Beschleunigung in digitalen Welten. Der Mensch im Cyberspace


Bachelorarbeit, 2016

55 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Geschichte der Beschleunigung

2. Dromologie
2.1 Revolution der Transportmittel
2.2 Echtzeit
2.3 Transplantation
2.4 Kritik

3. Der Diskurs

4. Soziale Beschleunigung

5. Zeit
5.1 Eine Annäherung
5.2 Zeit und Medien

6. Cyberspace
6.1 Simultaneität

7. Veränderungen
7.1 Nutzungsgeschwindigkeit
7.2 Zeitwahrnehmung
7.3 Gedächtnis
7.4 Abhängigkeit

8. Fazit und Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Einleitung

Noch nie war der Mensch so schnell wie heute. Wir fahren mit Autos über die Autobahn, reisen mit Hochgeschwindigkeitszügen über das Land, fliegen mit Überschallflugzeugen durch die Luft und jagen mit Spaceshuttles durch die Weiten des Alls. Wir sprechen schneller, denken schneller, essen schneller, leben länger, wissen viel, wollen noch mehr und das sofort. Wir kommunizieren in Echtzeit über die Kontinente hinweg. Unsere Worte verwandeln sich in elektrische Signale und reisen beinahe in Lichtgeschwindigkeit um den Planeten. Alles ist jetzt. Vorbei das Warten, vorbei die Langeweile, vorbei die Langsamkeit. Geschwindigkeit ist zum zentralen Bestandteil unseres Lebens geworden. Wir nutzen handgroße Geräte, um mit aberwitziger Geschwindigkeit durch die Weiten des Internets bzw. des Cyberspace zu navigieren. Diese Geräte sind so schnell geworden, dass sie unser Leben um einiges erleichtern können. Wie hieß nochmal dieser Schauspieler? Setzt man eigentlich ein Komma vor “bzw.”? Wie viel Grad werden morgen? Sollte ich meine Aktien verkaufen? Google weiß Rat: “Es wurden ungefähr 6.000.000 Ergebnisse zu ihrer Anfrage gefunden (0,23 Sekunden)”. Wir gehen online, um zu erfahren und bleiben online, um zu erleben. Wie viele Stunden ein jeder täglich online verbringt, das weiß er vermutlich nicht einmal selbst genau. Es gibt eine Parkzeit, Fahrtzeit, Halbwertszeit, Arbeitszeit, Freizeit und Bedenkzeit - aber keine feste “Internetzeit”. Wir nutzen das Internet in allen Lebenslagen, zu jeder Zeit. Oft sind es nicht nur kurze Besuche. Oft verlieren wir uns in digitalen Welten, sind mit unserer Aufmerksamkeit ganz und gar an einem anderen Ort. Im Cyberspace. Der Mensch des 21. Jahrhunderts verbringt dort so viel Zeit, dass er beginnt, ganze Teile seines Lebensraums dorthin zu verlagern. Reflektiert man diesen Umstand ein wenig, so drängt sich die Frage auf: Haben diese langen und zahlreichen Aufenthalte im Cyberspace Auswirkungen auf uns Menschen? Verändern sie uns?

Die vorliegende Arbeit widmet sich diesen Fragen unter Berücksichtigung der Phänomene Geschwindigkeit und Zeit. Im ersten Teil dieser Arbeit sollen diese Themen daher genauer untersucht werden. Was macht Geschwindigkeit aus? Wo kommt sie her? Was ist Zeit? In welchem Verhältnis stehen Geschwindigkeit und Zeit zu digitalen Medien? Im zweiten Teil werden die daraus gewonnenen Erkenntnisse genutzt, um die Auswirkungen des Cyberspace auf den Menschen anhand von konkreten Beispielen kritisch zu überprüfen.

TEIL I

1. Geschichte der Beschleunigung

“Am Anfang war die Langsamkeit. Der agraischen Welt war die Hetze fremd. Warum sich beeilen, wenn die allmächtige, alles beherrschende Natur von ihrem gemächlichen Wachstumstempo nie ablässt?” (Borscheid 2003, S. 17)

Peter Borscheid beschreibt in seinem 2003 erschienenen Buch Tempo-Virus den Eroberungszug der Geschwindigkeit. Er unterteilt den Ausbreitungsprozess der Geschwindigkeit in drei Phasen.

Zu Beginn der Startphase, die er zwischen 1450 und 1800 verortet, lebt der Mensch in einer Welt, die durch den Rhythmus der Natur diktiert wird. Erst das Christentum führt eine erste (relativ willkürliche) Strukturierung der Zeit ein, die nicht an die Natur gebunden ist: die 7-Tage Woche (vgl. ebd. S. 18). Die uhrzeitliche Gleichförmig- und Regelmäßigkeit der heutigen Zeit ist den Menschen fremd, denn die Natur gestaltet ihre Zyklen dynamisch: Je nach Jahreszeit sind die Tage mal länger, mal sind sie kürzer.

Doch mit dem Entstehen der städtischen Welt entwickelt sich auch ein neues Zeitverständnis. Die Entwicklung des Geld- und Warenverkehres zwischen den Städten schafft einen neuen Bedarf an Geschwindigkeit: Räume müssen überwunden werden und je schneller dies geschieht, desto mehr kann der Handel florieren. Zeit wird kostbar. “Die Kaufleute erkennen wie keine andere Bevölkerungsgruppe die Gefahren der Langsamkeit und sehen sich gezwungen, möglichst schnell zu reagieren, falls sie Verlust und Konkurse vermeiden wollen” (ebd. S. 57)

Noch vor den Kaufleuten hat das Militär den Wert der Geschwindigkeit für seine Belange entdeckt. Es verbessert seine Waffentechnik und entwickelt Hebelwurfgeschütze, die Geschosse derart beschleunigen können, dass sie auch für Burgen und befestige Stellungen gefährlich werden. Um 1600 ist auch die Nutzung von Bombarden, also den ersten Handfeuerwaffen, weit verbreitet. Alsbald rollen auch große Feuerwaffen aus den Waffenschmieden, die die Schutzfunktion von Burganlagen weitgehend aufheben (vgl. ebd. 69).

Während das Potential der Geschwindigkeit sich bis dato er punktuell entfaltet, läutet der Beginn der Industrialisierung um 1800 die Beschleunigungsphase ein (1800-1950). Durch Dampfmaschinen und Eisenbahn verkoppelt die Indus- trialisierung “Produktion, Transport, Verteilung und Verbrauch der Güter auf der Grundlage eines Prinzips: der abstrakten Zeit. Sie sorgt für eine Beschleunigung von der Produktion bis zum Konsum durch den Einsatz von Zeitverkürzungsmaschinen und Zeitverkürzungstechniken.” (ebd. S. 110). Die Europäer beginnen sich von der als lästig empfundenen Naturabhängigkeit zu lösen und erschaffen länder- übergreifende Kommunikationsnetze, die Nachrichten mithilfe von Telegraphen blitzschnell übertragen. Die Weite und Ferne der Welt verschwindet im Angesicht der neuen Technologie der Dampfmaschinen und Elektrizität, der Mensch kann den Rausch der Geschwindigkeit erstmals im Kollektiv erleben. “Es ist dies eine Gesellschaft, die beginnt, dem Takt der Spinn- und Druckmaschinen, Eisenbahnen und Dampfschiffe zu folgen, sich nach ihrem Rhythmus zu bewegen, mit ihrer Schnelligkeit zu denken und zu handeln, nach ihrem Herzschlag zu leben - zu rotieren.” (ebd. S. 143)

Geschwindigkeit gewinnt an Bedeutung. Doch bis nach dem Ende des zweiten Weltkriegs partizipieren nur kleine Teile der Bevölkerung an den neuen Beschleunigungsinstrumenten. Der Besitz und die Nutzung von Automobilen, Telefonen oder auch Waschmaschinen sind bis dato eher den Wohlhabenden vorbehalten. Mit dem Beginn der Tempophase um 1950 kommt es zur Demokratisierung der Geschwindigkeit. Die Technik findet ihren Weg in die Wohnzimmer, die Menschen werden vernetzt, motorisiert und durch das “allgegenwärtige Fernsehauge” (ebd. S. 356) permanent darüber informiert, was der neueste Trend ist - und können so beginnen, diesem zu folgen. Während die Geschwindigkeit bis zum Beginn der Tempophase ein eher latentes Merkmal der Gesellschaft war, avanciert sie ab 1950 zu ihrem bestimmenden Merkmal.

Der französische Philosoph Paul Virilio beschäftigt sich Zeit seines Lebens mit dem Phänomen der Geschwindigkeit. Durch zahlreiche Veröffentlichungen verhalf er seiner Lehre, der Dromologie, ins Leben. Obwohl das Phänomen der Ge-schwindigkeit bereits vor Virilio im kultur- und medientheoretischen Diskurs Erwähnung fand (z.B. McLuhan 1964), ist die Popularisierung des Themas in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit ein Verdienst, das man beanstandungslos Virilios Œuvre zuschreiben kann (vgl. Kirchmann 1998, S. 17). Im Folgenden soll ein Umriss der für diese Arbeit relevanten Teile von Virlios Dromologie gezeichnet und diskutiert werden.

2. Dromologie

„Dromologie kommt von dromos, Lauf. Es handelt sich also um die Logik des Laufs. Damit bin ich in jene Welt eingetreten, in der Geschwindigkeit und nicht Reichtum zum Maßstab der Gesellschaftsgeschichte geworden ist.“ (Virilio 1984, S. 45).

Die Dromologie ist in ihrer Essenz eine transhistorische und transpolitische Betrachtungsweise zur medien- und kulturkritischen Analyse von gesellschaftlichen Verhältnissen mit besonderem Bezug zur Geschwindigkeit (vgl. Kloock 1997, S. 133). Sie zeichnet eine Historie von geschichtlichen Perioden und sich ändernden Geschwindigkeitsverhältnissen, in der “die Kontrolle der Zirkulation von Geschwin-digkeiten, heute vor allem Informationen” (ebd. S. 134) zum entscheidenden Faktor über gesellschaftliche Macht wird. Virilio sieht Geschwindigkeit gar als die verborgene Seite von Reichtum und Macht, die nicht wahrnehmbare Rückseite einer Medaille, die dennoch untrennbar mit ihrer Vorderseite verbunden ist. Nach ihm ist es nicht der (materielle) Reichtum, aus dem sich gesellschaftliche bzw. politische und militärische Macht ableiten, sondern das Beherrschen von sich wandelnden Geschwindigkeitsverhältnissen.

Virilios persönlicher Werdegang als u.a. Architekt, Kunstglasermeister, Soldat und Stadtplaner hat seine kritische Herangehensweise an die Thematik nach Grau (2012, S. 60ff) deutlich geprägt. In der Dromologie finden sich daher Überlagerungen von Physik, Metaphysik, Urbanistik, Neurobiologie, Ästhetik, Technik-, Kriegs- und Mediengeschichte. Diese Vielfalt und Offenheit der Dromologie gegenüber anderen Thematiken erklärt Virilio dadurch, dass sie keine Wissenschaft im engeren Sinne darstellt, sondern eher als eine Art Theoriefiktion zu sehen ist (vgl. Virilio in: Rötzer 1986, S. 150ff).

2.1 Revolution der Transportmittel

Die Geschichte der Geschwindigkeit beginnt für Virilio mit der Evolution der Transportmittel. Für Virilio ist dabei bereits die Frau das “erste Transportmittel der Gattung” (Virilio 1995, S. 29), da sie die Nachfahren in die Welt “transportiert”. Neben dem Gebären von Kindern kam ihr laut Virilio früher ebenso die Aufgabe zu, die Nachfolgen, das Gepäck und die Verpflegung zu transportieren, sodass den Männern ein Grad an Bewegungsfreiheit zuteilwurde, der ihnen erlaubte sich der Jagd zu widmen. Auch im Tierreich verortet Virilio Geschwindigkeit als ent-scheidenden Erfolgsfaktor: “In der Tierwelt ist Schnelligkeit eine Folge des Schreckens, der Gefahr. In der Tat ist die Verringerung der Distanz mittels beschleunigter Bewegung dem Selbsterhaltungstrieb zuzuschreiben.” (ebd. S. 40)

Musste der Mensch bei der Jagd noch seine Geschwindigkeit mit der seiner Beute messen, um an Nahrung zu gelangen, vollbringt er mit der Zähmung von Tieren eine erste kleine Geschwindigkeitsrevolution. Die Grenze der körpereigenen Geschwin-digkeit wird erstmalig überwunden: durch die Nutzung von Reittieren kann sich der Mensch schneller fortbewegen, als es ihm sein eigener Körper erlaubt. Der von Menschen bevölkerte Raum dehnt sich rasch aus, die vorangegangene Ära der räumlichen Bindung weicht einer Ära, in der Geschwindigkeit über Macht, Erfolg und Überleben entscheidet. Es ist nicht länger die Größe des beherrschten Raums, die entscheidend ist, sondern vielmehr die Geschwindigkeit, mit der dieser Raum durchquert werden kann. Nach Virilio war der Geschwindigkeits- und Zeitvorteil auch der entscheidende Faktor bei der Eroberung des mittelamerikanischen Raums durch die Spanier in der frühen Neuzeit. Hier gelang es einer überschaubaren Zahl an berittenen Streitkräften eine ganze Zivilisation zu unterwerfen (vgl. Virilio 1978, S. 79). In diesem speziellen Fall waren es nicht nur die Reittiere, die den Eroberungszug ermöglichten, sondern ebenso die Nutzung von nicht-metabolischen Transportmitteln: “Die Erfindung des Schiffs, des ersten nicht-metabolischen, d.h. von Zugtieren unabhängigen Fahrzeugs, ermöglicht die Entfaltung von Kolonial-mächten: antikes Griechenland und römisches Imperium. Sehr früh wird auch die schnelle Übermittlung von Nachrichten als Machtinstrument eingesetzt. In der mittelalterlichen Gesellschaft gehörte es zu den Privilegien des Grundherrn, Taubenschläge zu unterhalten; für das niedere Volk stand darauf die Todesstrafe“ (Virilio 1993, S. 7). Nachdem sich der Mensch Schiff und Tier zu eigen gemacht hat und mit ihrer Hilfe den Raum in Relation zur Zeit “verkleinert”, dauert es einige Jahrhunderte, bis die nächste revolutionäre Stufe der Fortbewegung erreicht ist.

Die eigentliche dromokratische Revolution vollzieht sich mit dem Beginn des Industriezeitalters. Die Erfindung von Maschinen, die selbst Geschwindigkeit erzeugen, ohne dabei zu ermüden, verändert die Welt grundlegend. Die Distanzen der Welt fallen in sich zusammen, Eisenbahn und Automobil schaffen eine vorher nie dagewesene Mobilität und Vernetzung der Umwelt. Die benötigte Zeit, um eine Strecke zurückzulegen, verringert sich immens; bis hin zur Eroberung des Luftraums und der Erfindung von Flugzeugen, die sich mit Überschallgeschwindigkeit fortbewegen. Das Verhältnis von Raum und Zeit, das über Jahrtausende Bestand hatte, ändert sich rapide. Der Raum verdichtet sich. Auch das Individuum bleibt nicht unberührt: Virilio deutet etwa den Blick aus dem Fenster, während man mit dem Auto eine Schnellstraße entlang fährt, als eine Art filmische Sequenz. Die Bilder sind nur verwischt wahrnehmbar und ändern sich rasch, es gleicht einer Art Geschwin-digkeitsrausch der Wahrnehmung. Nach Virilio führt das “Flimmern der Geschwin-digkeit […] zum vorübergehenden Erblinden” (Virilio 1978, S. 25). Die Reise bei hoher Geschwindigkeit gleicht also einer Einschränkung der Wahrnehmung des durchschrittenen Raums zugunsten einer erhöhten Durchschreitungsgeschwin-digkeit. Jeder Ort wird zum Nicht-Ort, denn seine vorrangige Bedeutung liegt nun in seiner Durchschreitung. “Die Reise degeneriert so zum bloßen, bedrückenden oder verschlafenen Warten des Passagiers, des flüchtigen Bewohners des Nicht-Ortes der Geschwindigkeit.” (Wild 2015, S. 87).

2.2 Echtzeit

So grundlegend die von der ersten dromokratischen Revolution verursachten Veränderungen auch erscheinen mögen, bleibt diese Entwicklung doch eine rein materielle - denn die Transportmedien sind alle „relativ zu Raum und Zeit, sie beziehen sich noch auf einen im Raum zu verortenden Körper“ (Kloock 1997, S. 136). Mit der Revolution der elektromagnetischen Übertragungsmedien wird die Verortung des Körpers im Raum-Zeit-Gefüge überflüssig. In der materiellen Welt werden bspw. Autobahnen gebaut, um Wege zu verkürzen. Die Autobahn lässt sich als Sinnbild des Wunsches nach einem schnellsten Weg lesen, um mit einem PKW die Distanz zwischen zwei Punkten zu überwinden. Auf ihr lässt sich ein Körper räumlich verorten. Spricht man daher in Bezug auf digitale Medien von einer Datenautobahn, um die Schnelligkeit der Reise zu verdeutlichen, ist das eine treffende Analogie, jedoch im Sinne der Dromologie insofern unzureichend, als dass in der Welt der digitalen Übertragungsmedien theoretisch überhaupt keine Distanz - und damit kein schnellster Weg - mehr existiert. Ebenso wie im Cyber space, dem globalen Dorf, dem Chat room und dem virtuellen Raum ist auch im Begriff Daten autobahn eine raumbezogene Semantik versteckt, obwohl der Raum theoretisch obsolet wird. Der Mensch scheint an der Ordnung des Raums zu hängen.

Die digitalen Transmissionsmedien unterliegen keinen räumlichen und zeitlichen Beschränkungen mehr, denn die Daten reisen mit der “absoluten Geschwin-digkeit” (Virilio 1993, S. 20): der Geschwindigkeit des Lichts, das in etwa mit 300.000 km/h reist. Es gibt also keine Abfahrt mehr, keine Autobahn und keine Reise. Die Geschwindigkeit ist so hoch, dass alles sofort eintritt. Virilio spricht in diesem Zusammenhang von der Echtzeit, die nicht etwa “echter” wäre als andere Zeiten, sondern einen Zustand der absoluten Gleichzeitigkeit ausdrückt, in dem sich Materialität, Räumlichkeit und Distanz in der Allmacht der medial vermittelten Geschwindigkeit auflösen. Am Punkt der absoluten Mobilität, der größtmöglichen Geschwindigkeit, am Endpunkt der Beschleunigung, wird jede physische Bewegung des Senders und Empfängers obsolet, es kommt zum Rasenden Stillstand [1] .

Nachdem zuvor die Revolution der Transportmedien eine Veränderung des Raum-Zeit-Verhältnisses zugunsten der Zeit evozierte, wird der Raum mit der Revolution der Übertragungsmedien endgültig überwunden. Die lineare Zeitvorstellung zerfließt in der Augenblicklichkeit der echtzeitlichen Tele-Präsenz: “Als >tele-präsentes< Wesen befindet sich der Bewohner der Orte telemathischer Bequemlichkeit in der Position eines Wundertäters: der Allsichtbarkeit der plötzlichen Hindurch-Sichtbarkeit der Dinge fügt sich ein anderes göttliches Attribut hinzu, die Allgegenwart aus der Ferne, eine Art elektromagnetische Telekinese.“ (Virilio 2002, S.118)

Der Bildschirm bildet dabei das neue Mittel der Fortbewegung (oder eigentlich: Nichtbewegung) des tele-präsenten - also allgegenwärtigen - Wesens. Durch Fernsehen, Smartphone, Laptop, Tablet, Virtual Reality und den Cyberspace vermag es der Mensch unter Auslöschung der Raum- und Zeitdistanz Allgegenwärtigkeit zu erlangen und jedes noch so weit entfernte Geschehnis in das Sichtfeld des Momentanen zu ziehen (vgl. Großklaus 1994, S. 40). Er ist nicht länger auf physische Bewegung angewiesen, um mit der Welt in Interaktion zu treten - so mag es sich zumindest anfühlen. Er reist bequem von seiner Couch aus, er reist von seinem Büro aus, er reist, während er auf einer Bank im Park sitzt. Seine Aufmerksamkeit, sein Geist, sein Verstand sind die tele-präsenten Wesen, die die Welt unabhängig von Raum und Zeit mit der absoluten Geschwindigkeit durchdringen, während der Körper des Reisenden in der Bewegungslosigkeit verharrt. “In ihrem Kulminationspunkt schlägt die ständige Steigerung der Geschwindigkeit so in eine neue Bewegungslosigkeit um, denn ohne Distanzen, Abstände, Wege, ohne jedes zeitliche und räumliche Intervall paralysiert sie die Menschen zu Eingeschlossenen einer virtuellen Enge.” (Wild 2015, S. 113)

Durch die Medien der Tele-Präsenz kommt es nach Virilio zu einer Ästhetik des Verschwindens. Gemeint ist die Entwicklung der Wahrnehmung in Bezug auf visuelle Impulse. In früheren Zeiten waren diese vor allen Dingen durch ihre Statik geprägt - etwa Malereien, Skulpturen oder Statuen. Die Kunst lag darin, Realität aus dem Nichts erscheinen zu lassen. Für Virilio ist das flüchtige Medium des bewegten Bildes daher nicht von einer solchen Ästhetik des Erscheinens geprägt, sondern eben von einer Ästhetik des Verschwindens. Kaum betrachtet man ein Bild, schlüpft es schon wieder aus dem Wahrnehmungsfeld des Betrachters und wird sogleich vom nächsten Bild verjagt. “Der Raum löst sich auf, und die Dinge erscheinen im Verschwinden, alles wird zu schnell für die menschliche Wahrnehmung. Die produktiven und perzeptiven Funktionen und Fähigkeiten des Menschen werden automatisiert, denn sie sind zu langsam, nicht fähig, sich diesen Geschwindigkeiten anzupas-sen.” (Kloock 2007, S. 136)

2.3 Transplantation

“[D]er Untergang des realen Raums jeder (physischen oder geophysischen) Ausdehnung zugunsten ausschließlich der Abwesenheit eines zeitlichen Intervalls der Teletechnologien der Echtzeit führt unweigerlich dazu, daß sowohl die Technik als auch die Mikromaschinen in das Innere der Organe von Lebewesen eindringen” (Virilio 1994c, S. 109, i.O. kursiv)

Die dritte und gleichzeitig letzte dromokratische Revolution hat laut Virilio bereits begonnen. Nach den Revolutionen der Transport- und Transmissionsmedien befinden wir uns nun in der Ära der Transplantationstechniken. Der Ablösung der physischen Mobilität durch die digitalen Medien folgt die Eroberung der letzten dem Menschen übrigen Ressource: des Körpers. Virilio redet in diesem Zusammenhang von “technischen Aufputschmitteln” (ebd. S. 111), mit deren Hilfe wir unsere geistigen und körperlichen Fähigkeiten verbessern können. Dazu zählen für ihn z.B. auch Herzschrittmacher, die nicht nur Fremdkörper im Körper sind, sondern dem Träger auch einen maschinellen Lebensrhythmus vorgeben, das Herz schlägt im Takt der Maschine - “es wird versucht, den menschlichen Körper an das Zeitalter der absoluten Geschwindigkeit der elektromagnetischen Wellen anzugleichen.” (ebd. S. 113). Weiterhin zählt Virilio auch Prothesen dazu, ebenso berichtet er ausführlich über den Künstler Stelarc, der in seinen Werken ein enges Verhältnis zwischen Mensch und Maschine abbildet. “Angeregt durch meine Auftritte habe ich begonnen, mir Fragen zum Design des menschlichen Körpers zu stellen, und je weiter ich mit meiner Arbeit komme, um so mehr glaube ich, daß der Körper künftig überflüssig sein wird!” (Stelarc zit. nach Virilio 1994, S. 120). Die Dromologie bewegt sich so ihrem Endpunkt entgegen - der Symbiose von Mensch und Maschine, der Auslöschung des Menschlichen, bedingt durch die fortschreitende Kybernetik. Der Lebensraum des Kybernauten ist der Cyberspace, ein virtuelles Universum, in der die synthetische Bilderwelt des Computers zum alleinstehenden Merkmal der menschlichen Weltbeziehung wird. Die Handlungen des Menschen werden überwacht, er verliert seine Freiheit eigene geistige Bilder zu schaffen. Virilio sieht den Menschen der Zukunft als Schatten seiner selbst, der das Sein und seine Empfindungen auf virtuelle Entsprechungsbilder überträgt. “Nachdem die lichtgeschwinden Teletechnologien unser Dasein in einem Hier und Jetzt dekonstruiert haben, werden in einer virtuellen Umwelt die Körper von der Informatik konditioniert. Die Techosphäre [sic!] hat damit endgültig die Oberhand über die Biosphäre gewonnen.” (Kloock 2007, S. 159).

2.4 Kritik

Virilio ist eher abstrakter Denker als Wissenschaftler. In dieser Tradition sind es auch seine abstrakten Gedankengänge und nicht deren genaue methodische Analyse, die das bestimmende Merkmal seiner Arbeit bilden. Virilio “versucht nur die Tendenz eines Gedankens zu erfassen, um dann zum Nächsten zu springen, statt ersteren weiter auszuführen, um dem Denken so immer neue Räume zur Entfaltung zu offenbaren. Virilio bietet Perspektiven an, der Versuch einer allumfassenden Abhandlung eines Sachverhalts ist nach seiner Einschätzung ein völlig absurdes Unterfangen.” (Wild 2015, S. 98)

Nach einer kohärenten Logik innerhalb seiner Analyse der Geschwindigkeit sucht man daher vergeblich. Virilio ist ein Mann der Widersprüche - und das voller Eifer. Er selbst hat sein Werk eher als science fiction eingestuft, als eine Art Theoriefiktion (vgl. Virilio in: Rötzer 1986, S. 150ff).

Die Hauptkritikpunkte an seiner Arbeit finden sich zum einen in seinem losen Umgang mit Begrifflichkeiten und Argumentationsgängen. Da ihm das Offenbaren von Perspektiven wichtiger scheint, als die tatsächliche Auseinandersetzung mit diesen Perspektiven, verliert er sich in einer Ambivalenz der Bedeutungs-zuweisungen. Kirchmann schreibt ihm in seiner Reprise der Dromologie (vgl. Kirchmann 1998, S. 142ff) eine mangelnde Differenzierung zwischen “Bewegung als Wahrnehmungsobjekt” und “Geschwindigkeit als Kognitionskonstrukt” (ebd. S. 143) zu. Dementsprechend orientiere sich Virilio an “anthropologisch-transhistorischen und historisch determinierten, ontologisierten und relativistischen, empirischen und metaphorischen Definitionsspektren” (ebd. S. 142), was Kirchmann anhand einer Auswahl einiger Zitate deutlich macht. So sei die Geschwindigkeit für Virilio z.B. “keine Erscheinung, sondern die Relation zwischen Erscheinungen (sie ist die Relativität überhaupt)” (Virilio zit. nach Kirchmann 1998, S. 144), Geschwindigkeit rufe “Leere hervor, Leere ihrerseits Schnelligkeit” (ebd. S. 145), sie ist auch im Tierreich das “bestimmende Moment” (ebd. S. 144), sie ist aber auch “gerade das Alter der Welt” (Virilio 1992, S. 132).

Auch die von Virilio postulierten Revolutionen der Geschwindigkeit erschließen sich nicht unreflektiert. Akzeptiert man die industrielle Revolution als Startpunkt der dromokratischen Revolutionen, dann sind die Anfänge der ersten und zweiten (Transport und Transmission) zeitlich nur marginal voneinander zu trennen. Die Telegrafie fand ebenfalls in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihre erste Verbreitung - die Entwicklungen sind also keinesfalls mit großem Abstand aufeinander folgend, sondern finden (bis heute) gleichzeitig statt. Ebenso liest sich Virilios Werk so, als sei mit dem Erreichen der absoluten Geschwindigkeit nun der Endpunkt dieser Entwicklung erreicht. Raum und Zeit lösen sich auf, der Mensch wird zum tele-präsenten Wesen. Doch wird er dies nur unter bestimmen Voraussetzungen: Er benötigt zwangsweise ein Gerät, das eine Internetnutzung ermöglicht und ihm erlaubt seine Tele-Präsenz nach Belieben und asynchron auszuleben. Denn: bei einem Telefonat ist nur die Stimme tele-präsent. Der Raum hinter der Stimme bleibt jedoch verborgen und maximal akustisch wahrnehmbar. Fernseh- und Rund-funkgeräte sind ebenfalls nur Empfänger und nicht Sender - will man dort Einfluss nehmen, muss man sich mindestens eines weiteren Mediums bedienen. Das tele-präsente Wesen ist also kein Wesen der unbeschränkten Möglichkeiten, es ist unmittelbar an die ihm verfügbaren technischen Geräte und deren spezifische Leistungsmerkmale gebunden. Ein Umstand, dem Virilio keine weitere Aufmerk-samkeit schenkt. Ebenso vermag es die Echtzeit nicht, materielle Güter zu transportieren. Die Entwicklung der Transportmedien findet mit der Einführung der Echtzeit dementsprechend kein Ende. Folglich bestimmen die Revolutionen der einzelnen Medien mitnichten deren Endpunkte, sie gehen nicht ineinander über, sondern verlaufen parallel zueinander.

Neben den begrifflichen und inhaltlichen Unschärfen wird Virilio zum anderen seine eschatologische Betrachtungsweise der Geschwindigkeit vorgeworfen. Nach Virilio ist die Zeit als lineare Konstante der Geschichte zu sehen, die Beschleunigung und Geschichte der Menschheit finden ihr Ende am Punkt der absoluten Bewegungs-losigkeit. Abgesehen davon, dass die von Virilio angenommene Linearität der Zeit zumindest kritikwürdig ist (vgl. z.B. Beck 1994, S. 338), erhebt Virilio die Geschwindigkeit zum “monokausalen und linear-vektoriellen Parameter der Menschheitsgeschichte” (Wild 2015, S. 94). Durch diese eingeschränkte Sichtweise muss sich jede Komplexität geschichtlicher und gesellschaftlicher Entwicklung den Prämissen der Geschwindigkeit ergeben, eine historisch differenzierte Betrachtung der Geschichte wird zur Unmöglichkeit. Ebenso wenig differenziert ist Virilios Betrachtungsweise der Zeit, die er als rein physikalische Größe instrumentalisiert. Tatsächlich ist Zeit aber viel mehr als nur ein Faktor, der im Rahmen der Betrachtung von Geschwindigkeit eine Rolle spielt. Auf das Phänomen Zeit soll daher im weiteren Verlauf der Arbeit noch genauer eingegangen werden (siehe 5.1).

3. Der Diskurs

Grundsätzlich lässt sich der momentane Diskurs zur Geschwindigkeit in zwei Lager aufteilen: Auf der einen Seite die Optimisten und auf der anderen die Pessimisten (vgl. Kirchmann 1998, S. 16f). Während sich Virilio mit düsteren Prophezeiungen für die Zukunft begnügt und in seinen Ausführungen keine Lösungsvorschläge für die von ihm postulierte drohende Apokalypse anbietet, fordern andere Geschwindig-keitskritiker eine Besinnung auf die Langsamkeit, bzw. Entschleunigung (z.B. Nadolny 1983, Bailey 1999, Honoré 2004). Stellvertretend für das Optimistenlager ist an dieser Stelle Peter Weibel zu nennen, der Geschwindigkeit nicht nur als notwendig, sondern als konstitutiven Bestandteil der Zivilisation sieht (vgl. Weibel 1987, S. 12). Nach Kirchmann sind auch Nobert Bolz, Vilém Flusser und Friedrich A. Kittler dem Lager der Optimisten zuzuordnen (vgl. Kirchmann 1998, S. 17).

Unabhängig von persönlichen Tendenzen wurde jedoch erkannt, dass die viriliosche Perspektive eines technologischen Determinismus eine nur sehr eindimensionale - wenn auch wichtige - Betrachtung von Geschwindigkeit erlaubt. Im Erwachen eines breiteren wissenschaftlichen Interesses entwickelten sich aus dieser Einsicht auch neue Betrachtungsmodelle.

[...]


[1] siehe Virilio, Paul (1992). Rasender Stillstand (Essay).

Ende der Leseprobe aus 55 Seiten

Details

Titel
Beschleunigung in digitalen Welten. Der Mensch im Cyberspace
Hochschule
Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf" Potsdam-Babelsberg
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
55
Katalognummer
V356241
ISBN (eBook)
9783668424401
ISBN (Buch)
9783668424418
Dateigröße
655 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Geschwindigkeit, Virilio, Cyberspace, Zeit, Hartmut Rosa, Beschleunigung, Multitasking, Zeitwahrnehmung, Medienzeit, dromologie, echtzeit, gedächtnis, medienabhängigkeit, raum, soziale beschleunigung
Arbeit zitieren
Mark Eulert (Autor:in), 2016, Beschleunigung in digitalen Welten. Der Mensch im Cyberspace, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/356241

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