Sachtextanalyse zur Leseförderung in einer heterogenen Klasse


Examensarbeit, 2014

82 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Sachtexte
2.1. Anforderungen an den Leser
2.2. Analytischer Umgang mit Sachtexten
2.3. Herausforderungen im DaZ- Unterricht

3. Lesekompetenz
3.1. Definition Lesen
3.2. Funktionen des Lesens
3.3. Begriffsklärung: Lesekompetenz (allgemein)
3.4. Modelle der Lesekompetenz
3.4.1. Lesekompetenzmodell nach PISA
3.4.2. Konzept der Lesesozialisationsforschung
3.4.3. Ein didaktischer Lesekompetenz-Begriff
3.4.4. Das Mehrebenenmodell nach ROSEBROCK/NIX
3.4.4.1. Die Prozessebene
3.4.4.2. Die Subjektebene
3.4.4.3. Die soziale Ebene

4. Lesefördermethoden
4.1. Laut-und Vielleseverfahren
4.2. Lesestrategien
4.3. Leseanimation

5. Lesesozialisation
5.1. Was ist Lesesozialisation?
5.2. Sozialisationsinstanzen
5.2.1. Familie
5.2.2. Schule
5.2.3. Peers

6. Unterrichtspraktischer Teil
6.1. Didaktische Vorüberlegungen - Beschreibung der Klasse
6.2. Äußere Rahmenbedingungen
6.3. Lernvoraussetzungen im Bezug auf das Thema
6.4. Legitimation des Themas

7. Planung, Darstellung und Reflexion der Einzelstunden
7.1 Planung und Darstellung der ersten beiden Unterrichtsstunden
7.2. Teilziele
7.3. Reflexion
7.4. Planung und Durchführung der dritten und vierten Stunde
7.5. Teilziele
7.6. Reflexion

8. Fazit

9. Literaturverzeichnis

10. Anhang
10.1. Abbildung Sachtext:
10.2. Abbildung Checkliste
10.3. Abbildung Aufgaben zum Üben der Konjunktionen:
10.4. Abbildung Lesetagebuch

1. Einleitung

Eine hohe Lesekompetenz gehört zu den zentralen kognitiven Basisfähigkeiten, die unumgänglich sind, um sich in der Wissensgesellschaft orientieren und etablieren zu können1. Die spezifische Förderung von Lesekompetenz bei Kindern mit Migrations- hintergrund stellt hier eine ganz besondere Herausforderung für die Lehrkräfte dar. So können Kinder mit Deutsch als Zweitsprache beispielsweise aus bildungsnahen oder bildungsfernen Elternhäusern kommen. Manche Kinder beherrschen ihre Erstsprache perfekt und verfügen über eine klare semantische und syntaktische Grundlage.2 Ande- re Kinder wiederum beherrschen weder ihre Erstsprache noch die Zweitsprache Deutsch genügend. Manche Schülerinnen und Schüler sind perfekt integriert in unsere Gesellschaft, andere wiederum sprechen auch mit ihren Freunden nur ihre Mutterspra- che, was zu keiner ausreichenden Sprachkompetenz führen kann.

Diese große Heterogenität erschwert die Förderarbeit der Lehrkräfte ungemein. In dieser Folgenden Arbeit soll an einem Unterrichtsbeispiel zum Thema Sachtextanalyse, ein möglicher Förderansatz erläutert werden. Die vorangestellte Theoriebetrachtung soll den Rahmen dafür liefern.

Das erste Kapitel gibt zunächst einen kurzen Überblick zum Thema Sachtexte. Da der unterrichtspraktische Teil die Sachtextanalyse zum Thema hat, müssen die theoretischen Rahmenbedingungen und ein Grundverständnis dafür geschaffen werden. Spätestens seit der PISA-Studie hat das Thema Sachtexte im Deutschunterricht an Bedeutung und Brisanz gewonnen. Die Frage danach, was ein Sachtext ist soll genauso untersucht werden, wie der analytische Umgang mit Sachtexten und die speziellen Herausforderungen an Schüler mit Deutsch als Zweitsprache.

Im Bezug auf die Leseförderung ist es zudem wichtig, den Begriff der 'Lesekompe- tenz' näher zu beleuchten. Daher wird im Anschluss an die theoretische Reflexion zu Sachtexten das Thema Lesekompetenz behandelt. Denn es kann nicht sinnvoll über Sachtexte und den Umgang mit ihnen im Unterricht nachgedacht werden, ohne den Aspekt der Lesekompetenz mit einzubeziehen. Der Terminus 'Lesekompetenz' wird sowohl aus Sicht der PISA-Studie als auch der Sicht der 'Lesesozialisationsforschung' näher erläutert. Aber auch die didaktische Perspektive darf nicht zu kurz kommen.

Diese soll aufzeigen, welch große Rolle das subjektive Selbstbild und das soziale Um- feld neben den kognitiven Fähigkeiten für ein erfolgreiches Lesenlernen spielen. Es ist wichtig, dass ein didaktischer Lesekompetenzbegriff die einzelnen Lernprozesse strukturiert erfasst, um auf den unterschiedlichen Ebenen Probleme erkennen, analy- sieren und in einem nächsten Schritt die entsprechenden Fördermaßnahmen optimal ableiten zu können.

Das Kapitel Leseförderung zeigt unter anderem die verschiedenen Möglichkeiten, Kinder für das Medium Buch und das Lesen zu begeistern. Hier werden anhand verschiedener Lesestrategien noch einmal explizit mögliche Fördermaßnahmen dargestellt und die Vielfältigkeit der didaktischen Möglichkeiten zur Unterstützung Leseschwacher Schülerinnen und Schüler aufgezeigt.

Des weiteren wird ein kurzer Überblick über die Lesesozialisation geschaffen. Es wird erläutert, welche Rolle die Sozialisationsinstanzen, angefangen bei den Eltern über die Schule bis hin zu den Peers, bei der Leseentwicklung spielen. Ob jemand gerne, viel oder kaum liest, liegt im Wesentlichen darin begründet, wie der Kontakt im Umgang mit dem Medium Buch in der Kindheit verläuft.

Im zweiten Teil der Arbeit folgt die praktische Umsetzung einer Unterrichtseinheit für die siebte Jahrgangsstufe an der Realschule in München zum Thema „Leseförderung in einer heterogenen Klasse am Beispiel einer Sachtextanalyse“. Am Beispiel der Lesestrategie 'Lesetagebuch' wird ein Sachtext analysiert und erarbeitet.

Im Hinblick auf die theoretischen Ausführungen im ersten Teil der Arbeit verfolgt die- se Unterrichtssequenz das Ziel, den Herausforderungen der Zweitsprachdidaktik im Fach Deutsch mit Lösungen zu begegnen. Die Zielsetzung hinsichtlich der Schülerin- nen und Schüler umfasst ihre Befähigung zur Erarbeitung des vorgelegten Sachtextes, zum Erkennen von Schlüsselstellen und zur Einteilung des Textes in Sinnabschnitte. Diese Fähigkeiten sollen am Ende in das selbstständige Verfassen einer Inhaltsangabe münden.

2. Sachtexte

Der Begriff 'Sachtext' bezeichnet die Kategorie der nichtliterarischen, nicht poetischen, der pragmatischen Texte. Wir finden in ihnen Aussagen über Gegenstände, Ereignisse, Sachverhalte und Probleme der realen, nichtfiktionalen Welt.3 Aufgrund ihrer Vielschichtigkeit wurde mehrfach der Versuch unternommen, die unterschiedlichen Textsorten, die sich unter der Überschrift 'Sachtexte' zusammenfassen lassen, in Gruppen einzuteilen. Baurmann definiert Sachtexte als Texte, die sich auf Sachverhalte der alltäglichen Wirklichkeit beziehen, die von Experten an Laien vermittelt werden. Er unterscheidet fünf Grundfunktionen von Sachtexten.4

Erstens die 'Informationsfunktion', sie soll den Rezipienten über etwas informieren. Verben wie informieren, mitteilen, melden, berichten, auch unterrichten konkretisie- ren dies. Bei der 'Appellfunktion' steht der Versuch im Vordergrund, Rezipienten zu bewegen, eine bestimmte Einstellung zu einem Sachverhalt einzunehmen oder eine bestimmte Handlung auszuführen. Als Beispiel kann hier die Anleitung genannt wer- den oder auch ein Gesetzestext, Kochrezept oder eine Mahnung. Eine weitere Funkti- on ist laut Baurmann die 'Obligationsfunktion' bei der sich der Rezipient verpflichtet eine bestimmte Handlung zu vollziehen. Baurmann nennt sie auch verpflichtende Texte, wie bsp. ein Angebot, Garantieschein, Gelübde oder die Hausordnung.5 Ab- schließend ist die 'Deklarationsfunktion' und 'Kontaktfunktion' zu nennen. Die Dekla- rationsfunktion wird konkret umgesetzt wenn jemand durch seinen Text neue Fakten schafft bzw. etwas institutionell bewirkt, etwa durch Bescheinigung, Ernennungsur- kunde oder das Zeugnis.6 Bei gesellschaftlichen Anlässen, benutzt man zumeist Texte, die die personale Beziehung zu den Rezipienten ausdrücken. Diese Textsorte wird durch die Kontaktfunktion bestimmt.7 Je nach Gelegenheit können sie entweder als Danksagung, Gratulation oder als Kondolenzschreiben auftreten. Meist werden diese Texte als Briefe realisiert.

Rosebrock und Nix dagegen nehmen eine andere Einteilung vor. Sachtexte lassen sich nach deren Meinung didaktisch sinnvoll anhand ihrer Funktionen unterscheiden und intern in drei Gruppen aufteilen.8 Einmal in Lehrtexte, die Sachverhalte darstellen und deren zentrale Funktion die Wissensvermittlung ist. Zweitens kann man Sachtexte der Gruppe der Persuasionstexte zuordnen, wie bsp. politische Kommentare oder Predigten. Zentrale Funktion der Persuasionstexte ist die Erzielung einer Einstellung beim Rezipienten. Und drittens schließlich die Instruktionstexte, deren zentrales Anliegen das Erzeugen von Handlungen beim Leser ist.9

Als Beispiel kann man hierfür die Gebrauchsanweisung oder einen Ratgeber nennen.10 Ein Vergleich der oben dargestellten Einteilungen von Sachtexten nach Rosebrock/Nix und Baurmann offenbart eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung. Sie begreifen Sachtexte als wichtiges Instrumentarium des Deutschunterrichts und le- gen deshalb ihr Hauptaugenmerk auf die sogenannten Lehrtexte.11 Im Hinblick auf die oben angeführten Funktionen Baurmanns erscheint die Einteilung von Rosebrock/Nix allerdings defizitär, da sich bsp. Zeugnisse, Verträge, aber auch die wichtige Textsorte des Berichts nicht zuordnen lassen. Baurmann ist hingegen an einer vollumfänglichen Einteilung der Sachtexte gelegen und ist deshalb für einen ersten Zugang zu dieser Thematik besser geeignet.

Eine weitere Kategorisierung stellen Martin Fix und Roland Jost vor.12 Im Gegensatz zu den vorigen dargestellten Klassifikationen lässt sich die folgende nach drei Grun- daspekten gliedern: Intention, Anspruchsniveau und Gestaltung.13 Die hier vorliegen- den Ergebnisse gelten als Hinweis einer Untersuchung von Rolf Lieberum und Doris Marquard.14 Rolf Lieberum hat in „funktionaler“ Hinsicht vier Kategorien von „Ge- brauchstexten“ unterschieden.15 Er unterscheidet zwischen informierenden Texten, wertenden Texten, appellierenden Texten und regulativen Texten. Als Beispiel für in- formierende Texte nennt Lieberum den Lexikonartikel bis hin zum Beipackzettel, oder auch die Gebrauchsanweisung.

Mit dem Anspruchsniveau bezeichnet man das intellektuelle Niveau der Rezipienten. Das bedeutet, dass der Kommunikator nicht nur den von ihm vermittelten Sachverhalt betrachten soll, sondern er muss auch den Empfänger, entweder als Leser oder Hörer berücksichtigen16. Im Rahmen des Umgangs mit pragmatischen Texten ist es nach Jost und Fix wichtig, zwischen fachinterner und fachexterner Kommunikation zu unterscheiden. Unter fachinterner Kommunikation versteht man die Kommunikation zwischen Fachleuten, während es sich bei der fachexternen um eine Kommunikation zwischen einem Fachmann und einem Laien handelt.17 In dieser Hinsicht macht es auch einen Unterschied, ob sich die Texte bsp. an Laien mit Vorkenntnissen oder aber, an Erwachsene oder Jugendliche/Kinder wenden. Jürgen Baurmann hat die Sachtexte als Teil der fachexternen Kommunikation betrachtet.18

Als letzten Punkt der Kategorisierung nennen Jost/Fix die äußere Gestaltung eines Sachtextes, da diese neben der inhaltlichen und thematischen Ebene wesentlich zur Wirkung eines Sachtextes beiträgt. Dazu gehören alle Gestaltungselemente, noch be- vor man einen Text liest ins Auge fallen, „vom Fettdruck einzelner Wörter über die Einteilung in Absätze bis zu Tabellen, Grafiken und verschiedenen Formen der Illus- tration“.19 Unter dem Aspekt der äußeren Erscheinungsform lassen sich Sachtexte zwischen kontinuierlichen, linearen und diskontinuierlichen beziehungsweise zwi- schen nicht kontinuierlichen und nicht linearen Sachtexten unterscheiden. Das ist auch das, was wir als „Textbild“ und „Textinhalt“ differenzieren können.20 Die Unter- scheidung in fachinterne Kommunikation und fachexterne Kommunikation ist zwar sehr hilfreich, ist für den Unterricht jedoch kaum relevant. Daher ist eine Kategorisie- rung nach Baurmann für den schulischen Gebrauch sinnvoller, weil sie wie oben an- gegeben einen umfangreicheren Einblick in die Analyse eines Sachtextes zulässt.

2.1. Anforderungen an den Leser

Sachtexte sind erstens in semantischer Hinsicht domänenspezifisch und zweitens sind sie vielfältig strukturiert. Das setzt einige Anforderungen an den Leser und notwendi- ge didaktische Unterstützung voraus. Semantisch fremd bedeutet, dass sie sich an Kontexten bzw. Wissensfeldern richten, die domänenspezifisches Vorwissen erfordern 21. Dieses Vorwissen setzt sich zusammen aus Fachbegriffen und mentalen Schemata, die im Zuge der Lehr- bzw. Sachtextlektüre ständig kontextbedingt relativiert, diffe- renziert und spezifiziert werden. Darüber hinaus sind Sachtexte vielfältig strukturiert, das heißt ihr Aufbau variiert stark. Je nach Fach und Thematik unterscheiden sich die Organisationsformen verschriftlichten Wissens. Schülerinnen und Schüler müssen deshalb Werkzeuge an die Hand bekommen, mit denen sie die unterschiedlichen Su- perstrukturen der Texte knacken können. Sachtexte setzen zudem explizites Gramma- tikwissen, Wortbildungskenntnisse und Worterschließungsstrategien voraus. Da Sachtexte in allen Fächern eine bedeutende Rolle spielen, müssen Lesestrategien im Optimalfall fächerübergreifend vermittelt werden, ebenso das entsprechende Textsor- tenwissen22.

2.2. Analytischer Umgang mit Sachtexten

Der Umgang mit Sachtexten setzt eine präzise Beschreibung der jeweils für den kon- kreten Unterricht ausgewählten Sachtexte voraus. Hier werden nun einige Schritte zur Analyse von Sachtexten nach Baurmann sowie das dreistufige Modell von Ulf Abra- ham aufgezeigt.

Bei Baurmann lassen sich sechs Analyseschritte unterscheiden.23 Die Schüler bekommen einen Sachtext vorgelegt und sollen diesen analysieren. Nach Baurmann gehen Sie dabei in sechs Schritten vor.

Zuerst bestimmen sie die Textfunktion: Ist der Text informierend, appellierend-instru- ierend, verpflichtend oder sogar bewirkend? Danach setzen sie den Sachtext in einen Kontext. Dabei müssen sich die Schüler fragen wie die kommunikative Situation des Textes aussieht: privat, öffentlich oder offiziell geprägt.24

Es folgt die Bestimmung des Adressaten nach Alter und Geschlecht: An welche Gruppe ist dieser Sachtext gerichtet? Welche Interessen verfolgt der Sachtext? Wen möchte er ansprechen oder motivieren?

Nun wenden sich die Schülerinnen und Schüler der Aussageabsicht des Autors zu. Hier ist es wichtig, zunächst einmal festzustellen, ob der Autor neutral zum Thema informiert oder ob er eine bestimmte Meinung vertritt und beim Leser eine ebensolche Meinungsbildung anregen will. Es ist immer interessant zu lesen, mit welchen Mitteln der Autor dies versucht, ob er unter anderem wertende Aussagen trifft. Diese Fragen helfen den Schülern sich Gedanken über die Textsorte zu machen.

Ein weiterer Punkt in Baurmanns Übersicht ist die Qualität und Umfang des Mitgeteilten. Wird für Kinder, Jugendliche und Eltern ein wichtiger Sachverhalt thematisiert? Schüler und Schülerinnen sollen hierbei die Besonderheit oder Relevanz des Sachverhalts darlegen. Sie müssen sich dabei die Frage stellen ob es sich um einen monothematischen oder polythematischen Text handelt?

Daraus folgt die Auseinandersetzung mit dem thematischen Bezug zum Sachverhalt. Die Schüler sollen die Struktur des Textes genauer betrachten. Kann man den Text bsp. in Abschnitte gliedern?

Der letzte Punkt auf Baurmanns Liste ist die Untersuchung der sprachlichen und nichtsprachlichen Mittel. Baurmanns Analyse eines Sachtextes geht weit ins Detail. So können Schüler einen Sachtext auch unter Zuhilfenahme von Bildern, Grafiken, Tabellen, aber auch unter Einbezug von Wortwahl, Syntax und Gestaltung präzise be- schreiben und analysieren.

Im Folgenden soll nun der analytische Umgang mit Sachtexten nach dem dreistufigen Modell von Ulf Abraham dargestellt werden. Für Abraham gilt diesbezüglich folgen- de Prämisse:„ 'Pragmatische Texte sind Zweckgebilde und kommen nur verzweckt vor. Wir lesen sie, weil und insoweit wir sie brauchen.“25 Dabei spielt das Vorwissen für das Textverstehen eine besondere Rolle. Der Wissenserwerb durch Texte lässt sich in drei Stufen unterteilen:

In der ersten Stufe wird das Vorwissen aktiviert. Dies bildet dann die Grundlage für einen kumulativen Wissensaufbau. Die Überschrift und die Zwischenüberschriften machen dem Leser bereits klar, was er zu dem Thema schon weiß. Dieser Schritt soll den Schülern bewusst gemacht werden, um sie zu geübten Lesern auszubilden. Im Unterricht kann dies dadurch umgesetzt werden, dass Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage der Überschrift und gegebenenfalls der Zwischenüberschriften Fragen zum Thema formulieren. Nach der Lektüre kann man dann überprüfen, auf welche Fragen der Text inwiefern eingeht und auf welche nicht.26

Auf der zweiten Stufe steht der Text im Mittelpunkt. Die Schüler sollen zu einem sys- tematischen Lesen erzogen werden. Dazu bietet sich die sogenannte „SQ3R-Methode“ an. Auch „Fünf-Schritt-Lesemethode“ genannt. Mögliche Aufgabenstellungen können dafür bsp. sein, einen Themen-Stern anzulegen. Das Thema wird dabei in die Mitte geschrieben, an die Äste kommen dann die Unterthemen. Aber auch Multiple-Choice- Aufgaben sind möglich. Bsp. werden zu einem bestimmten Sachtext Aussagen zur Wahl gestellt und der Schüler soll die treffendste Formulierung ankreuzen. Wichtig ist es auch Sprachzusammenhänge zu erkennen. Dabei können die Schüler Kohärenzsi- gnale markieren und erweitern.

Auf der dritten Stufe geht es darum, das neu erworbene Wissen mit dem bisherigen Wissen zu verbinden. Hierzu gehört auch das Reflektieren und Bewerten des Textes im Hinblick auf das Ziel, das mit dem Lesen verfolgt wurde.27

2.3. Herausforderungen im DaZ- Unterricht

Schülerinnen und Schüler, die Deutsch als Zweitsprache erlernt haben, benötigen beim Lesen von Sach- und Lehrbuchtexten besondere Unterstützung. Ehlers führt eine Reihe von Besonderheiten des Leseverstehens bei DaZ-Schülerinnen und Schülern auf.28 Neben der Fremdheit des zweitsprachlichen Schriftsystems im Vergleich zur Erstsprache, spielen die Unterschiede von Erstsprache (L1) und Zweitsprache (L2) ebenso eine Rolle wie die Umstände des Spracherwerbs der L2. Da der Leseerwerb auf mündlichen Fertigkeiten aufbaut, sind bestimmte Kenntnisse in der Zweitsprache, bsp. Kenntnisse über den Wortschatz und die Grammatik, von entscheidendem Ein- fluss. Ehlers macht darauf aufmerksam, dass unzureichende Sprachkenntnisse die Le- sefähigkeit einschränken.29 Als zweiter Einflussfaktor nennt Ehlers das Verhältnis von Erst- und Zweitsprache, das in der einschlägigen Bilingualismus- und Zweitsprachen- forschung insbesondere an der Lesefähigkeit festgemacht wurde. Kinder und Jugend- liche, die bereits in ihrer L1 lesen gelernt haben, können unter bestimmten Bedingun- gen die zuerst erworbene Lesefähigkeit auf das Lesen in einer zweiten Sprache über- tragen. Ein weiterer Einflussfaktor ist die Leseflüssigkeit. Typischerweise liest der zweitsprachige Leser langsamer. Seine Leseflüssigkeit ist gegenüber dem Lesen in L1 verringert und seine Lesezeitspanne ist kürzer.30 Die Ursache dafür könnte sein, dass DaZ-Schüler über geringere Wortschatzkenntnisse verfügen und Probleme bei der Wort- und Satzerkennung haben. Zusätzlich kommt hinzu, dass sie Schlüsselwörter und -konzepte teils weniger gut erkennen und stärkere Probleme beim Verstehen von Strukturwörtern wie Konjunktionen oder Satzadverbien, Pronominaladverbien und Pronomen haben.31 Schüler und Schülerinnen mit Deutsch als Zweitsprache zeigen außerdem Schwierigkeiten bei der Integration von Sätzen und verfügen über ein unzu- reichendes 'Hintergrundwissen' zum Textthema, was sich beim bearbeiten und verste- hen von Sach- und Lehrtexten als enorm schwierig gestaltet.32 Eine mangelnde Auto- matisierung von Grundfertigkeiten ist ebenso für eine schlechtere Leseflüssigkeit ver- antwortlich. Das Auge macht häufigere und kürzere Sprünge und die Fixationen dau- ern länger33. Eine weitere nennenswerte Differenz zwischen dem L1- und L2 Leser besteht in der Inferierfähigkeit. Dieser Begriff aus der Leseforschung kennzeichnet all diejenigen kognitiven Prozesse des Lesers bei der Textrezeption, die zur Anreiche- rung, Strukturierung oder Verdichtung von Textinformationen führen. Beim Ziehen von Inferenzen stellt der Rezipient eine Verbindung des Vorwissens mit den Textin- halten her. Dies geschieht unter Einfluss von Vorwissen, Zielsetzungen und Erwartun- gen. Er zieht Schlussfolgerungen, ohne die ein Textverstehen nicht möglich ist, da kein Text dem Leser alle zum Verständnis notwendigen Informationen gibt.34

An dem folgenden Beispiel lässt sich das sehr gut erkennen:

Anna holte die Picknick-Utensilien aus dem Wagen. Das Bier war warm.

Um diese beiden Sätze miteinander zu verknüpfen, muss der Leser die eigene Schlussfolgerung treffen, dass das Bier ein Teil der Picknick-Utensilien ist. Der L2- Leser ist laut Ehlers zu eng an der sprachlichen Basis orientiert und erzeugt damit zu wenig Inferenzen, um sich ein Bild von einer beschriebenen Situation zu machen.35 Mangelnde Vertrautheit mit Gegenständen schränken das Inferieren ebenfalls ein. Eh- lers nennt einen weiteren wichtigen Punkt, der für den Leseerwerb bei Kindern mit Migrationshintergrund beachtet werden sollte, den sozialen Faktor. Denn ein Lesepro- zess vollzieht sich nicht in einem kontextlosen Raum, daher müssen die unterschiedli- chen Bedingungsfaktoren für den L2-Leseerwerb berücksichtigt werden. Dazu gehö- ren unter anderem die sozialen Faktoren, wie das Bildungsniveau der Eltern, der öko- nomische Status, das Prestige der Herkunftssprache innerhalb einer Gesellschaft und pädagogische Faktoren, wie die Verwendung der Zweitsprache als Unterrichtssprache oder die Alphabetisierung in der Erstsprache.36 Weitere Einflussfaktoren sind die de- mographische Verteilung von Minderheitengruppen und Sprachkontakte bzw. die Sprachhäufigkeit in der Zweitsprache. Ehlers gibt an, dass sich die getrennte sprachli- che und kulturelle Sozialisation in der Schule und der Familie als besonders erschwe- rend erwiesen hat. Wichtig für einen erfolgreichen Leseerwerb in der Zweitsprache ist vor allem das Erzählen und Vorlesen, sowohl im vorschulischen wie im schulischen Bereich. Das Narrative, so Ehlers, kann eine Brückenfunktion übernehmen, indem das Erzählen, Vorlesen und die Kommunikation über das Gelesene Mündlichkeit in der L2 stärken, schrittweise auf Elemente einer konzeptionellen Schriftlichkeit hinführen und damit die Voraussetzungen für das Lesenlernen in der Zweitsprache verbessern.37 Durch das Lesen erzählender Texte lassen sich insbesondere literale Teilkompetenzen schulen, die wiederum übertragbar sind auf das Sachtextlesen.

3. Lesekompetenz

Eigentlich kann man nicht sinnvoll über Sachtexte und den Umgang mit ihnen im Un- terricht nachdenken, ohne den Aspekt der Lesekompetenz mit einzubeziehen. Lesen ist keine Selbstverständlichkeit, denn das Lesenlernen bei Kindern und Jugendlichen verläuft längst nicht immer erfolgreich. Seit dem PISA-Schock 2000 hat sich die Er- kenntnis durchgesetzt, dass eine umfassende Lesekompetenz zu den grundlegenden Qualifikationen gehört, die heutzutage alle Heranwachsenden erwerben müssen, um für eine befriedigende Lebensführung in einer sich rasch wandelnden Wissens- und Mediengesellschaft gerüstet zu sein.38

3.1. Definition Lesen

Um eine Basis für das weitere Verständnis zu schaffen, muss zunächst geklärt werden, was der Begriff 'Lesen' impliziert.

Der Blick in das 'Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft' zeigt, das Lesen als „Rezeption und Verstehen schriftlicher Äußerungen“ definiert wird.39 Der Gegen- stand des Lesens ist also schriftlich Festgehaltenes. Im Reallexikon wird hierzu ge- nauer erklärt, dass Lesen eine komplexe Tätigkeit ist, bei der eine schriftsprachliche Zeichenfolge auf graphemisch-phonologischer, syntaktischer, semantischer und prag- matischer Ebene gedeutet wird.40 Hiermit ist gemeint, dass beim Lesen graphische Zeichen in eine Lautstruktur übersetzt werden, welche sich der Leser im Kopf denkt oder laut vorspricht. Darüber hinaus laufen beim Lesen Deutungsprozesse auf der syntaktischen, semantischen und pragmatischen Ebene ab, das heißt man stellt einen Zusammenhang zwischen den in Lautsprache transponierten Zeichen her, indem man Wörter ermittelt und Beziehungen zwischen Wörtern und Sätzen herstellt.

3.2. Funktionen des Lesens

Lesen, Schreiben und Rechnen - diese drei Grundkompetenzen lernt jedes Kind in der Regel als Erstes in der Schule bzw. im Kindergarten. Dies ist erforderlich, um den Alltag bewältigen zu können. Schließlich ist unsere Umwelt eine Schriftumwelt und der Großteil der täglichen Kommunikation läuft über Sprache ab. In der Konsequenz bedeutet das, dass ohne Lesefähigkeit und -kompetenz eine Teilnahme am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben nicht möglich ist. „Lernen, Bildung, die Entwicklung der Persönlichkeit bleiben auch in der modernen Gesellschaft an die Schrift und an das Lesen gebunden.“41

Die Leistungen des Lesens und der Literatur spielen sich vor allem auf kognitiver, emotionaler, sozialer und sprachlicher Ebene ab. Welche Funktionen im Einzelnen erfüllt und gefördert werden, zeigt der folgende Überblick:

Lesen fördert die Allgemeinbildung: Madeleine Willing formuliert im Elternratgeber des Loewe Verlags hierzu ganz treffend: „Gute Leser sind bessere Lerner, haben einen größere Allgemeinbildung und dadurch größere Vorteile in der Schule!“42 Letztlich leistet das Lesen einen wichtigen Beitrag zur Meinungsbildung, schärft das eigene Ur- teilsvermögen und spornt zum 'Selberdenken' an. Das Lesen vermittelt aber nicht nur neue Kenntnisse, sondern knüpft an die vorhandenen Wissensbestände an. Durch das alleinige Decodieren der Schrift wird sich noch kein Textverständnis ergeben. Erst in der aktiven Auseinandersetzung mit dem Inhalt und durch eine „Wechselwirkung zwi- schen Text(-Information) und Rezipienten/innen(-Wissen)“ kann der Sinn des Gelese- nen erschlossen und letztlich gezielt Informationen entnommen werden. Lesen ist so- mit „eine unersetzbare, konzentrierte Übung des Denkens.“43

Lesen fördert sprachliche und geistige Fähigkeiten: Die Sprachentwicklung des Kin- des ist eng mit dem Lesen verbunden. Die von der Sprachwissenschaft inspirierte amerikanische Emergent-Literacy-Forschung brachte wesentliche Erkenntnisse in die- sem Bereich: Die Forschungsgruppe um Jerome Bruner (1978) kam zu dem Schluss, dass das Lesen und besonders das Vorlesen in den ersten Lebensjahren positiv auf den Spracherwerb des Kindes wirken. Kein anderes Medium kann diese Leistung erbrin- gen. „Lesen ist somit vermutlich die ergiebigste Quelle des Begriffslernens und ein exklusives Übungsfeld für den Umgang mit elaborierter Sprache.“44 Neben der Erwei- terung des Wortschatzes werden auch die Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit ver- bessert.

Lesen fördert Phantasie und Kreativität: Das Lesen, besonders von Prosa, vollzieht sich nicht ausschließlich auf der kognitiven Ebene. Ferner spielen emotionale Vorgänge eine Rolle. Die psychische Basis des Lesens beruht auf einer Unterbrechung der Handlungspraxis, das heißt aus den geschriebenen Worten müssen Bilder im Kopf entstehen, um sich das Beschriebene vorstellen zu können. Das Gelesene wird mit selbst Erlebtem in Beziehung gesetzt und rekonstruiert. Man tritt sozusagen aus der Realität heraus in „das Reich des bloß Möglichen.“45

All diese Prozesse fördern im Endeffekt Phantasie, Kreativität, das abstrakte Denken und die Vorstellungskraft des Kindes.

Lesen ist das Ergebnis und Voraussetzung der Persönlichkeitsbildung: Zum einen er- weitert sich mit der Lesefähigkeit erheblich die Bewegungsfreiheit des Kindes.46 Es ist fähig, seine Umwelt eigenständig begreifen zu können, indem es Straßenschilder, Werbeplakate oder Gebrauchsanleitungen entschlüsseln und verstehen kann. Zum anderen ist es in der Lage, die von der Erlebnisgesellschaft geforderte emotiona- le Kompetenz zu vermitteln. „Die durchgestaltete Schrift-Versprachlichung von Emo- tionalität, wie Bücher sie primär leisten, dürfte die kognitive Präzisierung von Seelen- zuständen und damit auch die Demonstration von emotionaler Flexibilität und Diffe- renziertheit erleichtern oder aber auch andersartige, spezifische Erlebnismöglichkeiten von Gefühlen zugänglich machen.“47

In den Lesephantasien kann das Kind ohne Gefahr seinen Wünschen und Bedürfnissen nachgehen, in fremde Welten eintauchen und neue soziale Rollen durchspielen. Altersspezifische Entwicklungsprobleme werden lesend gelöst.48

Bücher sind als Lebenshilfe zu sehen: Sie schaffen Orientierung, helfen bei der Aus- einandersetzung mit persönlichen und gesellschaftlichen Werten, schulen die soziale Kompetenz und geben Anregungen für die Bewältigung von Krisen und Problemen. Abgesehen von dem informierenden und bildenden Lesen, bsp. in der Schule oder zur Weiterbildung, dient das Lesen ebenso der Unterhaltung, der Entspannung und dem Zeitvertreib. Die verschiedenen Buchformen, vom Sachbuch bis zum Roman, erfüllen die beschriebenen Funktionen in unterschiedlicher Ausprägung.

3.3. Begriffsklärung: Lesekompetenz (allgemein)

Nachdem wir den Begriff und die Funktionen des Lesens geklärt haben, und feststel- len mussten, dass Lesen ein komplexer Vorgang ist, muss im folgenden Kapitel der Begriff 'Lesekompetenz' näher beleuchtet werden. Lesen als komplexer Vorgang be- deutet für die Lehrkräfte viel Arbeit. Ihre Aufgabe besteht darin, Kinder bei der Lese- fähigkeit wirkungsvoll zu unterstützen. In den letzten Jahren hat in der fachdidakti- schen Diskussion insbesondere der Begriff der Lesekompetenz an Bedeutung gewon- nen.49 Er bildet die Grundlage bei den großen Evaluationsstudien wie PISA (Program- me for International Student Assessment) oder IGLU (Internationale Grundschul-Le- se-Untersuchung) und ist Teil der neuen Kompetenzen im Bildungswesen.50 Spinner versteht unter Kompetenzen die „Fähigkeit, über die ein Indiviuum verfügt und die es in gegebenen Situationen angemessen einsetzen kann.“51 Lesekompetenz, auch rea- ding literacy genannt, bedeutet also Lesefähigkeit bzw. Leseverstehen. Es ist die Fä- higkeit „geschriebene Texte [zu] verstehen, an[zu]wenden, über sie nach[zu]denken und sich mit ihnen [zu] beschäftigen.“52 Eigene Ziele sollen dadurch erreicht, das Wis- sen erweitert und am gesellschaftlichen Leben teilgenommen wird.53

Lesen bezeichnet demzufolge die Fähigkeit, „Lesen in unterschiedlichen, für die Le- bensbewältigung praktisch bedeutsamen Verwendungssituationen einsetzen zu kön- nen“.54

3.4. Modelle der Lesekompetenz

3.4.1. Lesekompetenzmodell nach PISA

Durch „PISA 2000“ ist die Tatsache, dass Lesekompetenz zum unverzichtbaren Teil der Gesellschaft geworden ist, ins gesellschaftliche, politische und pädagogische Be- wusstsein gerückt.55 Diese erste große Untersuchung der OECD zur Überprüfung der Leistungsfähigkeit der Bildungssysteme, legte den Schwerpunkt der Leistungsüber- prüfung auf das Lesen. Sie macht damit klar, dass die Vermittlung von Lesekompe- tenz in der modernen Gesellschaft nach wie vor eine der wichtigsten Aufgaben der Schulen ist. Der Nachweis über die eklatanten Mängel hat die Bildungspolitik und die Fachdidaktik wachrütteln lassen. Kontinuierliche Leistungsüberprüfungen und Lese- förderung stehen inzwischen auf der bildungspolitischen und pädagogischen Tages- ordnung.56

Im Folgenden wird das Kompetenzmodell nach PISA vorgestellt werden.Dieses Mo- dell ist kognitionstheoretisch orientiert. Es geht dabei vorrangig um ein forschungs- praktisch brauchbares Instrument zur Messung der Leseleistung Heranwachsender. Lesekompetenz nach PISA ist demnach eine fächerübergreifende Schlüsselkompe- tenz. Der Begriff Lesekompetenz als Untersuchungsgegenstand wurde deswegen aus- gewählt, weil sie als Basis einer aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gilt. Lesen "repräsentiert als sprachliche Kompetenz eine grundlegende Form des kommu- nikativen Umgangs mit der Welt.“57 Wer liest, nimmt am sozialen und kulturellen Le- ben teil und steigert seine persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten. Lesen ist diesem Verständnis nach also ein Werkzeug, das der Aneignung, Organisation und Anwen- dung von Wissen dient und damit für die berufliche Qualifizierung elementar ist. Schwächen der Lesekompetenz bedeuten Chancennachteile. Das kognitionspsycholo- gische Lesekompetenzmodell der PISA-Studie baut auf der angloamerikanischen Li- teracy-Konzeption auf. Für den Literacy-Begriff, der heutzutage in zahlreichen Wort- zusammensetzungen auftritt, steht eine adäquate deutsche Übersetzung bisher aus. Bezieht sich der Begriff im engeren Sinne auf Lese- und Schreibfähigkeiten, so zielt er im weiteren Sinne auf den Erwerb universeller Basiskompetenzen ab, die laut der OECD „[...] in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig sind.“58 Enger gefasst als der Literacy-Begriff ist hingegen die Bezeichnung Reading-Literacy, die die PISA-Studie synonym zum deutschen Lesekompetenzbegriff verwendet und auf folgende Weise definiert:

Lesekompetenz (reading literacy) ist [...] die Fähigkeit, geschriebene Texte zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Po- tenzial weiterzuentwickeln und aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. [...] Lese- kompetenz beinhaltet die Fähigkeit des Einzelnen, schriftliche Informationen so zu nutzen, dass diese seinen jeweiligen Zielen dienen, sowie die entsprechende Fähigkeit komplexer mo- derner Gesellschaften, schriftliche Informationen so zu nutzen, dass ihre gute Funktionsweise gewährleistet ist.59

Ist denn aber nun jeder, der das kann, „lesekompetent“? Was sind die Anforderungen an die Lesekompetenz? Und was sind ihre relevanten Ziele und Funktionen? Diese Fragen werfen ein Licht auf den normativen Gehalt des Begriffs „Lesekompetenz“. PISA betont zwar immer wieder, dass das empirische Kompetenzmodell, das sie der Leistungsmessung zugrunde legen, nicht als „didaktisches Modell missverstanden werden“ soll 60. Aber trotz dieser Selbstbeschränkung werden die den Ansatz bestimmenden normativen Begründungen doch deutlich.

Leitend für den Ansatz ist das pragmatische „Literacy“-Konzept der angloamerikani- schen Forschung. Dabei sind wichtige Basisqualifikationen relevant, die in einer mo- dernen Gesellschaft für eine erfolgreiche Lebensführung, sowohl im Beruf als auch in der Gesellschaft, unerlässlich sind. 'Lesekompetenz' ist in diesem Verständnis ein ba- sales Kulturwerkzeug, das erforderlich ist um in dieser Gesellschaft bestehen zu kön- nen.61 Daher richtet sich die PISA-Studie und ihr Kompetenzmodell primär auf die kognitive Dimension des Textverstehens und konzentriert sich hierbei vor allem auf Sach- und Informationstexte.62 Hurrelmann unterscheidet das PISA-Modell und das nachfolgende Modell der Lesesozialisationsforschung nicht nur unter normativen Aspekten, sonder auch die deskriptiven Aspekte spielen dabei eine Rolle. Der kognit- tionspsychologische Ansatz unterteilt dabei Lesekompetenz in drei Teilkompetenzen:

Informationen ermitteln, textbezogene Interpretation, reflektieren und bewerten.63 Für jede dieser drei Kompetenzdimensionen definieren die PISA-Experten fünf Kompe- tenzstufen (vgl. Abb. 1.1). Dieses Stufenmodell kann man sich vorstellen wie eine Treppe. Man erreicht die fünfte Stufe erst, wenn man die Stufe eins bis vier gemeistert hat. Als Mindeststandard für den Mittleren Schulabschluss wird in PISA die Kompe- tenzstufe zwei definiert.64 Die einzelnen Kompetenzstufen entnehmen Sie der Abbil- dung 1.1.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1.1: Theoretische Struktur von Lesekompetenz in PISA (Quelle: Deutsches PISA Konsortium 2000: 82)

3.4.2. Konzept der Lesesozialisationsforschung

Das Lesekompetenzmodell von PISA wurde von einigen Didaktikern und Lesefor- schern scharf kritisiert. Bettina Hurrelmann verbindet ihre Kritik an dem Modell von PISA mit einem „Plädoyer für ein didaktisches Konzept des Lesens als kultureller Praxis.“65 Hurrelmann will zeigen, dass es aus didaktischer Perspektive unverzichtbar ist, einen weiter gefassten Lesebegriff einzuführen. Dieser soll selbst die Gründe für das Lesen, die Gefühle beim Lesen und die Gespräche über das Gelesene als Bestand- teile von Lesekompetenz begreifen und nicht nur als Hintergrundvariablen66. Im Ge- gensatz zum PISA-Modell ist das Sozialisationsmodell nicht nur vorrangig ein brauchbares Instrument zur Messung der Leseleistung, sondern die Frage hierbei rich- tet sich eher nach einem Zusammenspiel „der gesellschaftskulturellen Gegebenheiten mit den Sozialisationsinstanzen“67, bis hin zu den Beiträgen, die die Individuen selbst in die Sozialisation ihrer Lesekompetenz einbringen.68. In Bezug auf die Definition von Lesekompetenz zeigt sich auch hier ein Unterschied zu PISA.

Aber bevor hier der Begriff der Lesekompetenz näher beleuchtet wird, soll auch hier, wie im oberen Kapitel, zuerst ein Blick auf die normative Dimension von Lesekompe- tenz geworfen werden. Im Vergleich zu PISA hat die Lesesozialisationsforschung der normativen Dimension von Lesekompetenz mehr Aufmerksamkeit gewidmet.69 Sie setzt dabei auf eine oberste Leitidee, die sie als „gesellschaftlich handlungsfähiges Subjekt“ bezeichnet.70 Im Hinblick auf das Lesen ist damit eine Person gemeint, die das Lesen nicht nur für instrumentelles Handeln in verschiedenster Hinsicht erfolg- reich einsetzen kann, sondern für die es darüber hinaus als Medium der Persönlich- keitsbildung wichtige Folgewirkungen hat.71 Anders gesagt, das Subjekt soll auch eine sprachliche Sensibilität, eine Moral - und Empathiefähigkeit entwickeln. Für die Schüler bedeutet dies, dass sie Fähigkeiten entwickeln einen Text zu analysieren, zu verstehen, affektiv beim Lesen eines Textes zu engagieren und sich kritisch damit aus- einandersetzen. Dabei kann man faktisch drei wirksame Zielbestimmungen herausar- beiten: Lesen als rationale Selbstbestimmung, Lesen als existenzielle Persönlichkeits- bildung und Lesen als Erlebnisgenuss.72

[...]


1 Ahrenholz, Bernt: Fachunterricht und Deutsch als Zweitsprache, Tübingen 2010, S. 2.

2 Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schü- lern im internationalen Vergleich, Opladen 2001, S. 8.

3 Klute, Wilfried: Sachtexte erschließen. Grundlagen, Texte und Arbeitshilfen für den Deutschunter- richt der Sek I, Berlin 2006, S. 8.

4 Baurmann, Jürgen: Sachtexte lesen und verstehen. Grundlagen, Ergebnisse, Vorschläge für einen kompetenzorientierten Unterricht, Seelze 2009, S. 10ff.

5 Ebd.

6 Ebd.

7 Ebd.

8 Rosebrock, Cornelia;Nix, Daniel: Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung, Baltmannsweiler 2011, S. 76f.

9 Ebd.

10 Ebd., S. 7.

11 Ebd.

12 Fix, Martin;Jost, Roland: Sachtexte im Deutschunterricht, Hohengehren, Baltmannsweiler 2005, S. 26f.

13 Ebd.

14 Ebd.

15 Lieberum, Rolf: Gebrauchstexte im Unterricht. In: Lange, Günther u.a. (Hrsg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts, Band 2, Baltmannsweiler 2003, S. 854.

16 Fix/Jost: Sachtexte, S. 28f.

17 Ebd.

18 Baurmann:Sachtexte, S. 10f.

19 Fix/Jost: Sachtexte, S. 29ff.

20 Ebd.

21 Rosebrock/Nix: Grundlagen, S. 77f.

22 Ebd.

23 Baurmann: Sachtexte, S. 15f.

24 Baurmann: Sachtexte, S. 15.

25 Abraham, Ulf u.a. (Hrsg.): Deutschdidaktik und Deutschunterricht nach PISA, Fillibach 2003, S. 206.

26 Gierlich, Heinz: Sachtexte als Gegenstand des Unterrichts. In: Fix, Martin; Jost, Roland (Hrsg.): Sachtexte im Deutschunterricht, Baltmannsweiler 2005, S. 33.

27 Ebd., S. 35.

28 Ehlers, Swantje: Lesekompetenz in der Zweitsprache. In: Ahrenholz, Bernt; Oomen-Welke, Ingelo- re (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache, Baltmannsweiler 2008, S. 215.

29 Ehlers: Lesekompetenz, S. 216f.

30 Ebd.

31 Lütke, Beate: Sachtexte besser verstehen. In: Deutschunterricht 63, 2010, S. 12.

32 Ebd.

33 Ehlers: Lesekompetenz, S. 220.

34 Ebd.

35 Ehlers: Lesekompetenz, S. 221.

36 Ebd.

37 Ebd.

38 Bundesministerium für Bildung und Forschung(BMBF): Förderung von Lesekompetenz - Experti- se. Bildungsforschung Band 17, Bonn, Berlin 2007, S. 6ff.

39 Weimar, Klaus; Fricke, Harald; Müller, Jan-Dirk (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwis- senschaft, Berlin 2000, S. 406.

40 Ebd.

41 Wespel, Manfred: Wie wird mein Kind zum Leser? Praktische Tipps und alles Wissenswerte zum Lesen lernen, München 1998, S. 8.

42 Willing, Madeleine: Mein Kind entdeckt das Lesen. Bindlach 2004, S. 12.

43 Hurrelmann, Bettina: Fazit: Lesen als Schlüsselkompetenz?. In: Groeben, Norbert; Hurrelmann, Bettina (Hrsg.): Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Forschungsüberblick, München 2004, S. 440f.

44 Hurrelmann, Bettina: Familie und Schule als Instanzen der Lesesozialisation. In: Garbe, Christine; Bonfadelli, Heinz (Hrsg.): Lesen im Wandel. Probleme der literarischen Sozialisation heute. Lüne- burg, 1998, S. 130.

45 Dahrendorf, Malte: Lesesozialisation und Kinder- und Jugendliteratur. In: Rosebrock, Cornelia: Le- sen im Medienzeitalter. Biographische und historische Aspekte literarischer Sozialisation. Wein- heim/München, 1995, S. 33.

46 Willing: Kind, S. 11.

47 Ebd.

48 Graf, Werner: Das Schicksal der Leselust. In: Garbe, Christine ; Bonfadelli, Heinz: Lesen im Wan- del. Probleme der literarischen Sozialisation heute. Lüneburg Universitätsverlag, 1998, S. 110.

49 Spinner, Kasper (Hrsg.): Lesekompetenz erwerben, Literatur erfahren. Grundlagen, Unterrichtsmo- delle für die 1.-4. Klasse, Berlin 2006, S. 7.

50 Ebd.

51 Ebd.

52 Technische Universität München: Kompetenzbereiche. Lesekompetenz, München 2014, S. 1.

53 Ebd.

54 Ebd.

55 Baumert, Jürgen: PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001, S. 15f.

56 Hurrelmann, Bettina: Modelle und Merkmale der Lesekompetenz. In: Bertschi-Kaufmann, Andrea (Hrsg.): Lesekompetenz-Leseleistung-Leseförderung. Grundlagen, Modelle und Materialien, Klett Seelze 2008, S. 19f.

57 PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000 - Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Opladen 2002, S. 56.

58 PISA-Konsortium: PISA 2000, S. 56.

59 Ebd.

60 Hurrelmann, Bettina: Leseleistung und Lesekompetenz. In: Praxis Deutsch 176, S. 6.

61 Hurrelmann: Modelle, S. 21.

62 Ebd., S. 23.

63 PISA-Konsortium: PISA 2000, S. 82.

64 Ebd., S. 98.

65 Hurrelmann: Leseleistung, S. 11.

66 Hurrelmann: Leseleistung, S. 11.

67 Hurrelmann, Bettina: Sozialisation der Lesekompetenz. In: Schieferle, Ulrich; Artelt, Cordula; Schneider, Wolfgang; Stanat, Petra (Hrsg.):Struktur, Entwicklung und Förderung von Lesekompetenz. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden 2004, S. 37f.

68 Ebd., S. 38.

69 Hurrelmann: Modelle, S. 21.

70 Ebd.

71 Ebd., S. 22.

72 Ebd.

Ende der Leseprobe aus 82 Seiten

Details

Titel
Sachtextanalyse zur Leseförderung in einer heterogenen Klasse
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft)
Note
2,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
82
Katalognummer
V356432
ISBN (eBook)
9783668422377
ISBN (Buch)
9783668422384
Dateigröße
790 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
leseförderung, klasse, beispiel, sachtextanalyse
Arbeit zitieren
Anja Harnisch (Autor:in), 2014, Sachtextanalyse zur Leseförderung in einer heterogenen Klasse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/356432

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