"Cien años de soledad" von Gabriel García Márquez. Kulturspezifik in der deutschen Übersetzung


Bachelorarbeit, 2015

55 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Wissenschaftlicher Hintergrund und thematische Eingrenzung
1.2 Struktur

2 Theoretische Grundlagen zum Verständnis der Arbeit
2.1 Stellung der Kultur in der Übersetzung
2.2 Kulturkompetenz des Übersetzers
2.3 Kultur - Definition und Abgrenzung
2.4 Kulturspezifik in der literarischen Übersetzung

3 Wiedergabe von kulturspezifischem Wortschatz in der deutschen Übersetzung von Cien años de soledad
3.1 Realien
3.1.1 Problematik für den Übersetzer und Transferverfahren
3.1.2 Analyse und Ergebnisse
3.1.2.1 Naturalien
3.1.2.2 Kulturalien
3.1.3 Strategie des Übersetzers
3.2 Eigennamen
3.2.1 Problematik für den Übersetzer und Transferverfahren
3.2.2 Analyse und Ergebnisse
3.2.3 Strategie des Übersetzers
3.3 Metaphern
3.3.1 Problematik für den Übersetzer und Transferverfahren
3.3.2 Analyse und Ergebnisse
3.3.3 Strategie des Übersetzers
3.4 Idiomatische Einheiten
3.4.1 Problematik für den Übersetzer und Transferverfahren
3.4.2 Analyse und Ergebnisse
3.4.3 Strategie des Übersetzers
3.5 Beurteilung der Untersuchungsergebnisse

4 Potenzielle Auswirkungen der Übersetzung

5 Zusammenfassung und Ausblick

6 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

In der heutigen, globalisierten Welt spielt das Thema Kultur in vielen Lebensbereichen - in manchen mehr, in manchen weniger - eine wichtige Rolle. In der Übersetzung ist die Fokussierung auf kulturelle Aspekte jedoch eher neu. Wie bereits in der Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie - einem bedeutenden Werk aus dem Bereich der Translationswissenschaft - zu Beginn einschränkend angemerkt wird, wird dort der Kulturtransfer lediglich insofern behandelt, „als er für eine allgemeine, primär auf das Sprachliche abhebende Translationstheorie wichtig ist“ (Reiß und Vermeer 1984: 1). Daran ist zu erkennen, dass Kultur in der Übersetzung lange nur marginal behandelt wird. Die Stellung der Kultur in der Übersetzung hat sich jedoch seitdem nach und nach stark verändert und so werden kulturelle Gesichtspunkte immer wichtiger für Übersetzungs- entscheidungen und -theorien. Dieser Paradigmenwechsel lässt sich bereits am Titel von Vermeers lediglich zwei Jahre später erschienenen Aufsatz „Übersetzen als kultureller Transfer“1 erkennen.

Kulturspezifik als Problemfeld speziell in der literarischen Übersetzung wird allerdings immer noch nur in einigen wenigen wissenschaftlichen Werken behandelt, somit ist auch die Anzahl an Vorschlägen zu möglichen Transferverfahren und Regeln noch relativ gering. Da das Feld meist nur am Rande thematisiert wird, sind kaum spezifische Untersuchungen zu den Schwierigkeiten vorhanden, die bei der Übersetzung von Kulturspezifika in literarischen Werken oftmals entstehen. Um aufzuzeigen, dass die Entscheidungen des Übersetzers in diesem Bereich jedoch erhebliche Auswirkungen auf die Rezeption eines Textes haben können, wird in der vorliegenden Arbeit eine Untersuchung der Übersetzung von kulturspezifischen Elementen2 erstellt, die in einem bedeutenden literarischen Werk enthalten sind.

Als Untersuchungsgegenstand werden der Roman Cien años de soledad des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel García Márquez und die von Curt Meyer- Clason angefertigte deutsche Übersetzung Hundert Jahre Einsamkeit herangezogen.3 Im Rahmen der Analyse sollen Bedeutung und Auswirkungen von übersetzerischen Entscheidungen in Bezug auf Kulturspezifika veranschaulicht und - sofern vorhanden - die vom Übersetzer angewandte und erkennbare Strategie untersucht werden, um gegebenenfalls Vorschläge für die zukünftige Anfertigung von und den zukünftigen Umgang mit literarischen Übersetzungen zu schaffen.

1.1 Wissenschaftlicher Hintergrund und thematische Eingrenzung

Aufgrund des bereits eingangs erwähnten Paradigmenwechsels in der Übersetzungswissenschaft, der sicherlich auch in der Multikulturalität der Gegenwart begründet liegt, gibt es mittlerweile bereits einige Werke, die sich mit dem Bereich der Kultur und deren Stellung in der Übersetzung befassen. Eine spezielle Problematik, die in der Kombination von Kulturspezifik und Translation liegt, ist bisher jedoch noch recht selten behandelt worden: der Umgang mit Kulturspezifika speziell in literarischen Übersetzungen. Diese Forschungslücke und die vielen widersprüchlichen Auffassungen zur Stellung der Kultur in der Übersetzung geben Anlass zur genaueren Betrachtung dieses Teilbereichs. Da eine repräsentative Analyse und Auswertung mehrerer Übersetzungen den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde, soll sich die Untersuchung auf einen ausgewählten Roman beschränken. Das Werk Cien años de soledad erscheint besonders geeignet und interessant für die geplante Untersuchung, da es in wissenschaftlichen Büchern zur Literaturgeschichte Lateinamerikas in Bezug auf seine kulturelle Bedeutung und außergewöhnliche fiktionale Welt auffallend häufig erwähnt wird und Gabriel García Márquez 1982 sogar den Literaturnobelpreis „for his novels and short stories, in which the fantastic and the realistic are combined in a richly composed world of imagination, reflecting a continent’s life and conflicts” (Nobelprize.org) erhielt.4

Aufgrund der großen literarischen Bedeutung von Buch und Autor erscheint eine angemessene Übersetzung für andere Länder und Kulturkreise außerdem in besonderem Maße wichtig und notwendig. Im Laufe der Lektüre des Buches und der deutschen Übersetzung wird jedoch ersichtlich, dass eine ganzheitliche Analyse und Bewertung der Übersetzung den Rahmen der vorliegenden Arbeit übersteigen würde. Aus diesem Grund beschränkt sich die angefertigte Untersuchung lediglich auf festgelegte Kulturspezifika. Ausgewählte Beispiele sollen der Veranschaulichung auftretender Schwierigkeiten im Bereich der Übersetzung von Kulturspezifika dienen und Aufschluss über erkennbare Übersetzungsmuster und eventuelle Auswirkungen geben. Wie diese Kulturspezifika definiert werden und welche kulturspezifischen Elemente genau herangezogen werden, wird im Laufe der Arbeit noch detaillierter erläutert.5

1.2 Struktur

Die Arbeit ist in vier Kapitel gegliedert. Nachdem in Kapitel 1 einleitend die wissenschaftlichen Hintergründe und eine erste Abgrenzung des Themas angeführt wurden, werden in Kapitel 2 einige theoretische Grundlagen behandelt, die für das Verständnis der Arbeit von Bedeutung sind. Zunächst wird hierzu die Stellung der Kultur in der Übersetzung dargelegt und auf das Prinzip der Kulturkompetenz des Translators kurz eingegangen. Des Weiteren wird der für diese Arbeit verwendete Kulturbegriff definiert und abgegrenzt und die besondere Problematik der Kulturspezifik in der literarischen Übersetzung dargestellt. Im dritten Kapitel folgt die Untersuchung der Kulturspezifika in Cien años de soledad und deren Übersetzung ins Deutsche. Hierbei wird zunächst eine Klassifizierung der auftretenden Kulturspezifika vorgenommen. Es wird jeweils kurz theoretisch erläutert, was unter den jeweiligen Kulturspezifika verstanden wird und welche Problematik diese für den Übersetzer bereit halten. Anschließend wird anhand von Beispielen die angefertigte Analyse der Kulturspezifika veranschaulicht und - wenn möglich - die erkennbare, vom Übersetzer verfolgte Strategie beschrieben. Abgeschlossen wird dieser Teil der Arbeit mit einer ganzheitlichen Beurteilung der erzielten Ergebnisse. Kapitel 4 beschäftigt sich mit den möglichen Auswirkungen, die eine passende oder inadäquate Entscheidung des Übersetzers im Falle von kulturspezifischen Elementen haben kann und damit, welche Auswirkungen speziell die untersuchte Übersetzung auf die Zielrezeption haben kann. Abschließend werden die erzielten Ergebnisse zusammengefasst und ein Ausblick auf mögliche weitere Betrachtungen und wichtige Untersuchungsbereiche gegeben.

2 Theoretische Grundlagen zum Verständnis der Arbeit

Der Bedarf an Übersetzungen und deren Bedeutung in allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens ist bekanntlich groß und deshalb an dieser Stelle nicht mehr näher zu begründen. Zu diesen Bereichen zählt natürlich auch und vor allem die Literatur. Aufgrund stetig wechselnder Ansprüche und Erkenntnisse entwickelte sich auch die Übersetzungswissenschaft - wie jede wissenschaftliche Disziplin - im Laufe der Jahre weiter und bringt somit heute viele unterschiedliche Theorien, Auffassungen und damit auch Widersprüchlichkeiten mit sich.

Der zu Beginn der Arbeit bereits erwähnte Paradigmenwechsel in Richtung der Einbeziehung der Kultur bildet die Grundlage der in dieser Arbeit angefertigten Untersuchung.6 Unter anderem hat sich die Übersetzungswissenschaft von anfänglich eher linguistisch- und sprachorientierten Theorien immer weiter entfernt und sich mehr und mehr den kulturorientierten Ansätzen zugewandt (vgl. House 2002: 92). Aus diesem Grund wird im folgenden Kapitel zunächst kurz auf die Entwicklungen der Kultur in Bezug auf ihre Stellung und Bedeutung in der Übersetzung eingegangen. Des Weiteren werden das Konzept der Kulturkompetenz eines Translators und die damit verbundenen Anforderungen an den Übersetzer erläutert. Anschließend werden unterschiedliche, bereits vorhandene Definitionen von ‚Kultur‘ dargelegt und die für diese Arbeit verwendete und relevante Definition abgegrenzt und begründet. Im letzten Punkt soll dann noch auf die speziellen Besonderheiten der Kulturspezifik in der literarischen Übersetzung eingegangen werden, die für die spätere Untersuchung wichtig erscheinen.

2.1 Stellung der Kultur in der Übersetzung

Die starke Entwicklung der Disziplin der Übersetzungswissenschaft in den letzten Jahrzehnten ist verbunden mit stetig neuen Forschungsansätzen und Betrachtungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Und so bildeten sich im Laufe der Jahre viele voneinander abweichende Translationstheorien heraus und es gab etliche Paradigmenwechsel. Dieser großen Anzahl und Vielfalt von Ansätzen wird man sich bereits bei einer kurzen Betrachtung von Stolzes Einführungswerk zu diesem Thema bewusst.7 Dass die Kultur noch nicht allzu lange Teil dieser Überlegungen ist, wurde bereits zu Beginn dieser Arbeit dargelegt.

In modernen Theorien der Übersetzungswissenschaft jedoch nimmt die Kulturspezifik eine besondere Stellung ein. Dass die Kulturorientierung von Übersetzungen heutzutage als unausweichlich gilt, wird spätestens bei einem Blick in die aktuellere Literatur zur Übersetzungswissenschaft deutlich. Hier finden sich beispielsweise „ußerungen wie „Übersetzung ist - in einem weiteren Sinne - immer Kulturarbeit [Hervorhebung im Original] […]: Arbeit mit der anderen und an der eigenen Kultur“ (Koller 62001: 59) und Beschreibungen von „Übersetzen als einer sprachlichen und kulturellen Leistung hochkomplexer Art“ (House 2005: 77). Der Einbezug von kulturellen Aspekten bei der Anfertigung einer Übersetzung ist deshalb so wichtig, weil Sprache immer in die jeweilige Ausgangskultur eingebettet ist und die Bedingungen zur Textrezeption und -produktion von Gesellschaften teilweise stark voneinander abweichen (vgl. Koller 62001: 59). Translation wird demnach heute als kultureller Prozess angesehen, bei dem es besonders wichtig ist, den ausgangskulturellen Kontext mit einzubeziehen (vgl. House 2002: 92). House (2005: 84) führt sogar das Konzept des sogenannten kulturellen Filters ein, bei dem der Übersetzer „zum Übersetzen das Original durch die Brille des Zielkulturadressaten“ sieht, und erachtet diesen Vorgang als notwendig für die Schaffung eines äquivalenten8 Zieltextes.

Eine Übersetzung ohne Einbezug ausgangs- und zielkultureller Aspekte scheint folglich in der heutigen Zeit undenkbar, insbesondere im Bereich der literarischen Übersetzung spielt Kultur dabei eine wichtige Rolle, da diese Aspekte erhebliche Auswirkungen auf die Rezeption fremdkultureller Literatur haben können. Eine zentrale Rolle bei der Kulturorientierung einer Übersetzung spielen der Translator selbst und sein vorhandenes oder nicht vorhandenes Kultur- und Hintergrundwissen. Auf diesen Aspekt soll im Folgenden näher eingegangen werden.

2.2 Kulturkompetenz des Übersetzers

Auch die Anforderungen, die an einen Übersetzer gestellt werden, haben sich natürlich mit dem Wandel in der Übersetzungswissenschaft und den unterschiedlichen Translationstheorien weiterentwickelt und geändert. Demnach ist das Konzept der Kulturkompetenz, die bei einem Übersetzer erwartet und vorausgesetzt wird, ebenso wie die Kulturorientierung von Translaten relativ neu und wird deshalb erst recht selten wissenschaftlich behandelt. Am ausführlichsten thematisiert wird dieses Konzept bei Witte (²2007), die erstmals eine genauere Definition und detaillierte Beschreibung der Anforderungen liefert, die ein Translator erfüllen muss. Für den Rahmen der vorliegenden Arbeit und zu deren Verständnis soll jedoch eine allgemeinere Definition genügen.

Ein Übersetzer soll demnach über eine „bikulturelle Kompetenz“ (Witte ²2007: 50) verfügen, in dem Sinne, dass er das Alltagsleben in der Ausgangskultur kennt und in der Lage ist, sich von der eigenen Kultur zu distanzieren. Der Übersetzer als Experte muss sich also bewusst sein, dass Kulturunterschiede bestehen können, er muss diese erkennen und die Fähigkeit besitzen, ihre Relevanz für die Rezeption des übersetzten Werkes in der Zielkultur zu bewerten. Dem Translator kommt in moderneren Theorien also eine viel wichtigere Rolle zu als früher, da er die Verantwortung dafür trägt, dass ein Text auch in der Zielkultur funktioniert (vgl. Ammann ²1990: 51). Eine Übersetzung soll dem Zieltextrezipienten einen Eindruck davon vermitteln, wie der Ausgangstext in der Ausgangskultur rezipiert wird und welchen Einfluss er auf Mitglieder dieser Kultur hat - der Leser soll sich in diese hineinversetzen können (vgl. House 2002: 99).

Einen weiteren wichtigen Aspekt stellt die Bewahrung ausgangskultureller Fremdheit im Zieltext dar. Der Übersetzer versucht hier mit dem Translat, die Unterschiede zwischen Ausgangs- und Zielkultur zu vermitteln, die er selbst im Ausgangstext sieht (vgl. Witte ²2007: 135). Dieser Anspruch kann jedoch nach Witte (²2007: 134) nur relativ sein, da die Rezeption ausgangskultureller Fremdheit auch bei Experten immer „im und durch den Vergleich mit der Eigenkultur“ entsteht und durch diesen bedingt ist. In diesem Zusammenhang entstehen oft sogenannte verfremdende Übersetzungen, die jedoch kritisch zu betrachten sind, da sie dazu führen können, dass Stereotype über die Ausgangskultur entstehen oder dort noch verstärkt werden, wo diese bereits bestehen (vgl. Witte ²2007: 141). Ein Übersetzer muss heute also vielen Anforderungen gerecht werden, um ein adäquates Ergebnis zu erzielen und anhand seiner Kenntnisse über die Ausgangskultur eventuell Verständnisproblemen vorzubeugen. Der letzte Punkt, der für das weitere Verständnis dieser Arbeit von großer Bedeutung ist, ist die zu Grunde gelegte Definition von Kultur.

2.3 Kultur - Definition und Abgrenzung

Zunächst lässt sich feststellen, dass bezüglich des Konzeptes Kultur eine große Vielfalt an Definitionen und Einschränkungen existiert. Es sollen nun einige dieser genaueren Bestimmungen angeführt werden, um deutlich zu machen, auf welche Kulturkonzepte die vorliegende Arbeit zurückgreift und im Anschluss abzugrenzen, wie diese Bezeichnung im weiteren Verlauf dieser Arbeit verwendet wird. Zunächst wird die von Lüsebrink (2005: 10) angeführte Unterteilung in drei grundsätzliche Kulturbegriffe als relevant erachtet: „der interkulturell-ästhetische Kulturbegriff“, „der materielle Kulturbegriff“ und „der anthropologische Kulturbegriff“. Der Erstgenannte beschäftigt sich mit bildungs- und kunstbezogenen Werten und ist eng mit künstlerischen Werken als Ausdruck von Kultur verbunden, der materielle Kulturbegriff umfasst nach der ursprünglichen Herkunft des Wortes Kultur (lat. agricultura ‚Landwirtschaft‘) alle Objekte, die in einer Kultur entstanden sind (vgl. Lüsebrink 2005: 10). Der anthropologische Kulturbegriff ist weiter gefasst und bezieht sich auf „die Gesamtheit der kollektiven Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster einer Gesellschaft“ (Lüsebrink 2005: 10). Hierbei wird also von einem gemeinschaftlichen Konzept ausgegangen, das die Individuen einer Kultur miteinander verbindet und prägt.

Eine umfassende Definition des anthropologischen Kulturbegriffs, die häufig die Grundlage übersetzungswissenschaftlicher Betrachtungen bildet und oft von anderen Wissenschaftlern übernommen wurde, liefert Göhring (1978: 10, zitiert nach Floros 2002: 76):

„Kultur ist all das, was man wissen, beherrschen und empfinden können muß, um beurteilen zu können, wo sich Einheimische in ihren verschiedenen Rollen erwartungskonform oder abweichend verhalten, und um sich selbst in der betreffenden Gesellschaft erwartungskonform verhalten zu können, sofern man dies will und nicht etwa bereit ist, die jeweils aus erwartungswidrigem Verhalten entstehenden Konsequenzen zu tragen“.

Hier werden also alle Regeln, Bräuche und Werte mit einbezogen, die das gesamte Leben einer Gesellschaft steuern und wichtig für das Zusammenleben sind. Es ist dabei auch deutlich zu erkennen, dass von einem dynamischen Konzept ausgegangen wird, das sich im Laufe der Zeit verändert und an die Gesellschaft angepasst wird. Gerade dieser Punkt ist für die Betrachtung literarischer Übersetzungen von Bedeutung und führt häufig zu Schwierigkeiten bei der Übersetzung älterer Texte.

Eine letzte Annäherung an den Kulturbegriff, die hier noch genannt werden soll, ist die differenziertere Definition bei Ammann (²1990). Hier wird weiter aufgegliedert in „Parakultur“, „Diakultur“ und „Idiokultur“ (Ammann ²1990: 39). Auch in diesem Zusammenhang wird von einem Kanon an Werten, Regeln und Bräuchen ausgegangen, bei dem jedoch noch genauer bestimmt wird für wen diese gelten. Parakultur bezeichnet denjenigen Wertekanon, der für die Gesamtheit einer Gesellschaft gilt, Diakultur bezieht sich nur auf eine bestimmte Gruppe innerhalb dieser Gesellschaft und mit Idiokultur sind nur noch diejenigen Regeln und Bräuche gemeint, die für eine bestimmte Person gelten und von dieser selbst erstellt werden (vgl. Ammann ²1990: 39). Erkenntlich wird anhand dieser Aufgliederung, dass eine Kulturdefinition zwar in der Theorie immer weiter spezifiziert und differenziert werden kann, in der Praxis die Grenzen und Übergänge jedoch fließend sind und nicht immer klar getrennt werden können.

Dieser Arbeit wird ein umfassender Kulturbegriff zu Grunde gelegt, der sich an der von Göhring gelieferten Definition orientiert. Somit sollen unter der Bezeichnung Kultur im Folgenden alle Werte, Bräuche, Regeln, Objekte, Verhaltensweisen und auch Sprachen verstanden werden, die spezifisch für eine bestimmte Gesellschaft sind oder Einfluss auf das alltägliche Leben in dieser Gesellschaft haben. Diese Verwendung des Kulturbegriffs wird insofern als sinnvoll erachtet, als eine zweckmäßige Eingrenzung der Beispiele für Kulturspezifik innerhalb eines Werkes nur erfolgen kann, wenn alle kulturbedingten oder -orientierten Faktoren in die Überlegungen mit einbezogen werden. Eine detailliertere Aufgliederung kulturspezifischer Merkmale erfolgt im Laufe der Untersuchung.9 Abschließend für Kapitel 2 dieser Arbeit folgt nun eine kurze Darstellung der besonderen Problematik von kulturspezifischen Elementen in der literarischen Übersetzung.

2.4 Kulturspezifik in der literarischen Übersetzung

Anhand der vorangegangenen Überlegungen zur Rolle der Kultur in der Übersetzung wird deutlich, dass heutzutage eine reine Transkodierung nicht mehr ausreichend ist, um eine adäquate Übersetzung zu erstellen, sondern vielmehr ein kultureller Transfer stattfinden muss. Unter kulturellem Transfer ist hierbei zu verstehen, dass der Übersetzer nicht nur Wörter selbst in der Zielsprache wiedergeben, sondern dem Rezipienten auch etwaige zugehörige Traditionen, Werte, Emotionen und Verhaltensweisen verständlich machen muss (vgl. Schultze 2004: 929). Und wie bereits Matter-Seibel (1995: 110) erkennt, ist dieser kulturelle Transfer „besonders wichtig bei einem literarischen Text“.

Die literarische Übersetzung stellt deshalb einen besonderen Problembereich dar, weil in literarischen Texten häufig vergleichsweise viele kulturspezifische Elemente auftauchen und diese stärker in die jeweilige Kultur eingebettet und mit dieser verbunden sind als dies beispielsweise bei Fachtexten der Fall ist. Ndong (2014: 34) führt hierzu an, literarische Übersetzung sei eine „Fremdkulturvermittlung durch die Übertragung fremdkultureller Weltanschauungen, Denk- und Lebensweisen bzw. Verhaltensmuster etc. in andere[n] Sprach- und Kulturräume[n]“ und formuliert als Ziel den „gegenseitigen, bereichernden Kulturaustausch“. Es soll also nicht lediglich ein Text übersetzt werden; stattdessen wird mithilfe der Übersetzung im literarischen Bereich auch immer ein Stück der Ausgangskultur dargestellt und somit eine Verbindung zwischen verschiedenen Kulturen - der des Ausgangs- und der des Zieltextes - geschaffen (vgl. Ndong 2014: 34).

Eine spezielle Problematik bei der Übersetzung von Kulturspezifika entsteht hierbei aus mehreren Gründen. Zunächst dienen Kulturspezifika in literarischen Werken oft dazu, eine fiktive Welt zu erschaffen und zu gestalten, gleichzeitig haben sie aber auch klare Bezüge zur realen Natur und Kultur der extraliterarischen Welt (vgl. Kujamäki 2004: 921). Neben dem ausgangssprachlichen Kontext ist häufig auch der zeitliche Abstand problematisch, der zwischen dem Originaltext und der Anfertigung der Übersetzung liegt (vgl. Ndong 2014: 41). Da Kulturspezifika nicht konstant dieselben Referenzen und dieselbe Bedeutung für die jeweilige Gesellschaft beibehalten, können hier falsche Übersetzungen oder Konnotationen auftreten. An dieser Stelle soll lediglich kurz auf das Konzept der verfremdenden Übersetzung und das damit verbundene Risiko verwiesen werden, welches bereits thematisiert wurde, da dieses besonders bei literarischen Übersetzungen angewandt wird.10

Ein weiterer Aspekt, der bei der literarischen Übersetzung besondere Schwierigkeiten bereiten kann, ist die komplexe kulturelle Verankerung des literarischen Textes. Diese besteht nicht nur in den Elementen, die sich an der Textoberfläche befinden, sondern häufig zudem auch in impliziten Verweisen auf spezielle Bräuche oder Verhaltensmuster einer Gesellschaft (vgl. Horton 2002: 95). Hier wird ohne die direkte Nennung von Kulturwörtern also oft Wissen über die Ausgangskultur impliziert. All diese Faktoren machen die Übersetzung von Kulturspezifika im literarischen Bereich besonders schwierig und stellen den Translator teilweise vor schwer überwindbare Probleme.

Nach dieser Einführung in einige für das Verständnis der Arbeit wichtig erscheinende theoretische Aspekte soll nun in Kapitel 3 untersucht werden, wie ein bestimmter Übersetzer mit eben jenen Problematiken umgeht und welche Übersetzungsstrategien er anwendet. Es folgt hierzu nun die Untersuchung von Cien años de soledad und der deutschen Übersetzung hinsichtlich der Translation relevanter Kulturspezifika.

3 Wiedergabe von kulturspezifischem Wortschatz in der deutschen Übersetzung von Cien años de soledad

„In Lateinamerika und in der Karibik brauchten die Schriftsteller noch nie eine große Erfindungsgabe; sie standen eher vor dem Problem, das, was sie in der Wirklichkeit fanden, glaubwürdig zu machen.“ (zitiert nach Günther 1995: 384)

Dieses Zitat, das 1980 in der Zeitschrift Nueva Amenecer Cultural erschien, wird Gabriel García Márquez zugeschrieben und zeigt deutlich seine Auffassung der lateinamerikanischen Literatur. García Márquez, der am 6. März 1928 in dem kleinen kolumbianischen Dorf Aracataca geboren wurde, zählt heute zu den meistgelesenen Autoren weltweit (vgl. Günther 1995: 384f.). Sein Leben verbrachte er als Journalist und freier Autor, seinen großen Erfolg als Schriftsteller erlangte er jedoch erst nach Cien años de soledad (1967)11 (vgl. Günther 1995: 385).

Dieses Meisterwerk wird in die literarische Strömung des Magischen Realismus eingeordnet, weil hier Fantastisches mit Realem vermischt wird. Der Roman erzählt die Geschichte der Familie Buendía, die sieben Generationen umfasst und in dem imaginären Dorf Macondo lebt. Zentrale Themen sind die Einsamkeit, die Wiederholbarkeit - sowohl von Namen als auch von Verhaltensweisen - und die Unausweichlichkeit des Schicksals (vgl. Günther 1995: 386). García Márquez erzählt bildhaft und mythisch und erschafft in und mit seinen Werken eine ganz eigene Welt. Jedoch spiegeln all seine Werke auch die reale Geschichte und Kultur der lateinamerikanischen Gesellschaft wider. Aus diesem Grund stellt die Übersetzung seiner Romane hinsichtlich der Kulturspezifik eine besondere Herausforderung dar und der Übersetzer sieht sich oft mit schwer lösbaren Problemen konfrontiert, da es oft schwierig ist, versteckte Bezüge zur kulturellen Wirklichkeit in Lateinamerika in einer anderen Sprache zu vermitteln.

Da alles - auch Sprache, Denken und alltägliches Leben - Kultur ist, wird vor Beginn der Analyse noch kurz erläutert, auf welche kulturspezifischen Elemente des Romans sich die vorliegende Analyse spezialisiert. Die Untersuchung der Kulturspezifika bewegt sich in dieser Arbeit auf der Ebene der „quivalenz von Texten, da diese für das zu Grunde liegende angestrebte Forschungsziel die größte Relevanz besitzen. Gegliedert werden diese Kulturspezifika in Realien, Eigennamen, Metaphern und idiomatische Einheiten. Was genau unter den jeweiligen Bezeichnungen in dieser Arbeit verstanden wird und wie diese klassifiziert werden, findet sich zu Beginn des jeweiligen Kapitels. Ausgesucht werden diese Merkmale, da sie nach der Lektüre und Bearbeitung des Romans und der Übersetzung aufgrund ihrer Verwendung am geeignetsten erscheinen, um die Bedeutung und die Auswirkungen der Übersetzungsentscheidungen anhand von Beispielen zu erläutern. Die ausgewählten Kategorien zeigen sehr deutlich, welche Fehler bei der Übersetzung von Kulturspezifika unterlaufen können und welchen Schwierigkeiten der Translator ausgesetzt ist. Außerdem ergibt sich aus der gesamten Analyse eine ungefähre Vorstellung davon, wie eine Übersetzung die Textrezeption beeinflussen und verändern kann.

Um die nachfolgende Darstellung der erfolgten Untersuchung übersichtlicher zu gestalten, werden die Arten kulturspezifischer Elemente, die zur Veranschaulichung herangezogen werden, in einzelne Gliederungspunkte aufgeteilt. Begonnen wird mit den Realien, die dann innerhalb der Analyse noch weiter differenziert werden. Des Weiteren werden - wie erwähnt - Eigennamen, Metaphern und idiomatische Einheiten analysiert. Die einzelnen Kapitel folgen dann jeweils demselben Schema: Zunächst erfolgt eine genaue Klärung des Gegenstandsbereichs und der zu Grunde gelegten Definition, anschließend werden kurz die theoretische Problematik für den Übersetzer und die möglichen Transferverfahren dargelegt. Dann werden anhand von ausgewählten Beispielen die erfolgte Analyse im Roman und die dabei erzielten Ergebnisse aufgezeigt sowie die gewählte Strategie des Übersetzers erklärt und bewertet, falls eine solche einheitliche Strategie erkennbar ist. Abgeschlossen wird das gesamte Kapitel 3 mit einer zusammenfassenden Darstellung der erzielten Ergebnisse und einer abschließenden Beurteilung. Es soll jedoch an dieser Stelle noch betont werden, dass alle Ausführungen zu Intentionen des Übersetzers und möglicherweise verfolgten Strategien seinerseits, die sich in der vorliegenden Arbeit finden, lediglich als Hypothesen und Einschätzungen zu betrachten sind und keinesfalls als Tatsachen. Als erste Kategorie sollen nun bei der konkreten Analyse die sogenannten Realien untersucht werden.

3.1 Realien

Die Definition von Realien ist in der Übersetzungswissenschaft nicht einheitlich, Snell-Hornby (²1999: 288) fasst diese zusammen als „Element des Alltags, der Geschichte, der Kultur, der Politik u. drgl. eines bestimmten Volkes, Landes, Ortes“. Für die Untersuchung in der vorliegenden Arbeit werden Realien im weiteren Sinne herangezogen und unterteilt in sogenannte Kulturalien und Naturalien.

Die Bezeichnung Naturalien soll in diesem Fall all diejenigen Realienbezeichnungen einschließen, die spezifisch für die Natur einer bestimmten Region sind, wie etwa bestimmte Tierarten, Pflanzen oder meteorologische Phänomene (vgl. Bödeker/Freese 1987: 138).

[...]


1 Vgl. Vermeer, Hans J. (1986): „Übersetzen als kultureller Transfer“, in: Snell-Hornby, Mary (Hg.): Übersetzungswissenschaft - eine Neuorientierung. Zur Integrierung von Theorie und Praxis, Tübingen, 30-53. Dieses Zitat dient hier lediglich der Veranschaulichung, die Abhandlung wird nicht weiter behandelt.

2 Der Ausdruck kulturspezifische Elemente soll im Rahmen dieser Arbeit ‚Kulturspezifika‘ bedeuten und wird demnach synonym verwendet.

3 Für die angefertigte Untersuchung wird jeweils die neueste Ausgabe des spanischen Buches und des deutschen Buches aus dem Jahr 2014 verwendet. Die genauen bibliographischen Angaben zu den Romanen finden sich im Literaturverzeichnis am Ende dieser Arbeit.

4 Weitere Ausführungen zu Konzept und Kultur in Cien años de soledad und zu Gabriel García Márquez finden sich auch in: Günther, Dieter (1995): Die lateinamerikanische Literatur von ihren Anfängen bis heute, Frankfurt/Main.

5 Siehe Kapitel 3.

6 Siehe Einleitung.

7 Genauere Ausführungen zu den einzelnen Übersetzungstheorien gibt es unter anderem bei Stolze, Radegundis (2005): Übersetzungstheorien: eine Einführung, Tübingen: Gunter Narr Verlag.

8 „quivalenz soll in diesem Zusammenhang nach Koller (2004: 343) als „Gleichwertigkeit von Zieltext (Übersetzung) und Ausgangstext (Originaltext)“ und als „optimale Entsprechung“ verstanden werden.

9 Siehe Kapitel 3.

10 Siehe Kapitel 2.2.

11 Die erste deutsche Übersetzung Hundert Jahre Einsamkeit (1970) von Curt Meyer-Clason erschien drei Jahre später.

Ende der Leseprobe aus 55 Seiten

Details

Titel
"Cien años de soledad" von Gabriel García Márquez. Kulturspezifik in der deutschen Übersetzung
Hochschule
Universität Augsburg
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
55
Katalognummer
V355139
ISBN (eBook)
9783668423596
ISBN (Buch)
9783668423602
Dateigröße
911 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
cien, gabriel, garcía, márquez, kulturspezifik, übersetzung
Arbeit zitieren
Julia Sinz (Autor:in), 2015, "Cien años de soledad" von Gabriel García Márquez. Kulturspezifik in der deutschen Übersetzung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/355139

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