Über Arthur Schnitzlers ´Reigen´ mit Fokus auf das Thema Zensur


Seminararbeit, 2001

40 Seiten, Note: 13 Punkte


Leseprobe


Inhalt

Einführend

Teil I: Arthur Schnitzler – Leben & Werk
- Frühe Jahre
- Der Mediziner
(Exkurs – Schnitzler und Freud)
- Der Autor
- Der Jude
- Arthur Schnitzler und die Frauen
- Arthur Schnitzler in der Gegenwart

Teil II: Der Reigen um den Reigen
- Der Reigen
(Exkurs: Wien um 1900)
- Der Reigen um den Reigen – Publikations- und Skandalgeschichte erster Teil (bis etwa 1920)
(Exkurs: 1918 – Fall der Zensur nach Kriegsende)

Teil III: Die Reigen-Prozesse
- Der Weg zur Uraufführung
(April 1919 – Dezember 1920)
- Der erste Reigen-Prozess
(3.-6. Januar 1921)
- Tumulte an den Spielplätzen
(Februar – November 1921)
- Der zweite Reigen-Prozess
(5.–18. November 1921)

Nachlese - Schluss mit dem Reigen!

Anhang: Literaturverzeichnis

Einführend

Arthur Schnitzlers „Reigen“. Das Thema, welches sich der Verfasser dieser Arbeit vorgenommen hat, könnte nicht weiter formuliert sein. So wird es unmöglich sein, die gesichtete und zum ganzen Thema auch einschlägige Sekundärliteratur im Rahmen dieser vom Umfang her begrenzten Arbeit, umfassend zu würdigen. Aber es soll im Folgenden ja eben auch gar nicht darum gehen, lediglich das vorhandene Schrifttum zusammenzutragen. Vielmehr müssen eigene Argumentationen – nicht nur, aber vor allem – anhand der Primärliteratur erarbeitet werden. Und eben deshalb lautet die erste Aufgabe, die wichtigsten Akzente des ganzen Themas in freier Würdigung herauszufiltern, Reigen aber doch mitsamt seiner Skandalgeschichte ausreichend zu beleuchten.

Sicherlich wird vieles an der Oberfläche bleiben müssen und doch wird es für den Juristen eine schöne Arbeit werden, im Rahmen dieses Seminars einmal über den rechtlichen Tellerrand hinauszublicken, in andere Fakultäten vorzudringen und Reigen als Kunstwerk, samt dem Reigen um ihn selbst zu rezipieren. Zu rezipieren und zu werten.

Da es sich aber um ein rechtshistorisches Seminar handelt, welches erst aus dem Oberthema „Zensur“ seinen rechtlichen Hintergrund gewinnt, fällt eine Gewichtung der Ansatzpunkte nicht all zu schwer: Keinesfalls darf sich diese Arbeit in der germanistischen und soziologischen Betrachtungsweise erschöpfen, sondern muss sich aus Gründen der Spezialität umfangreich mit den bisher relativ wenig beleuchteten juristischen Aspekten vor dem konkreten geschichtlichen Hintergrund auseinandersetzen.

Schon jetzt kann festgestellt werden, dass die oft bemühte Frage „Kunst oder Pornographie?“ zumindest in diesem Fall irrelevant sein wird. Denn, selbst wenn man eine bedrohliche Gegenwartsnähe der damaligen Vorgänge sehen muss (man denke nur an den Prozess Ziesel contra Grass[1]), kann man hier getrost eine Lücke wagen, da sich eine solche Frage selbst vor dem heutigen (grund)rechtlichen Hintergrund des juristischen Kunstbegriffs um Art. 5 III GG eigentlich gar nicht stellt. Und schon damals – zu ganz anderen Zeiten – hatten hierüber letztendlich nicht die Juristen aus eigener Sachkunde, sondern sachverständige Gutachter zu befinden. Die Frage „Kunst oder Pornographie?“ – soviel sei vorweggeschickt – war in den Reigen Prozessen, wie in zahlreichen weiteren „Kunst-Prozessen“ auch[2], immer lediglich Aufhänger für politische Zwecke und wurde immer nur von Menschen bemüht, welche mit der Kunst an sich reichlich wenig zu schaffen hatten. Der festen Überzeugung des Autors dieser Arbeit nach, kann man ohne einschlägige Literatur bemühen zu müssen, ohne weiteres davon ausgehen, dass sich diese Frage im Zusammenhang mit Reigen – egal aus welcher Epoche heraus betrachtet – als höchst ermüdend selbst disqualifiziert. Kurz: Nimmt man einen strengen Kunstbegriff, dann ist der Übergang fließend und somit eine deutliche und juristisch sinnvolle Abgrenzung in Grenzfällen wie dem vorliegenden unmöglich. Hält man es aber mit der heute wohl herrschenden Meinung derer, die dazu berufen sind, Kunst zu bewerten und folgt dem weiten (nach Professor Beuys: „erweiterten“) Kunstbegriff, so muss man zu dem Schluss kommen, dass das Wort „oder“ nicht derart vereinfachend in einer Frage direkt nach dem Wort „Kunst“ platziert werden darf. So gesehen, also eine Anti-Frage.

Im Folgenden soll der eigentliche juristische Aspekt ans Ende gestellt werden (Teil III), um zuvor durch eine literaturwissenschaftliche Betrachtungsweise über eine Biographie Schnitzlers (Teil I) und eine Analyse der Primärliteratur samt der zeitgenössischen Geschehnisse um das Werk (Teil II), eine Verständnisgrundlage für die Bewertung der damaligen juristischen und gesellschaftspolitischen Probleme zu schaffen.

Bis hierhin unterscheidet sich eine rechtshistorische Arbeit also nicht viel von einer rechtshängigen juristischen Arbeit: Vor allem muss der Sachverhalt erfasst werden. Der Unterschied ist aber der, dass kein Urteil, keine juristische Lösung angestrebt werden muss; sondern stattdessen eine Beleuchtung der gesellschaftlichen und daraus resultierenden rechtlichen Grundlagen der jeweiligen Zeit vorzunehmen ist. Namentlich wird es hier auch darum gehen, so knapp als Möglich die gesellschaftlichen Verhältnisse speziell im Wien Arthur Schnitzlers zu erörtern.

Mit der Zensur geht immer der Skandal einher. Fast immer – zumindest in der Kunst – setzt der Skandal, das „schockierende, anstößige Verhalten, das Ärgernis, das Aufsehen und Empörung hervorrufende Ereignis, der schamlose Verstoß gegen die guten Sitten oder Gesetze“[3] neue Maßstäbe. Es wird mit bestehenden Wertvorstellungen auf künstlerischer, ästhetischer, moralischer, religiöser oder politischer Ebene gebrochen. Verkrustete Traditionen werden schmerzhaft verletzt. Die Gesellschaft als Ganze wird aufgerüttelt und irritiert. Aus all diesen Gründen dient der Skandal so vorzüglich dazu Zeitgeschichte zu reflektieren. Und eben unter diesem Gesichtspunkt möchte der Verfasser die folgenden Ausführungen verstanden haben wissen: Der Skandalon[4] um Reigen als Spiegel seiner Zeit.

Teil I Arthur Schnitzler – Leben & Werk

Arthur Schnitzlers Leben ist hervorragend dokumentiert. Den wichtigsten Beitrag hierzu lieferte der Autor selbst, dessen unvollendete Autobiographie Jugend in Wien neben den teilweise unveröffentlichten Tagebüchern steht, welche heute unschätzbare Quellen der Literaturgeschichte sind und beeindruckende Einblicke in das Seelenleben eines Genies gewähren.

Der Verfasser dieser Arbeit möchte somit die Möglichkeit nutzen in gewisser Ausführlichkeit Leben und Werk Arthur Schnitzlers zu dokumentieren.[5] Hierdurch soll eine Verständnisgrundlage für die folgenden Kapitel geschaffen werden.

- Frühe Jahre

Arthur Schnitzler wird am 15. Mai 1862 in Wien als erstes Kind des Regierungsrates und Universitätsprofessors der Larynologie (Kehlkopfmedizin), Dr. Johann Schnitzler (1835-1893) und Louise Schnitzler geboren. Der aus bürgerlichen Verhältnissen stammende Vater war nicht nur einer der erfolgreichsten Mediziner seiner Zeit, sondern auch Politiker und Herausgeber von medizinischen Zeitschriften internationalen Ranges. Von 1880 bis zu seinem Tode war er Direktor der Allgemeinen Wiener Poliklinik. Seine Mutter (1840-1911) war Tochter des renommierten Dr. med. et phil. Phillipp Markbreiter (1810-1892), welcher, wie sein Schwiegersohn als Herausgeber medizinischer Fachzeitschriften internationale Berühmtheit erlangte. Der am 13. Juli 1865 geborene Bruder Arthur Schnitzlers, Julius Schnitzler (1865-1939) brachte es neben einem Professor der Chirurgie zum Primararzt des Wiener Krankenhauses. Seine am 20. Dezember 1867 geborene Schwester Gisela (1867-1953), sollte 1889 Arthur Schnitzlers Studienkollegen Marcus Hajek (1861-1941), später Professor der Larynologie heiraten.

Von 1871 bis 1879 besuchte er das Akademische Gymnasium in Wien, an welchem einige Jahre später auch Hugo von Hofmannsthal seine Matura ablegen sollte.

Schnitzlers Kindheit und frühe Jugend verlief größtenteils harmonisch. Man muss dem damaligen Hause Schnitzler eine grundlegende Liberalität unterstellen, welche die Neigungen der Kinder zumindest bis zu einem gewissen Grad tolerierte und akzeptierte. Bereits mit 12 Jahren, um 1874, finden sich erste literarische Versuche.[6] Zwar ist aus dieser Zeit lediglich ein verlorenes Drama in zwei Akten: „Der ewige Jude“ erwähnenswert, Schnitzlers schriftstellerisches Talent zeigte sich aber schon damals überdeutlich und wurde von den Eltern zumindest oberflächlich gefördert. Trotzdem stand natürlich immer fest: Das wahre Talent des Sohnes lag in der ernsthaften Medizin.

- Der Mediziner

Betrachtet man diese Konstellation einer Medizinerfamilie durch und durch, so wird schnell klar, dass Schnitzlers Weg zum Arzt vorbestimmt sein sollte. Sowohl Großvater als auch Vater waren Ärzte von bedeutendem Rang. Vor allem von dem ältesten Sohn wurde zweifelsohne erwartet, die Familientradition gebührend weiterzubetreiben. Selbst wenn nichts darauf hindeutet, dass der Vater seinen Sohn zum Studium der Medizin zwang, muss in Gesamtbetracht der Tatsachen davon ausgegangen werden, dass dem jungen Arthur Schnitzler für autodidakte Lebensplanung nur wenig Raum blieb. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Arthur Schnitzlers medizinische Laufbahn vom ethisch noch in den moralistischen Vorstellungen der Jahrhundertmitte verwurzelten Über-Vater bestimmt und durchgeplant wurde.

Dieser tiefe innere Konflikt zwischen Pflicht und Neigung ist auch heute noch typisch für Akademikerfamilien. Schnitzler stellten sich damals dieselben Probleme, welche auch heute noch so manchen der Zeitgenossen des Verfassers dieser Arbeit beschäftigen: Regelmäßig bleiben Versuche aus diesen – in jeglicher Bedeutung der Worte – gefestigten Familienverhältnissen auszubrechen erfolglos. Selbst einem Arthur Schnitzler ist dies zu Lebzeiten des Vaters nie vollends gelungen, obwohl er seiner Situation äußerst kritisch gegenüberstand. Folgender Auszug aus den Tagebüchern Schnitzlers vom 7.Mai 1885, kurz vor dem letzten Examen des damals 23-jährigen, soll dies belegen:[7]

„Donnerstag Abend. Ich vergesse ganz was und wer ich bin. Dadurch spüre ich, dass ich nicht in der richtigen Bahn bin. [...], aber ich habe das entschiedene Gefühl, dass ich abgesehen von dem wahrscheinlich materiellen Vorteil ethisch einen Blödsinn begangen habe, indem ich Medizin studierte. Nun gehöre ich unter die Menge [...] Ich fühle mich häufig ganz niedergebügelt! Mein Nervensystem ist dieser Fülle deprimierender und dabei ästhetisch niedriger Affekte nicht gewachsen [...] Und doch! Woher sollen sie denn nur wissen, dass in mir vielleicht was vorgeht, wovon sie nie und nimmer eine Ahnung haben können; vergeß ich’s in der letzten Zeit schier selbst... Und am End ist’s wirklich nichts als eine Art von Größenwahn.“

Er schließt diesen Eintrag über seine, durch die Prüfungsvorbereitungen noch verschlimmerte innere Zerrissenheit mit Folgendem bemerkenswerten Satz:

„Nun, es kommt bald die Zeit in welcher ich mir Gewissheit über mich selbst verschaffen werde. Warte, Kerl, ich muss dir auf den Grund kommen!“

Tatsächlich bedeutete ihm eine gesicherte materielle Existenz nur wenig, was nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass inmitten eines wohlsituierten Haushaltes diesbezüglich keine Bedrohung auszumachen war.

Im Herbst 1879 nahm er also an der medizinischen Fakultät der Universität Wien sein Studium auf. Freilich ohne echte Überzeugung, eher mit einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber den Vorstellungen des Vaters. Von wirklich ernsthaften Streitigkeiten zwischen Vater und Sohn wird nichts berichtet und somit sollte dieser Aspekt auch nicht künstlich überbewertet werden. Schnitzler führte seine Studien mit ordentlicher Konsequenz und verbrachte die restliche Zeit damit, sich mehr und mehr philosophischen Problemen zuzuwenden. Während er sich in den Augen des Vaters nichts zu schulden kommen ließ, fand er in der neuen Medizin sogar Betätigungsfelder, die mit seiner wahren Neigung bestens kompatibel waren: Psychiatrie und Psychoanalyse waren Schnitzlers Steckenpferde und mit seiner einzigen medizinischen Publikation Über funktionelle Aphonie und ihre Behandlung durch Hypnose und Suggestion schlug er „zwei Fliegen mit einer Klappe“: Einerseits trat er in die Fußstapfen seines Vaters als Kehlkopfspezialist und andererseits gelangte er auf diese Art wissenschaftlich in die unmittelbare Nähe Siegmund Freuds, der ebenfalls in Wien lehrte und praktizierte.

Exkurs: Schnitzler und Freud

Trotz der thematischen Nähe zwischen den Beiden Zeitgenossen (Freud war nur 6 Jahre älter) sollte es nie zu einer Verbindung kommen, welche über zufällige Treffen hinausging, was ob der Tatsache, dass sie in der gleichen Stadt lebten und sich gegenseitig außerordentlich schätzten schon verwundert. Eine einzige Quelle verdeutlicht das Verhältnis zwischen Schnitzler und Freud aufs trefflichste. In einem Glückwunschschreiben zum 60. Geburtstag Schnitzlers stellt sich Freud selbst die Frage nach seinem bisherigen Zögern:[8]

„Die Antwort auf diese Frage enthält das mir zu intim erscheinende Geständnis. Ich meine, ich habe sie gemieden aus einer Art von Doppelgängerscheu. [...] ich habe immer wieder, wenn ich mich in ihre Schöpfungen vertiefte, hinter deren poetischen Schein die nämlichen Voraussetzungen, Interessen und Ergebnisse zu finden geglaubt, die mir als die eigenen bekannt waren. [...] Das alles berührte mich mit einer unheimlichen Vertrautheit. So habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie durch Intuition – eigentlich aber in Folge feiner Selbstwahrnehmung – alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe.“

Mit den sinngemäß selben Gedanken beschäftigte sich Schnitzler, der in einer Tagebuchnotiz vom 16.08.1922 vermerkte:[9]

„[...], und ich verspüre eine gewisse Lust, über allerlei Untiefen meines Schaffens (und Daseins) mich mit ihm zu unterhalten – was ich aber lieber unterlassen will.“

Exkurs Ende

Jedenfalls kann unterstellt werden, dass Schnitzlers Vater den Hang des Sohnes zur Schreiberei wahrnahm und bis zu einem gewissen Grad auch förderte. So stellte der Vater seinen Sohn bereits 1880 als Korrektor seiner medizinischen Zeitschriften ein. 1886 sollte er dann zum Redakteur der internationalen Klinischen Rundschau aufsteigen, für die er aber nur den einen, oben angeführten Beitrag verfassen sollte.

Am 30. Mai 1885 schließlich promovierte Arthur Schnitzler zum „Doktor der gesamten Heilkunde“ und nahm dann, nach einer kürzeren Reise nach Mailand, sofort seine Arbeit als Mediziner auf. Innerhalb von zwei Jahren sollte er es über eine traditionelle praktische Ausbildung in die Chirurgische Abteilung der väterlichen Poliklinik schaffen.

Wenn man von nun an die weitere Biographie Schnitzlers studiert, nehmen die Berichte über medizinische Leistungen zugunsten seiner literarischen Aktivitäten mehr und mehr ab. Schon zu Lebzeiten des Vaters ging die Metamorphose des Arztes zu einem Schriftsteller in seine Endphase und endete wohl tatsächlich am 2. Mai 1983, dem Todestag des Vaters. Sofort im Anschluss daran schied Arthur Schnitzler aus der Poliklinik aus und eröffnete eine Privatpraxis, die er aber zunächst nur rudimentär und später gar nicht mehr betreiben sollte.

- Der Autor

Schnitzlers dokumentierte Bibliographie reicht von 1880 bis hin zu seinem Tode. Neben seiner postmorthumen Würdigung als Philosoph, ist er hauptsächlich als Dramatiker und Erzähler in die deutschsprachige Literaturgeschichte eingegangen. Letzteres mit besonderen Verdiensten ab dem Leutnant Gustl – vielleicht sogar als Erfinder – um das Stilmittel des inneren Monologes.[10] Der grüne Kakadu ist exemplarisch für eine von Schnitzlers bevorzugten Formen: Den Einakter, wie er vereinzelt schon im 18. Jahrhundert unter anderem bei Goethe[11] (Die Mitschuldigen; Lustspiel in einem Akt) zu finden ist. Seine beiden Romane Sterben von 1895 und Der Weg ins Freie von 1909 finden heute nur noch wenig Beachtung.

1914, als unter der Regie von Holger Madsen in Kopenhagen der erste Stummfilm nach einer Vorlage Schnitzlers Elskovsleg[12] (nach Liebelei) gedreht wurde, tat sich ihm ein vollkommen neues Betätigungsfeld auf, welches er bis zu seinem Ende konsequent betreiben sollte. Einen Monat vor seinem Tode, fand die Premiere zum ersten und einzigen Tonfilm nach einem Drehbuch Schnitzlers statt. Metro-Goldwyn-Mayer verfilmte unter der Regie von Jacques Feyder Schnitzlers Spiel im Morgengrauen unter dem Titel Daybreak.[13]

Schnitzlers Werk ist autobiographisch stark geprägt, handelt es doch in den meisten Fällen in seinem direkten zeitlichen und räumlichen Umfeld: Dem Wien um die Jahrhundertwende, das zu einem späteren Zeitpunkt dieser Arbeit noch genauer zu betrachten sein wird. Schnitzlers erklärter Wille war es, der Gesellschaft dessen Teil er selbst war, einen Spiegel vorzuhalten. Unter diesem Gesichtspunkt allein lässt sich auch schon die Frage beantworten, warum Schnitzler ein Skandalautor war: Er wollte provozieren. Nicht nur der hier zu behandelnde Reigen war Stein des Anstoßes. Wegen Leutnant Gustl wurde er schon 1901 seines Offiziersranges, welchen er zwischenzeitlich als Militärarzt errungen hatte, für verlustig erklärt. Professor Bernhardi kam 1912 zwischenzeitlich auf den Index der Zensur. Schnitzler kann also mit Fug und Recht als Kämpfer an mehreren Fronten gegen die Zensur bezeichnet werden.

Nichts desto trotz, oder vermutlich gerade deswegen, fand er in Samuel Fischer einen ambitionierten, damals noch berliner Verleger, von dem er 1895 erstmalig den Roman Sterben publizieren ließ. Der S. Fischer Verlag sollte Schnitzler durch sein ganzes weiteres Leben begleiten.

Das Werk Arthur Schnitzlers einem epochalen literaturhistorischen Ordnungsbegriff zu unterwerfen, ist alles andere als einfach. Einzig sicher ist die Zuordnung seines Werkes – auch wenn Schnitzler als Person kaum als dekadent bezeichnet werden kann[14] – in den Bereich der Dekadenzliteratur, welche aber nicht als klassischer Ordnungsbegriff anerkannt ist.[15] In wieweit eine Klassifizierung und wiederum Unterklassifizierung und eine Deutung der daraus entstehenden Schnittmengen diesbezüglich aber nötig und sinnvoll ist, war seit jeher auch in Germanistenkreisen umstritten und soll deswegen auch diesen vorbehalten bleiben.

Trotzdem sei dem Verfasser, welcher im Rahmen dieser Arbeit Gelegenheit hatte, sich in die Materie einzulesen eine kurze, oberflächliche Wertung gestattet: Interessant scheint die Diskussion, ob Schnitzler nun Impressionist (Fritsche nennt ihn sogar als Hauptvertreter des literarischen Impressionismus)[16] oder als missverstandener Expressionist lediglich Kritiker der impressionistischen Menschen[17] war; Ob er den Augenblickhaften Eindruck (Impressionismus)[18] suchte und/oder lebte. Oder ob er den Wesensausdruck (Expressionismus)[19] zur Grundlage seines Seins und/oder Schaffens machte. Insgesamt kommt es mir so vor, wie wenn die Begriffe jeweils mit den gängigeren Worten „introvertiert“ und „extrovertiert“ vergleichbar wären.

Sein literarisches Werk, an sich, ist diesbezüglich wohl nicht zu klassifizieren, gibt es doch kaum überblickbares Schrifttum[20] in dem die verschiedensten Ansichten vertreten werden. Ohne unterstellen zu wollen, dass Schnitzler solche Begriffe wichtig waren, scheint eines aber sicher: Schnitzler als Mensch war Impressionist und hat sich selbst für einen solchen gehalten. Vereinfacht ausgedrückt, zählen für den impressionistischen Menschen nur Augenblickserlebnisse. Der Impressionist schwankt – in Abhängigkeit vom Grad der Befriedigung, welcher der jeweilige Augenblick mit sich bringt – zwischen einem Glauben an die eigne Superiorität als Impressionist und einem bis in die Selbstzerstörung ausuferndem Selbstzweifel. Eine Biographie kann keine Antwort auf diese Fragen geben, insbesondere kann wohl aus einer gewissen Strebsamkeit nicht auf eine expressionistische Existenz geschlossen werden. Eben sowenig lässt die Tatsache, dass Schnitzler – schon bedingt durch sein alter ego als Mediziner – ein analytischer Schreiber war, einen solchen Schluss zu. Tagebuchauszüge aber, wie der oben im Unterkapitel „Der Mediziner“ bemühte, lassen auf eine solche Geisteshaltung schließen. Arthur Schnitzler war Impressionist genauso wie seine Charaktere. In der Tatsache, dass er seinen Charakteren kritisch gegenüber steht, ist nichts weiter hineinzuprojektieren, als die Tatsache, dass er selbst ein äußerst selbstkritischer Mensch war.

- Der Jude

Schnitzler[21] war sich seines Judentums wohl bewusst und die Presse tat ihr möglichstes, ihn immer wieder daran zu erinnern.[22] In seiner unvollendeten Autobiographie Jugend in Wien führt er hierzu aus:[23]

„Es war nicht möglich, insbesondere für einen Juden, der in der Öffentlichkeit stand, davon abzusehen, dass er Jude war, da die anderen es nicht taten, die Christen nicht und die Juden noch weniger.“

Allerdings war Schnitzler kein Glaubensjude sondern verstand sein Judentum im Sinne einer Stammeszugehörigkeit. Dies liegt sicherlich schon daran, dass im Haushalt seines Vaters jüdische Traditionen schon keine Rolle mehr spielten. Dazu kommt Schnitzlers Abneigung gegen jeglichen Dogmatismus, was ihn einerseits von einer zu praktizierenden Religion abhielt. Andererseits führte diese Abneigung gegen übertriebene Organisation letztlich auch dazu, dass er den politischen Ausläufern des Zionismus zeit seines Lebens fernblieb.[24] Laut Harry Zohn betrachtete Schnitzler sich selbst als „agnostischen europäischen Juden deutscher Zunge und Kultur.“[25]

[...]


[1] Hierzu umfassend: Kunst oder Pornographie? - Der Prozess Grass gegen Ziesel

[2] vgl.: Petersen; Literatur und Justiz in der Weimarer Republik; S. 147 ff

[3] Naumann & Göbel; Das moderne Fremdwörterlexikon

[4] Wahrig; Deutsches Wörterbuch: Skandalon = griechisch für Skandal

[5] alle Daten aus: Urbach; Schnitzler-Kommentar; S.60 ff.; Zeittafel

[6] Fritsche; Dekadenz im Werk Arthur Schnitzlers; S. 58

[7] Urbach; Schnitzler-Kommentar; S. 10 f

[8] aus: Scheible, Hartmut; Nachwort in Braut/Traumnovelle; Reclam; 1971; S.105 f.

[9] aus: Scheible, Hartmut; Nachwort in Braut/Traumnovelle; Reclam; 1971; S.107.

[10] Fritzsche, Dekadenz im Werk Arthur Schnitzlers; S. 239

[11] Fritzsche, Dekadenz im Werk Arthur Schnitzlers; S. 237 mit Fußnote 1

[12] Kammer; Das Verhältnis Arthur Schnitzlers zum Film; S. 45 ff

[13] Kammer; Das Verhältnis Arthur Schnitzlers zum Film; S. 204 ff

[14] vgl.: Fritzsche, Dekadenz im Werk Arthur Schnitzlers; S. 48

[15] Werner; Impressionismus als literatur-historischer Begriff am Beispiel A. Schnitzlers; S. 3

[16] Fritzsche, Dekadenz im Werk Arthur Schnitzlers; S. 29

[17] allgemein: Offermanns; Arthur Schnitzler – Kritik des Impressionismus

[18] Der Volks-Brockhaus

[19] Der Volks-Brockhaus

[20] hier grundlegend: Allerdissen; A. Schnitzler: Impressionistisches Rollenspiel und

[21] Grundlegend: Abels; Sicherheit ist nirgends; Judentum und Aufklärung bei Arthur Schnitzler

[22] Schneider; Die Rezeption von Arthur Schnitzlers Reigen; S. 28

[23] Fritzsche, Dekadenz im Werk Arthur Schnitzlers; S. 66

[24] vgl.: Lindken; Arthur Schnitzler – Akzente und Aspekte; S. 76

[25] Schneider; Die Rezeption von Arthur Schnitzlers Reigen; S. 29 f

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
Über Arthur Schnitzlers ´Reigen´ mit Fokus auf das Thema Zensur
Hochschule
Universität Augsburg  (Lehrstuhl Prof. Becker)
Veranstaltung
Seminar zur Rechtsgeschichte
Note
13 Punkte
Autor
Jahr
2001
Seiten
40
Katalognummer
V3579
ISBN (eBook)
9783638122085
ISBN (Buch)
9783638859660
Dateigröße
1168 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Sehr dicht - einzeiliger Zeilenabstand. 984 KB
Schlagworte
Arthur Schnitzler, Reigen
Arbeit zitieren
Peter Oefele (Autor:in), 2001, Über Arthur Schnitzlers ´Reigen´ mit Fokus auf das Thema Zensur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/3579

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