Das Motiv der zwei Welten - unter besonderer Berücksichtigung der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur


Exzerpt, 2004

17 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Phantastik
2.1 Gattungsmerkmale
2.2 Popularität der Phantastik

3 Wege in die „Anderswelt“

4 Die Funktion der Sekundärwelt
4.1 Der Protagonist in der realistischen Ebene
4.2 Der Protagonist in der imaginären Ebene
4.3 Gesellschafts- und Sozialkritik

5 Zusammenfassung

6 Literaturverzeichnis
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur

1 Einleitung

In Büchern über „Computer und virtuelle Realität als Gegenstand der Kinder und Jugendliteratur“ stößt man häufig auf eine Sekundärwelt im Handlungsstrang. Dieses Phänomen ist jedoch auch schon aus früheren Werken bekannt, noch lange bevor Computer den Weg in die Literatur gefunden haben. Auch in der Erwachsenenliteratur ist dieses Zwei-Welten-Motiv anzutreffen. Der Schwerpunkt dieser Arbeit soll aber auf der Kinder- und Jugendliteratur liegen. Da sowohl die Grenzen zwischen Kinder- und Jugendliteratur, als auch die zwischen Jugend- und Erwachsenenliteratur häufig verschwimmen, sollen jedoch auch wenigstens ansatzweise Aspekte aus der Erwachsenenliteratur Erwähnung finden.

Woher solche Sekundärwelten stammen, wie sie realisiert und umgesetzt werden und welche Funktionen sie in den jeweiligen Texte erfüllen, soll im ersten Teil dieser Arbeit ergründet werden.

Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird auf eine Unterscheidung der Geschlechter verzichtet. Wenn die Rede von „dem Leser“ oder von „dem Protagonisten“ ist, so ist in gleicher Weise „die Leserin“ oder „die Protagonistin“ gemeint, wobei dem keine Wertung beigemessen sein soll.

2 Phantastik

2.1 Gattungsmerkmale

Vor der genaueren Betrachtung des „Zwei-Welten-Motivs“ scheint es sinnvoll, sich zunächst die Gattung der phantastischen Literatur näher zu anzuschauen, aus dem dieses Motiv hervorgeht.

Da Gattungsdefinitionen niemals eindeutig sind und sich vor allem kaum ein Werk genau in ein Schema einer bestimmten Gattung einpassen lässt, kommt es unweigerlich zu Uneinigkeiten zwischen Literaturwissenschaftlern, welche Texte einer bestimmten Gattung angehören und welche nicht. Nicht anders verhält es sich bei der Phantastik, was schon an den unterschiedlichen Definitionen zu erkennen ist. So schließt Wolfgang Meißner beispielsweise Lewis Carrolls Alice im Wunderland, das häufig als das phan- tastische Kinderbuch bezeichnet wird, aus der Gattung der phantastischen Literatur aus, da sich am Ende die phantastischen Elemente als Täuschung herausstellen1.

Da in dieser Arbeit das Zwei-Welten-Motiv im Vordergrund stehen soll, halte ich Abstand von genaueren Differenzierungen der Gattungszugehörigkeit und ordne auch solche Werke unter den Oberbegriff der phantastischen Literatur ein, die eindeutig phantastische Elemente enthalten.

Die Gemeinsamkeit der meisten Definitionen der Phantastik liegt schließlich im „un- erklärlichen Einbruch des Übernatürlichen in die Natur“2. Hierin unterscheidet sich die Phantastik vom Märchen oder auch von der Fantasy. In dieses Genres verläuft die ge- samte Handlung in einer Welt, „die außerhalb der Wirklichkeit liegt“3. So wundert sich beispielsweise Rotkäppchen nicht darüber, dass Wölfe sprechen können und in Tolkiens Herr der Ringe nehmen es die Hobbits selbstverständlich hin, dass Gandalf ein Zaube- rer ist.

„Das Phantastische hingegen schildert den Einbruch des Wunderbaren in die Wirklichkeit.“4 Für die Handlungsfiguren tut sich eine befremdliche Welt auf, sie „staunen über nicht rational erklärbare Vorgänge“5.

Aus diesem Grund können auch die sogenannten „Wirklichkeitsmärchen“ von E.T.A. Hoffmann oder Ludwig Tieck zur phantastischen Literatur gezählt werden, da sie eben nicht in einer Märchenwelt spielen, sondern „ein phantastisches Geschehen mitten in der zeitgenössischen Alltagswirklichkeit situieren und mit den Übergängen von Alltäglichem und Wunderbarem, Natürlichem und Über-Natürlichem ein raf- finiertes Spiel treiben“6.

So sprechen viele Definitionen auch von einer „Zweidimensionalität der dargestell- ten Wirklichkeit“7, einer „Literatur der zwei Handlungskreise“8 oder „der Gegenüber- stellung zweier verschiedener 'Welten' [als] das entscheidende Merkmal des Phantas- tischen“9. Diese zwei Welten unterscheiden sich vor allem dadurch, dass die eine Welt meist auf einer „mit den Gesetzmäßigkeiten des logisch-empirischen Denkens überein- stimmenden Wirklichkeit“10 aufbaut, dem Leser also möglichst realistisch und alltags- nah erscheint. In diese Primärwelt bricht nun eine Sekundär- beziehungsweise Anderswelt oder ein zweiter Handlungskreis ein, der „im Widerspruch zu der empi- risch-rationalen, naturwissenschaftlich geprägten Welterfahrung“11 steht. Nach Peter Cersowsky kann es sich „in der Tat [um] Manifestationen einer 'zweiten', unabhängig vom Betrachter bestehenden übernatürlichen Welt“12 handeln oder aber um „Traumge- bilde, Vorspiegelungen des Wahnsinns oder andere Formen halluzinatorischer Spiege- lungen des Bewußtseins, eben [um] bloße Phantasiegebilde“13.

In der Kinder- und Jugendliteratur ist das Zusammentreffen der zwei Welten meist problemloser gestaltet und erscheint weniger als Bruch oder als unbegreiflich als in der Erwachsenenliteratur14.

Außerdem kann unterschieden werden, wie sich diese zwei Welten begegnen, bezie- hungsweise wie sich der Wechsel von der einen zur anderen Handlungsebene vollzieht. Besonders in phantastischen Kinderbüchern beschränkt sich diese Begegnung meist darauf, dass Figuren oder Requisiten aus einer Sekundärwelt in der primären Hand- lungsebene auftauchen15, wie beispielsweise in Paul Maars Eine Woche voller Samstage. Einen Grund hierfür sieht Meißner darin, „daß sich die Struktur des Phantas- tischen analog zur kindlichen Entwicklung herausbildet“16. Erst mit zunehmender An- passung an das empirische Weltbild können verschiedene Realitätsebenen innerhalb eines Textes unterschieden werden. So ist auch auffallend, dass mit steigendem Alter der intendierten Leser die realistische Ebene mehr und mehr reduziert wird. Während in Kinderbüchern das phantastische Element häufig nur vereinzelt durchschimmert, wird in Jugendbüchern die realistische Ebene zunehmend auf wenige Aspekte beschränkt17.

So kommt es in Jugendbüchern auch häufiger zu einer Reise der Protagonisten in die Sekundärwelt, wobei diese „entweder kreisförmig (mit Rückkehr) oder linear (die Hauptfigur bleibt in der sekundären Welt) angelegt sein kann“18. Auch ein mehrmaliger Wechsel zwischen den verschiedenen Ebenen ist möglich, ein ständiges hin- und hergerissen sein. Hierfür bietet E. T. A. Hoffmanns Wirklichkeitsmärchen Der goldene Topf ein Beispiel.

Nicht immer ist es aber von Nöten, dass die wirklichkeitsnahe Welt die primäre Ebene darstellt. In den Kinderbüchern von Ottfried Preußler beispielsweise ist häufig die Reihenfolge der Ebenen umgekehrt. Als Beispiel soll Der kleine Wassermann dienen, der am Grunde eines Sees wohnt. Hier ist die imaginäre Welt für ihn die vertraute Umgebung. Als er zum ersten Mal die Welt über der Wasseroberfläche ent- deckt, stellt diese für den kleinen Wassermann das befremdliche Element dar.

2.2 Popularität der Phantastik

Obwohl phantastische Literatur häufig als trivial und klischeehaft angesehen wird, besitzt sie eine große Leserschaft19. Hierfür gibt es verschiedene Annahmen. So führt Edmund Wilson als Begründung beispielsweise „die Sehnsucht nach mystischen Erfah- rungen, welche genau in Zeiten gesellschaftlicher Wirrnis wieder verstärkt in Erschei- nung tritt“20, an.

Ein Ansatz Zondergelds knüpft an Freuds Psychoanalyse an und meint in der Phan- tastik „den mehr oder weniger deutlich erkennbaren Charakter eines erotischen Wunschtraumes“21 zu erkennen, der „die Rebellion der brutal unterdrückten Triebe gegen die von einem immer tödlicher werdenden Realitätsprinzip beherrschte Dingwelt des Kapitalismus“22 sei.

Ein einfacherer aber dennoch nicht zu verachtender Erklärungsansatz ist sicherlich auch das reine Lesevergnügen, welches durch den geschickten Aufbau von Spannung besonders leicht zu wecken ist. In einer befremdlichen Welt kann diese Spannung schon allein in der Neugier liegen, worin sich diese Welt von der Wirklichkeit unterscheidet und ob es für die Protagonisten einen Weg zurück in ihre eigene Welt gibt und wie dieser gemeistert wird.

Weniger wissenschaftlich beschreibt auch Thomas Fensch 1968 den Erfolg von Lewis Carrolls Alice im Wunderland. Indem er Lewis Carroll als „the first Acidhead“23 bezeichnet und in seinem Essay ausschließlich auf die psychedelischen Aspekte des Werkes eingeht, trifft er auf das Verlangen seiner Generation des „tripping out“24.

[...]


1 Vgl. Meißner, Wolfgang: Phantastik in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Würzburg 1989, S. 71

2 Vax, Louis: Die Phantastik. In: Zondergeld, R. A. (Hrsg.): Phaïcon 1. Almanach der phantastischen Literatur Frankfurt 1974, S. 12

3 Seeßlen, Georg; Weil, Claudius: Kino des Phantastischen. Geschichte und Mythologie des Horror- Films. Reinbek 1980, S. 37

4 Ebd.

5 Kaulen Heinrich: Wunder und Wirklichkeit. In: JuLit. Arbeitskreis für Jugendliteratur. Information 1/04, S. 13

6 Ebd. S. 16

7 Ebd. S. 14

8 Marzin, Florian F.: Die phantastische Literatur. Eine Gattungsstudie. Frankfurt/Bern 1982, S. 116

9 Meißner, S. 14

10 Ebd. S. 64

11 Marzin S. 127

12 Cersowsky, Peter: Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts: Untersuchungen zum Strukturwandel des Genres, seinen geistesgeschichtlichen Vorraussetzungen und zur Tradition der „schwarzen Romantik“. 2. unveränd. Aufl. München 1989, S. 18

13 Ebd.

14 Vgl. Meißner, S. 106

15 Ebd.

16 Ebd. S. 65

17 Vgl. ebd. S. 94f

18 Kaulen, S. 14

19 Vgl. z.B. Cersowsky, S. 11; Kaulen, S. 16

20 Wilson, Edmund: Eine Abhandlung über Horrorgeschichten. In: Zondergeld, R. A. (Hrsg.): Phaïcon 1. Almanach der phantastischen Literatur. Frankfurt 1974, S. 124

21 Zondergeld, R. A.: Zwei Versuche der Befreiung. Phantastische und erotische Literatur. In: Ders. (Hrsg.): Phaïcon 2. Almanach der phantastischen Literatur. Frankfurt 1975, S. 68

22 Ebd. S. 67

23 Fensch, Thomas: Lewis Carroll - the first Acidhead (1968). In: Phillips, Robert (Hrsg.): Aspects of Alice. Lewis Carroll's Dreamchild as seen through the Critics' Looking-Glasses 1865-1971. Ring- wood 1971, S. 484-487

24 Ebd. S. 484

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Das Motiv der zwei Welten - unter besonderer Berücksichtigung der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur
Hochschule
Pädagogische Hochschule Freiburg im Breisgau  (Institut für deutsche Sprache und Literatur)
Note
1,5
Autor
Jahr
2004
Seiten
17
Katalognummer
V35595
ISBN (eBook)
9783638354585
ISBN (Buch)
9783656567561
Dateigröße
387 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Motiv, Welten, Berücksichtigung, Kinder-, Jugendliteratur
Arbeit zitieren
Jochen Haug (Autor:in), 2004, Das Motiv der zwei Welten - unter besonderer Berücksichtigung der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/35595

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