als eine Beziehung zu verstehen, deren Grundlage sich vor allem auf den Gegensatz von Sein und Sollen reduzieren lässt.[21]

Der Gegensatz von Sein und Sollen besagt, dass sich kein logischer Übergang von beschreibenden zu wertenden Aussagen herleiten lässt.[22] Bezogen auf das Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik gibt es demnach keine logische Umformung der empirischen Aussagen der Rechtssoziologie zu den normativen Prämissen der Rechtsdogmatik. Aus den tatsächlichen Gegebenheiten der Gegenwart lässt sich nicht schließen, wie sich das Verhalten des Einzelnen in der Zukunft darstellen soll.[23]

Vorliegend geht es demzufolge um das Verhältnis der Rechtssoziologie als empirischer Wissenschaft und der normativen Rechtsdogmatik, um die Verschiedenheit von Theorie und Praxis, Gegenwart und Zukunft und somit schließlich um den Gegensatz von Sein und Sollen. Dieser Gegensatz ist es letztendlich, der den entscheidenden Unterschied zwischen empirischer Rechtssoziologie und dogmatischer Rechtswissenschaft ausmacht.[24]

Max Weber hat sich rechtssoziologisch eingehend mit der Problematik des Gegensatzes von Sein und Sollen auseinandergesetzt und wegweisende Strukturen und Erkenntnisse hierzu herausgearbeitet.

Die komplexen Gedankengänge Max Webers aus rechtssoziologischer Sicht herauszuarbeiten, diese der Methodik der Rechtsdogmatik vergleichend gegenüber zu stellen und schließlich die Brauchbarkeit und Aktualität seiner Erkenntnisse für die heutige Rechtspraxis darzustellen, ist Gegenstand der nachfolgenden Bearbeitung.

B. Die grundsätzliche Trennung von Sein und Sollen in der Rechtssoziologie Max Webers

Um überhaupt eine Betrachtung des Verhältnisses der beiden Disziplinen am Leitfaden Max Webers vornehmen zu können, ist es zunächst von entscheidender Relevanz, die Hauptaussagen und Leitgedanken der Rechtssoziologie Max Webers darzustellen.

Max Webers Analyse der Gesellschaft und die damit verbundene Strukturierung des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes erscheint auf den ersten Blick kaum überschaubar und von ungeheurer, insbesondere begrifflicher, Komplexität.[25] Begrifflichkeiten wie juristischer und soziologischer Rechtsbegriff, Entzauberung der Welt, Rationalisierung der Gesellschaft, Entwicklungsstufen des Rechts, Gesetzespositivismus, Begriffsjurisprudenz, Gehäuse der Hörigkeit, Werturteilsstreit, Gefahr der Rematerialisierung, Folgenorientierung, Stammler- Kritik, usw. prägen die Diskussion um Max Webers rechtssoziologisches Wirken. Legt man allerdings die vom Detail fast verschütteten Grundlinien frei[26] und versucht, seine Arbeiten von einer abstrakteren Ebene aus zu betrachten, so stellt sich heraus, dass es Max Weber mit seiner Rechtsoziologie vor allem um ein ganz spezielles Anliegen geht: der Darstellung des Gegensatzes von Sein und Sollen als zweier gänzlich voneinander zu trennenden Kategorieebenen.[27] Nahezu in sämtlichen rechtssoziologischen Erörterungen Max Webers findet sich der Gedanke des Gegensatzes von Sein und Sollen, teils nicht ganz eindeutig zu bestimmen, teils im Gewande anderer Begrifflichkeiten. Nichtsdestotrotz ist es gerade diese Problematik, welcher Max Weber eine ganz herausragende Stellung einräumt.

I. Max Webers strikte Scheidung von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik

Max Weber trennt im Rahmen seiner rechtssoziologischen Betrachtung deutlich zwischen der Rechtssoziologie als empirischer Wissenschaft (Sein) und der dogmatischen Jurisprudenz (Sollen).[28]

1. Der Gegenstand der Rechtsoziologie aus der Sicht Max Webers oder: die „Stammler- Kritik“

Max Weber hat die Grundbegrifflichkeiten seiner Rechtssoziologie in seiner Auseinandersetzung mit Rudolf Stammlers Veröffentlichung „Recht und Wirtschaft nach der materialistischen Geschichtsauffassung“ herausgearbeitet (sog. Stammler-Kritik).[29]

Rudolf Stammler unterscheidet zwei grundsätzlich unterschiedliche Arten des Denkens, die er als „Wahrnehmen“ und „Wollen“ zu beschreiben pflegt.[30] Während das „Wahrnehmen“ sich an Kategorien wie Ursache und Wirkung orientiert, betrifft das „Wollen“ hingegen den Zweck und das Mittel.[31] Aus diesen beiden völlig selbständig nebeneinander stehenden Methoden ergäben sich zwei grundlegend verschiedene Wissenschaftsbereiche: die Naturwissenschaft und die Zweckwissenschaft.[32]

Rudolf Stammler vertritt die Ansicht, dass „die ‚ Wissenschaft vom sozialen Leben ‘ “ (und damit u.a. die Rechtssoziologie) nicht der Kategorie der Naturwissenschaften zuzuordnen sei und daher strikt von deren empirischen Methoden geschieden werden müsse.[33] Die Wissenschaft über das äußerlich geregelte soziale Leben, d.h. über rechtlich geregeltes Leben, sei nicht durch die auf Kausalzusammenhänge ausgerichtete empirische Naturwissenschaft, sondern ausschließlich durch eine Zweckwissenschaft zu erkennen.[34]

Konsequenz dieser Auffassung wäre allerdings, dass die Rechtssoziologie nicht als eine empirische, sondern als normative Wissenschaft zu qualifizieren wäre. Diese Einschätzung als richtig unterstellt hätte dann aber zur Folge, dass sowohl die Rechtssoziologie als auch die Rechtsdogmatik ein und derselben Wissenschaftskategorie, nämlich der normativen Wissenschaft, zuzuordnen wäre. Diese Auffassung Rudolf Stammlers bedeutet zu Ende gedacht unter Zugrundelegung der Auffassung Max Webers ein Zusammenfallen von Sein und Sollen und damit eine Missachtung des Trennungsprinzips.

Mit einer solchen Aufhebung des Gegensatzes von Sein und Sollen konnte sich Max Weber denknotwendig nicht abfinden. Er tritt dieser Einschätzung Rudolf Stammlers daher auf das Schärfste entgegen. Er bemängelt an Rudolf Stammlers Werk insbesondere die seiner Ansicht nach das Werk wie einen roten Faden durchziehende „Diplomatie der Unklarheit“, er weist ihm eine Fülle fortgesetzter Begriffsvertauschungen sowie Verschwommenheiten in der Begriffsbildung nach[35], welche die scheinbare Plausibilität seiner Lehre hervorrufen sollen.[36]

Anhand eines ganz einfachen Beispiels dokumentiert Max Weber die grundsätzliche Problematik des Verhältnisses von Kausalität und Zweckbestimmtheit. Die Analyse dieses Beispiels enthält zugleich die wesentlichen Grundgedanken Max Webers Wertlehre.[37] Die Bedeutung des Satzes „Der Schutz der Schwachen ist Aufgabe des Staates“ lässt sich aus Sicht Max Webers aus mehreren Blickwinkeln betrachten.[38] Zunächst ließe sich der imperative Charakter dieser Maxime als gültig bestreiten. In diesem Fall bewege sich die Diskussion auf der Ebene einer ethischen Norm und damit wertender Betrachtung.[39] Andererseits könne man auch die praktische Durchführbarkeit dieser Maxime ablehnen und gelange so zu einer rein erfahrungswissenschaftlichen Untersuchung im Sinne einer Seins- Aussage.[40] Schließlich ließe sich nachzuweisen versuchen, dass es sich bei diesem Leitsatz nicht um einen Imperativ handeln könne, weil eine diesbezügliche Qualifizierung zu einem deutlichen Widerspruch zu mittlerweile anerkannten Befehlsformen führen würde.[41] Die beiden sich vermeintlich unversöhnlich gegenüberstehenden Maximen sind schließlich selbst als normativ zu betrachten, sodass es letztlich zu einer Abwägung und Auswahl zwischen ihnen kommen muß.[42] Diese Betrachtung macht nun aber die absolut logische Disparatheit von kausaler Erklärung und Werturteil deutlich und damit wiederum des Gegensatzes von Sein und Sollen.[43]

Erstaunlich ist nun aber nach Auffassung Max Webers, dass sich Rudolf Stammler genau dieser Erkenntnis auch durchaus bewusst zu sein scheint[44], indem er klarstellt: „Die Gegner fanden sich gar nicht; sie trafen sich nicht und konnten sich nicht treffen. Es war der Kampf des Bären mit dem Haifische “.[45] Unter Zugrundelegung dieser Erkenntnis kritisiert Max Weber die alsbaldige Vermischung dieser an sich zu trennenden Kategorieebenen:[46] „Wer hier nicht sieht, daß Stammler sich ‚ in getrennten Elementen tummelt ‘ und es wahrhaftig fertig bringt, ‚ den Kampf des Bären mit dem Haifisch ‘ sich in eine friedlich-milde konfuse Verbrüderung beider auflösen zu lassen, - der, scheint mir, will es nicht sehen.“[47]

Rudolf Stammler selbst trägt nun aber weiter mittels seiner Antikritik[48] nicht gerade dazu bei, die gegensätzlichen Positionen anzunähern oder doch zumindest eine Klärung der Weberschen Kritikpunkte herbeizuführen. Vielmehr verstärkt sich die Konfusion noch, indem er das von Max Weber vertretene Postulat der Trennung von Sein und Sollen plötzlich als unhaltbar tituliert[49], obwohl er selbst, wie vorstehend erläutert, diesen Grundsatz anhand der obigen Metapher postulierte.

Wenn Rudolf Stammler die Sozialwissenschaft streng von der Naturwissenschaft zu trennen sucht, so ist dies für Max Weber nur unter ganz strenger Bestimmtheit der verwendeten Begrifflichkeiten möglich[50] ; hierin pflichten ihm mehrere namhafte Rechtstheoretiker im Hinblick auf seine Stammler- Kritik bei.[51] Von größter Wichtigkeit ist es für ihn, die von Rudolf Stammler selbst zur Scheidung der (Rechts-)Soziologie von der Naturwissenschaft verwendeten Begriffe der „Natur“ und „Regel“ exakt zu bestimmen.[52] Auch wenn er durchaus die mehrdeutige Verwendungsweise der Begriffe einräumt[53], so sie gerade ihre genaue Bedeutung, „...für jemanden, der seine ganze Doktrin auf den unversöhnlichen begrifflichen Gegensatz der Objekte ‚Natur‘ und ‚soziales Leben‘ aufbaut...geradezu Lebensfrage “.[54] Max Weber belegt in seiner Stammler- Kritik eindrucksvoll die verschiedenen Möglichkeiten der Begriffsbedeutungen von „Natur“ und „Regel“.

Unter Zugrundelegung des normalen Sprachgebrauchs ließe sich unter dem Begriff „Natur“ entweder die „tote“ Natur bzw. diese zuzüglich der nicht spezifisch menschlichen Lebensweisen oder aber diese unter Hinzurechnung der nicht als „höhere“ geistige Lebensleistungen des Menschen erfassten Verhaltensweisen verstehen.[55] Teilweise werde unter Natur auch die Natur im Sinne der Naturgesetze verstanden.[56] Schließlich ließe sich Natur auch als all das ansehen, was nicht als normative Begriffsanalytik begriffen werden könne.[57]

Sodann wendet sich Max Weber der Determinierung des Begriffs „Regel“ zu und konstatiert diesbezüglich zwei hauptsächliche Bedeutungsweisen: die eines kausalen Naturgesetzes und die eines Imperativs im Hinblick auf ein zukünftiges Verhalten.[58] Anhand seines sog. Skat-Beispiels erläutert er die verschiedenen Deutungsvarianten des Wortes „Regel“. Indem sich die Skatspieler der Skatregel unterwerfen, akzeptieren sie, dass nach ganz bestimmten Merkmalen bestimmt werden solle, ob ein Mitspieler richtig gespielt habe oder aber, wer als Gewinner des Skatspiels gelten solle[59]. Hieran wiederum lassen sich gänzlich verschiedene Erörterungen festmachen, die sowohl wertender als auch empirischer Couleur sein könnten und tatsächlich könne die wertende Betrachtung einer Skatregel als kausales Moment für das faktische Handeln der Spieler angesehen werden.[60]

Gerade die von Max Weber als existenziell herausgearbeitete begriffliche und kategorientreue Begriffsfixierung werde von Rudolf Stammler jedoch nicht zugrunde gelegt.[61] Die Rechtsregel, ideell betrachtet, sei gewiss kein empirisches Faktum, sondern könne nur als gelten sollend begriffen werden, während die gleiche Rechtsregel empirisch gesehen eine sachliche Komponente der erfahrungsgemäßen Wirklichkeit darstelle.[62] Nichtsdestotrotz erfolge eine stete Ineinandermischung von Begriffen wie „regelmäßig“, „geregelt“, „rechtlich geregelt“, „Regel“, „Maxime“, „Norm“ und „Rechtsregel“ mal als Gegenstand begriffsjuristischer Betrachtung, mal im Sinne einer empirischen Erscheinung.[63] Ähnliches konstatiert Max Weber für den Scheidungsbegriff der „Natur“. Hierdurch versuche Rudolf Stammler, seine Doktrin durch Begriffsverschwommenheit unangreifbar zu machen.[64]

Es lässt sich festhalten, dass Max Weber der Auffassung Rudolf Stammlers im Hinblick auf die Einordnung der Rechtssoziologie als Zweckwissenschaft aufgrund des „salto mortale in die Welt der Werte“[65] letztlich keinerlei Relevanz zumisst. „Wer ‚ soziales Leben ‘ als empirisch Seiendes erörtern will, darf natürlich nicht eine Metabase in das Gebiet des dogmatisch Seinsollenden vollziehen.“[66] Alles andere käme einer Nichtbeachtung des Grundsatzes der Trennung von Sein und Sollen gleich, eine Kategorientrennung, auf deren Betonung er selbst stets allergrößten Wert legt.[67]

Zwar räumt auch Max Weber ein, dass eine empirische Betrachtung des Rechts nicht auf die Ermittlung des Sinnes sozialen Handelns verzichte[68] ; gleichwohl verlasse die Rechtssoziologie dadurch nicht den Bereich der empirischen Wissenschaft.[69]

Aus dem Blickwinkel Max Webers handelt es sich daher bei der Soziologie, damit auch hinsichtlich ihres Zweiges der Rechtssoziologie, um eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will[70], demzufolge um eine deskriptiv vorgehende empirische Wissenschaft, welche sich mit Seins- Aussagen beschäftigt, und nicht, wie Rudolf Stammler aufzuzeigen glaubt, um eine normative Zweckwissenschaft.

2. Das Wesen der Rechtdogmatik

Indem Max Weber die von der Rechtsdogmatik gewonnenen juristischen Begrifflichkeiten gegenüber denen aller empirischen Wissenschaften ausdrücklich als gänzlich autonom betrachtet, macht er abermals deutlich, dass die juristische Dogmatik streng von der empirischen Wissenschaft zu unterscheiden sei.[71] Während für die dogmatische Jurisprudenz der begriffliche Geltungsbereich der Rechtsnormen in Rede stehe, sei dies dagegen bei allen empirischen Betrachtungen die faktische Existenz der Rechtsordnung.[72] Die deskriptive Rechtssoziologie fände als faktischen Bestand die Rechtsordnung einschließlich der Produkte der juristischen Dogmatik lediglich in den Köpfen der betroffenen Menschen als Bestimmungsgründe vor und behandele diese entsprechend ihrer empirischen Ausrichtung schlicht kausal zurechnend.[73]

Sowohl die Rechtssoziologie als auch die Rechtsdogmatik verwendeten zwar das Wort „Rechtsordnung“, meinten dabei aber logisch etwas völlig Verschiedenes.[74]

Unter der bereits angesprochenen Herausarbeitung der verschiedenen Naturbegriffe zeigt Max Weber in der Stammler-Kritik auf, dass alle dogmatischen Disziplinen gänzlich jenseits der naturwissenschaftlichen Fragestellungen agieren.[75] Der Gegensatz sei auch hier der Kategorienunterschied zwischen Sein und Sollen.[76]

Augenfällig wird hierdurch auch, dass Max Weber keinesfalls der von dem Neukantianer Lask hervorgebrachten Zuordnung der Rechtswissenschaft zu den „empirischen Kulturwissenschaften“ und der dadurch bewirkten Trennung von der normwissenschaftlichen Rechtsphilosophie beitritt.[77] Dies wäre im Ergebnis eine im Vergleich zum Lösungsansatz von Rudolf Stammler gänzlich entgegengesetzte Betrachtungsweise, die als Konsequenz allerdings die gleichen Folgen zeitigen würde wie diese: Die Qualifizierung der Rechtswissenschaft und damit der Rechtsdogmatik als empirische Wissenschaft würde letztlich darauf hinauslaufen, Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik einheitlich im Bereich der Seins- Wissenschaften anzusiedeln, eine Auffassung, die sich ebenfalls nicht mit Max Webers Postulat der Trennung von Sein und Sollen vereinbaren lässt. Mit Lask stimmt Max Weber allerdings dahingehend überein, dass sich die Rechtswissenschaft mit „Normbedeutungen“ in ihrer dogmatischen Ausrichtung befasse und sie sich dadurch von der generalisierenden Sozialtheorie unterscheide.[78]

Die Rechtsdogmatik frage danach, was ein bestimmter Paragraph seinem Sinn nach begrifflich bedeutet, sie verwende das von der Rechtsordnung bereitgestellte System von Gedanken und Definitionen, um das tatsächliche Verhalten von Richtern, Advokaten, Delinquenten, Staatsbürgern daran juristisch wertend zu messen und entweder anzuerkennen oder aber zurückweisen.[79] Rechtswissenschaft ist für Max Weber daher „Dogmatik des Sinns“.[80] Der empirischen Wissenschaft gehe es hingegen darum, die Frage nach den tatsächlichen Wirkungen der Norm zu ergründen und wissenschaftlich darzustellen.[81]

Auch Max Weber scheidet folglich Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik streng anhand der Beachtung des Gegensatzes von Sein und Sollen.

Im Mittelpunkt der Rechtssoziologie Max Webers steht die Rechtsdogmatik nicht im umfassenden Sinne, sondern vor allem in Gestalt der juristischen Praxis.[82] Auch sonst wird die Rechtsdogmatik regelmäßig mit der „praktischen Jurisprudenz“ gleichgesetzt[83], sodass sich auch im Folgenden der Schwerpunkt der Darstellung an der Rechtsanwendung in der richterlichen Praxis orientiert und die sonstigen Bereiche der Rechtsdogmatik bewusst außer Betracht bleiben. Die grundlegenden Hauptaussagen Max Webers sind jedoch, selbstverständlich unter Beachtung der wesensgemäßen Besonderheiten der richterlichen Entscheidungsfindung, auch auf diese Bereiche der juristischen Dogmatik übertragbar.

II. Juristischer und soziologischer Geltungsbegriff

Genau im Hinblick auf die Frage nach der Geltung der Rechtsordnung, einerseits aus juristischer, andererseits aus soziologischer Betrachtungsweise, spielt die Kategorientrennung nach Max Webers Einschätzung wiederum eine ganz entscheidende Rolle:

„Wenn von ‚Recht‘, ‚Rechtsordnung‘, ‚Rechtssatz‘ die Rede ist, so muß besonders streng auf die Unterscheidung juristischer und soziologischer Betrachtungsweise geachtet werden.“[84]

1. Zum Begriff der Geltung einer „Ordnung“

Max Weber hat eine ganz genaue Vorstellung davon, was er unter Geltung der Rechtsordnung versteht.

a) Max Webers Vorstellung von „Ordnung“

Bevor allerdings näher auf den Begriff der „Geltung“ an sich eingegangen werden kann, muss man sich vergegenwärtigen, welche charakteristischen Merkmale eine „Ordnung“ im Sinne der Rechtsordnung in den Augen Max Webers aufzuweisen hat.

Nach seiner Auffassung bedeutet „Ordnung“ den Sinngehalt einer gesellschaftlichen Beziehung, wenn das Verhalten im Sinne von durchschnittlich und annähernd an bestimmten Leitsätzen ausgerichtet wird.[85]

Neuerlich kritisiert er die diesbezüglichen Ausführungen Rudolf Stammlers hinsichtlich der Geltung einer Ordnung. Neben der abermaligen Vermischung von empirischer und normativer Sichtweise verkenne dieser hierbei völlig, dass sich soziales Verhalten nicht ausschließlich an Ordnungen ausrichte, sondern dies, bezogen beispielsweise auf wirtschaftliches Handeln, auch von den Vorstellungen der Beteiligten im Hinblick auf die Mittelknappheit mitbestimmt werde.[86] Darüber hinaus orientiere sich die Handlungsweise natürlich auch an Ordnungen, welche der Betroffene als geltend erachte.[87] „Diesen höchst einfachen empirischen Sachverhalt hat Stammler in der hoffnungslosesten Weise verwirrt und insbesondere ein Kausalverhältnis zwischen ‚ Ordnung ‘ und realem Handeln für begrifflich unmöglich erklärt.“[88] Max Weber gesteht nun Rudolf Sammler durchaus zu, dass zwischen dem juristisch-dogmatischen Gelten-Sollen einer Ordnung und dem empirischen Gelten tatsächlich kein Ursachenzusammenhang festzustellen sei. Allerdings verkenne er die Tatsache, dass zwischen der Chance, dass das Handeln an einer als geltend verstandenen Ordnung ausgerichtet wird, und dieser Handlung selbst durchaus ein ganz gewöhnliches Kausalverhältnis existieren könne.[89]

b) Sein Geltungsbegriff

Wenn Max Weber von „Geltung“ einer Ordnung spricht, so versteht er hierunter die Chance, dass die Beteiligten ihr Handeln in dem jeweiligen sozialen Umfeld an der Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung ausrichten.[90] Geltung einer Ordnung bedeute demnach ein qualitatives Mehr im Vergleich zu der durch bloße Sitte oder Konvention bedingten Regelmäßigkeit eines sozialen Handlungsablaufs.[91] Die Annahme der Geltung einer Ordnung hängt somit davon ab, ob sich die sozialen Handlungen deshalb an den jeweiligen Maximen orientieren, weil diese zumindest auch als verbindlich oder vorbildlich angesehen werden.[92]

Nicht nur in der Befolgung der entsprechenden Anordnungen der Ordnung kann eine Geltung gesehen werden, vielmehr sei gerade auch im Rahmen der Nichtbefolgung ein Indiz für deren Geltung zu erkennen. So orientiere der Dieb sein Handeln an den strafrechtlichen Vorschriften, indem er sein normwidriges Verhalten im Bewusstsein der ihm drohenden strafrechtlichen Sanktionen zu verbergen sucht. Allein in der Notwendigkeit des Verhehlens der Normüberschreitung lasse sich bereits die Geltung der Rechtsnorm erkennen.[93]

2. Die juristische Sichtweise

„Die erstere [juristische Betrachtung] fragt: was als Recht ideell gilt. Das will sagen: welche Bedeutung, und dies wiederum heißt: welcher normative Sinn einem als Rechtsnorm auftretenden sprachlichen Gebilde logisch richtigerweise zukommen sollte.“[94]

Die Aufgabe des Juristen ist es daher für Max Weber zu bestimmen, welche Handlungsmaximen der Mensch in der Wirklichkeit befolgen soll. Für ihn stellt sich daher sowohl bei der Rechtsanwendung als auch im Rahmen der theoretischen Rechtswissenschaft vor allem die Frage danach, welche Normen überhaupt als rechtlich verbindlich anzusehen sind und welche der jeweiligen Handlungsmodalitäten unter die einzelnen Tatbestandsmerkmale der betreffenden Norm subsumiert werden können. Dem Juristen geht es nach Max Weber demnach in erster Linie um die ideelle bzw. normative Geltung des Rechts.[95] So behandele beispielsweise die Rechtswissenschaft den „Staat“ unter Umständen ebenso wie eine natürliche Person als Rechtspersönlichkeit, weil eine derartige begriffliche Deutung ihrer am Gelten-Sollen ausgerichteten Tätigkeit nützlich oder gar unabdingbar erscheint.[96] Die rechtsdogmatische Betrachtung stelle sich die Aufgabe, Rechtssätze auf ihren richtigen Sinn, d.h. auf die von ihnen erfassten Tatbestände und die Art und Weise ihrer Erfassung, zu verifizieren.[97] Unter Deutung des den verschiedenen Rechtssätzen logisch zu entnehmenden „richtigen“ Sinns versuche sie diese in ein widerspruchsloses System zu bringen und gelange so aus juristischer Warte zu ihrer geltenden Rechtsordnung.[98]

Diesbezüglich bleibt somit festzuhalten, dass sich die Geltung des Rechts aus juristischer Sicht allein nach normativen, d.h. wertenden Kriterien bestimmt.

3. Die Geltung aus dem Blickwinkel der Soziologie

Im Gegensatz zu den Juristen interessiert den Soziologen zunächst nicht, welche Handlungen aus rechtlichen Gründen ausgeführt werden sollen; für ihn ist es vielmehr interessant zu untersuchen, welche Handlungen es sind, die der Normadressat de facto ausführt:

„Die letztere [ soziologische Sichtweise] dagegen fragt: was innerhalb einer Gemeinschaft faktisch um deswillen geschieht, weil die Chance besteht, dass am Gemeinschaftshandeln beteiligte Menschen, darunter insbesondere solche, in deren Händen ein sozial relevantes Maß von faktischem Einfluß auf dieses Gemeinschaftshandeln liegt, bestimmte Ordnungen als geltend subjektiv ansehen und praktisch behandeln, also ihr eigenes Handeln an ihnen orientieren.“[99]

Selbstverständlich ist dies nun aber nicht dergestalt zu verstehen, dass Normen für die soziologische Betrachtungsweise gänzlich unerheblich sind. Wenn Rechtsnormen nämlich zur Beschreibung oder zum Verständnis von faktischen Handlungen erforderlich sind, rücken auch sie in den Fokus soziologischer Überlegungen.[100] Dies dann allerdings nicht im Sinne eines Gelten-Sollens, sondern vielmehr als faktische Determinante einer bestimmten Handlungsweise und ggf. im Hinblick auf die Untersuchung, inwiefern dieses Verhalten den Normen tatsächlich entspricht. In einer soziologischen Überlegung erhält die Frage nach der Norm-Geltung demzufolge eine völlig andere Dimension als aus Sicht der Jurisprudenz.[101]

Indem der Einzelne sein Verhalten rein tatsächlich an verschiedenen, teils einander widersprechenden Ordnungen auszurichten vermag und sei es nur durch Verhehlung der Normüberschreitung, sei die Soziologie ohne weiteres in der Lage, das Nebeneinander der verschiedenen Ordnungen und derer Geltung anzuerkennen.[102] Eine reduzierte Geltung der Ordnung ergebe sich indessen dann, wenn die Überschreitung beinahe zur Regel geworden ist; zwischen Geltung und Nichtgeltung sei dann für den Soziologen wie für den Juristen kein strenges Alternativverhältnis feststellbar, sondern durchaus ein fließender Übergang.[103] Zu beachten ist allerdings, dass hinsichtlich der Geltung des einzelnen Rechtssatzes für Max Weber juristisch uneingeschränkt ein Alternativverhältnis von Geltung und Nichtgeltung existiert.[104]

Unterdessen bleibt auch im Hinblick auf den soziologischen Geltungsbegriff Max Webers festzuhalten: das Reale, nicht das Ideelle steht im Zentrum der Interesse der Soziologie.[105]

Auch diesbezüglich trennt Max Weber somit Empirie und normative Disziplin ganz konsequent und bleibt seiner Linie der Scheidung von Sein und Sollen damit treu.

III. Die rationale Entwicklung des Rechts als Kennzeichen der Moderne

Die gesamte gesellschaftliche Entwicklung ist nach Überzeugung Max Webers durch eine Reihe fundamentaler Besonderheiten gekennzeichnet.[106] Die wohl elementarste Erscheinung ist ihre Rationalität.[107]

Max Weber sieht in der Rationalisierung des Rechts, insbesondere im Zusammenhang mit der kapitalistischen Entwicklung des Wirtschaftslebens, das auffälligste Merkmal der okzidentalen Moderne, das sämtlichen Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens eine ganz signifikante Eigenart zuteil werden lässt.[108] Insofern nimmt die rationalen Entwicklung des Rechts in seinen rechtssoziologischen Untersuchungen eine ganz herausragende Stellung ein.

1. Die Herausbildung einer formal- rationalen Rechtsordnung

Die Grundannahme Max Webers lautet, dass sich die Gesellschaft mitsamt all ihrer Erscheinungsformen zu fortschreitender Rationalität hin entwickelt.[109] So wie sich die Gesellschaft als Ganzes betrachtet in einem Prozess rationaler Evolution fortentwickelt hat, so lässt sich auch anhand des Rechts als gesellschaftliche Erscheinungsform der Rationalisierungsprozess und seine Entwicklung genau feststellen.[110]

Max Weber hat den alles umfassenden Rationalisierungsprozess vor allem anhand seines Vortrags „Wissenschaft als Beruf“[111] dargestellt.

2. Die „Entzauberung der Welt“ oder: der Idealtyp eines formal-rationalen Rechts

„Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet...nicht eine allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.“[112]

[...]


[1] Heldrich, AcP 186 (1986), 74, 99; Kißler, 2.4.1, 80; Raiser, JZ 1970, 665, 670.

[2] Raiser, Das lebende Recht, 23; ders., Einführung in die Rechtssoziologie, 1; Gurvitch, 40; Heldrich, AcP 186 (1986), 74, 78.

[3] Röhl, Rechtssoziologie, § 14, 87; Rottleuthner, Rechtstheorie, A. IV. 1), 25.

[4] Raiser, Das lebendes Recht, 26; Creifelds, Rechtswörterbuch, Stichwort: Rechtssoziologie, 1113; Rehbinder, Rechtssoziologie, § 1, 2.; Schünemann, 3. Teil, § 12, 2., 73.

[5] Raiser, ebenda.

[6] Naucke, Rechtsphilosophie, Rn. 6, Fn.1; ders., Sozialwissenschaften, VI., 2., 38; Schlapp, Theorienstrukturen und Rechtsdogmatik, I.1.3, 20; Struck, JZ 1975, 84.

[7] Rüthers, Rechtstheorie, § 7, Rn. 310; L. Raiser, DRiZ 1968, 98.

[8] Creifelds, Rechtswörterbuch, Stichwort: Rechtsdogmatik, 1101; Tilch, Deutsches Rechtslexikon, Bd. 3, Stichwort: Rechtsdogmatik, 47.

[9] Rüther, a.a.O., § 7, Rn. 312.

[10] Rehbinder, Rechtssoziologie, § 1, 2; Raiser, Das lebende Recht, 26; Harenburg, IV. 2.4, 7, 270.

[11] Heldrich, AcP 186 (1986), 74, 105; Raiser, a.a.O., 1. Teil, 2. Abschnitt, I. 5., 33; Schünemann, 2. Teil, § 6, 1., 23; Albert, V., 29; Dreier, Rechtstheorie, II. 1., 15; Harenburg, I., 2.1, 7, II., 3.3.1, 146.

[12] Raiser, a.a.O., 27; von Savigny, 8 f.; Henkel, Rechtsphilosophie, § 1, 1.

[13] Mastronardi, Juristisches Denken, Rn. 866.

[14] Mastronardi, ebd.

[15] Harenburg, I. 2.1, 8.

[16] Carbonnier, Rechtssoziologie, 18.

[17] Carbonnier, a.a.O., 20; Lautmann, Soziologie, 3., 26; Luhmann, Soziologische Beobachtung, II., 19.

[18] Rehbinder, Rechtssoziologie, § 1, 2; Dreier, Moral, 7. Kap., I., 218 f.; Kißler, 1.2.2., 23.

[19] Luhmann, Ausdifferenzierung; Kap. 6, I., 117; Girtler, 1.2., 15 f.; Llewellyn, 54, 66; Dux, Examinatorium Rechtssoziologie, 20; Schmitt, I. Kap., 1; Harenburg, I., 2.1, 7; Rottleuthner, Rechtstheorie, A., I., 14.

[20] Hume, 3. Buch, 1. Teil,1. Abschnitt, 211.

[21] Kelsen, Methodische Grenzen, I., 5; Schlapp, I.1.3., 21; Horvath, 2. Teil, 1., 102.

[22] Adomeit, Rechtstheorie, Teil 1, 1. e), 23; von Mettenheim, 1. Kap., 1; Kaufmann/ Hassemer, Grundprobleme, VIII., 46; Meyer, 1. Kap., § 2, III. 2. aa), 27 f; Zippelius, Rechtsphilosphie, Kap. I, § 4, III., 14.; Kelsen, Reine Rechtslehre, I. 4. b), 5; Weinberger, VIII., 2., 193 f.

[23] Röhl, Rechtssoziologie, § 13, 79.

[24] Röhl, a.a.O.; § 12, 76.

[25] Weber, WuG, 1; Trubek in: Breuer/ Treiber: 152, 153; Rehbinder, Max Weber, 127.

[26] Rehbinder, Bestandsaufnahme, 470, 471.

[27] Loos, Wert- und Rechtslehre, 36 f.

[28] [28] Ryffel, 1. Teil, 3. c), 64.

[29] Loos, Wert- und Rechtslehre, 4. Kap., 1. Abschnitt, a), 93.

[30] Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 291; Larenz, Methodenlehre, 86.

[31] Larenz, ebd.

[32] Engisch, 67, 78; Larenz, a.a.O., 87.

[33] Weber, WL, 320; Loos, ebd.

[34] Weber, a.a.O., 182; Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, 290 f.; Larenz, a.a.O., 87 f.; Loos, a.a.O., 93 f.

[35] Larenz, Methodenlehre, 91 (Fn. 6).

[36] Engisch, 67, 76.

[37] Engisch, 67, 77.

[38] Engisch, ebd.

[39] Weber, WL, 312; Engisch, ebd.

[40] Weber, WL, 312; Engisch, 67, 77.

[41] Weber, ebd.

[42] Weber, ebd.

[43] Weber, a.a.O., 313.

[44] Weber, ebd..

[45] Stammler, Wirtschaft und Recht, 55.

[46] Engisch, 67, 77 f.

[47] Weber, a.a.O., 313.

[48] Stammler, a.a.O., 670 ff.

[49] Stammler, a.a.O., 673.

[50] Weber, WL, 320 f.; Engisch, 67, 76.

[51] Würtenberger, Vorwort, 1, 6.

[52] Weber, a.a.O., 320 f.

[53] Weber, a.a.O., 321.

[54] Weber, ebd..

[55] Weber, ebd.

[56] Weber, ebd.

[57] Weber, ebd.

[58] Weber, a.a.O., 322 f.

[59] Weber, WL, 337.

[60] Weber, a.a.O., 339.

[61] Weber, a,a.O., 301; ders., Debatte I, 265, 268; Engisch, 67, 78.

[62] Weber, WL, 349.

[63] Weber, a.a.O., 358 f.

[64] Weber, a.a.O., 319, 358.

[65] Weber, a.a.O., 304.

[66] Weber, a.a.O., 336.

[67] Weber, WL, 303 ff.,322, 328 f., 333 ff., 345 f., 348 f.; ders., Renzension Lotmar, 723; Behlert, FS Blankenburg, 149, 153; Girtler, 9.1., 162; Ryffel, 1. Teil, 3. c), 71.

[68] Weber, a.a.O., 87; Loos, Wert- und Rechtslehre, 94, 96 (Fn. 34).

[69] Loos, a.a.O., 94.

[70] Weber, WuG, 1; Albert, I., 10 f.; Ryffel, a.a.O., 65; Weiß, 2.3.1, 45.

[71] Weber, WL, 86 ff.; Loos, a.a.O., 106.

[72] Weber, a.a.O., 87.

[73] Weber, ebd.

[74] Weber, WL, 87 f; bzgl. des Begriffs “Paragraph“: ders., a.a.O., 346.

[75] Weber, a.a.O., 321 f.; Loos, Wert- und Rechtslehre, 106.

[76] Weber, a.a.O., 322; Loos, a.a.O., 107.

[77] Loos, ebd.

[78] Loos, a.a.O., 108.

[79] Weber, a.a.O., 348.

[80] Loos, Wert- Und Rechtslehre, 108.

[81] Weber, WL., 345 f.

[82] Hesse, ZVglRWiss 82 (1983), 242 f.

[83] Herberger, 8.6.2., 408; Bydlinski, Rechtsethik, 11, 58; Rumpf, 1. Kap., 3 f.

[84] Weber, WuG, 181; ders., RS, 69; Kaufmann, Rechtsphilosophie, 9. Kap., I., 136.

[85] Weber, WuG, 16; ders., WL, 573.

[86] Weber, WL, 575; ders., WuG, 17.

[87] Weber, WuG, 17; ders., WL, 575 f.

[88] Weber, WuG, 17; ders., WL 576.

[89] Weber, WL, 576; ders., WuG, 17.

[90] Weber, WL, 573; ders., WuG, 16; Treiber, FS Blankenburg, 245, 246 f.; Bader, 296, 299; Mastronardi, II., 2.2.2.2., Rn. 130.

[91] Weber, WuG, 16.

[92] Weber, ebd.; ders.; WL, 573 f.

[93] Weber, WL, 574; ders., WuG, 16.

[94] Weber, WuG, 181; ders., RS, 69; Kaufmann, Rechtsphilosophie, 9. Kap., I., 136.

[95] Weber, WuG, 17, 181 ff.; ders., WL, 323, 439 f.

[96] Weber, WL, 439, 552 f.

[97] Weber, WuG, 181.

[98] Weber, ebd.

[99] Weber, WuG, 181; ders., RS, 69; Kaufmann, Rechtsphilosophie, 9. Kap., I., 136.

[100] Baurmann, JuS 1991, 97, 98.

[101] Bechtler, 1. Kap., § 5, 43 f.; Baurmann, ebd.

[102] Weber, WuG, 16 f.

[103] Weber, a.a.O., 17; Bader, 296, 318.

[104] Weber, a.a.O., 14.

[105] Baurmann, ebd.

[106] Baurmann, JuS 1991, 97, 99.

[107] Baurmann, ebd.; Kalberg, 9; Käsler, Werk und Wirkung, 7, 10; Zingerle, III., 4., 99; Hesse, ZVglRWiss 82 (1983), 242, 243; Dux, Legitimation, VI., 9., 263.

[108] Hesse, ebd.

[109] Raiser, Lebendes Recht, 3. Teil, 17. Abschnitt, IV. 1., 309; Baurmann, ebd.; Schluchter, Weltbeherrschung, I., 10; Ziegert, 3.2.1, 68 f.; Hagen, III. 2. b), 199.

[110] Cowan, 161, 177.

[111] Weber, WL, 582 – 613.

[112] Weber, WL, 594; Schluchter, Rationalisierung, 36; Freund, 9, 11; Löwith, 310, 317; Raiser, a.a.O., 118; von Kahler, 67, 71.

Ende der Leseprobe aus 111 Seiten

Details

Titel
Das Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik am Leitfaden der Auffassung Max Webers
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Note
8 Punkte
Autor
Jahr
2004
Seiten
111
Katalognummer
V35794
ISBN (eBook)
9783638356091
Dateigröße
847 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Verhältnis, Rechtssoziologie, Rechtsdogmatik, Leitfaden, Auffassung, Webers
Arbeit zitieren
Stefan Redlin (Autor:in), 2004, Das Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik am Leitfaden der Auffassung Max Webers, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/35794

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