Musik und Migration. Die Rolle der Musik im Integrationsprozess von geflüchteten Musikern

Feldforschung


Hausarbeit, 2016

43 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


1. Einleitung

Musik kennt keine Grenzen. Unter diesem Motto werden heute so unterschiedliche Projekte propagiert wie internationale Orchestertreffen, Unterhaltungssendungen im Fernsehen oder Austauschprogramme junger Musiker[1]. Dass Musik Sprach- und Kulturgrenzen überwinden kann ist eine alte Weisheit. Als im September 2015 die deutsche Bundesregierung die Grenzen für Flüchtlinge geöffnet hatte, strömten binnen Monaten Millionen Menschen über den Balkan nach Mitteleuropa. Die Bevölkerung in Deutschland und Österreich zeigte teilweise eine bemerkenswerte Offenheit und Solidarisierung, Viele kamen in diesen Tagen zu den Bahnhöfen in München und Wien, um die Ankommenden zu begrüßen – auch mit Musik. Auf einmal wurde das humanistische Ideal einer Musik, die Menschen jenseits aller Grenzen verbindet, plötzlich mit der Realität konfrontiert. Doch wie geht man nun mit dem Fremden um? Wie empfanden Flüchtlinge die musikalische Begrüßung? Unter ihnen befanden sich auch viele Musiker. Was wollen sie zurückgeben, wie sich musikalisch präsentieren, vorstellen und zeigen? Um Vertrauen zu schaffen, um sich kennenzulernen ist Musik eins der besten Mittel. Viele Musikerinnen und Musiker, Vereine und Verbände, Initiativen haben hier ihre Ideen verwirklicht. So gehen zum Beispiel in Heidelberg im Rahmen des Projekts Spielraum Musik Musikerinnen und Musiker in Flüchtlingsunterkünfte. Mit Instrumenten und der Stimme animieren sie Jugendliche und Kinder dazu, zu musizieren. Der Deutsche Musikrat hat in einer Umfrageaktion eine Vielzahl solcher Angebote zusammengetragen.[2]

Die hier nun stattfindende Begegnung unterschiedlicher Kulturen wirft Fragen der Offenheit, Toleranz und Dominanz auf. Im besten Fall entsteht ein Dialog auf Augenhöhe, der einen echten Austausch ermöglicht, wo sich Menschen, ohne sich hinter ihren Vorurteilen zu verschanzen, begegnen können. Die Voraussetzung dafür ist einerseits, das Eigene wahrzunehmen, das sich gegenüber dem Fremden positioniert, annähert oder verschließt. Andererseits, und das hängt damit unmittelbar zusammen, muss der Andere wahrgenommen, gesichtet und gehört werden.

Die heute Ethnomusikologie, die sich am Anfang des vorigen Jahrhunderts als vergleichende Musikwissenschaft zu entwickeln begann[3], trug genau diese Gegenüberstellung als Vergleich im Namen und beschäftigt sich heute vorwiegend mit interkulturellen Prozessen.[4] Hier ist es die Aufgabe der Disziplin, sich nicht mit Beschreibungen zufriedenzugeben, sondern nach dem Wie und Warum zu fragen. So sollten die eingangs gemachten Behauptungen auch überprüft werden. Ist Musik wirklich eine grenzenlose Sprache, die überall verstanden wird, und zwar „voraussetzungslos, unmittelbar und kulturunabhängig“.[5]

Ursprünglich bestand die Absicht, eine Feldforschung in einem österreichischen Erstaufnahme Camp durchzuführen. Doch schon bald, nachdem erste Interviews durchgeführt wurden, zeigte sich die Problematik, dass der Forschungsansatz für den Rahmen der zu leistenden Arbeit zu umfangreich war und revidiert werden musste. Ein Neuansatz, der den theoretischen Voraussetzungen und den eingangs aufgeworfenen Fragestellungen gerecht wird, ergab sich bald von selbst. Seit November 2015 nahm ich an zahlreichen Projekten teil, die alle das Ziel hatten, musikalisch mit Flüchtlingen zu arbeiten. Schließlich initiierte ich auch eigene Projekte, die als interkulturelle Ensembles bis heute Bestand haben. Außerdem gewann ich als Mitarbeiter eines interreligiösen Musikfestivals Einblicke in den Dialog der Religionen, die ich nun auch für die Begegnung mit Flüchtlingen nutzen konnte.

1.1 Ableitung der Fragestellung

Am Beginn der Arbeit steht die Forschungsfrage: Welche Bedeutung hat Musik im Kontext von Migration für geflüchtete Musiker aus dem arabischen Kulturraum? Gibt es Möglichkeiten des Dialogs mit europäischer Musik und wenn ja, wie verändert sich dadurch der eigene musikalische Stil?

Ich möchte herausfinden, wie das musikalische Ankommen von Musikern aus dem arabischen Kulturraum stattfindet, welche Schwierigkeiten und Probleme auftreten und auf welche Weise ein Dialog mit europäischen Musikern und Zuhörern gelingt.

- Welche Bedeutung hat die Musik des Herkunftslandes für die befragten Flüchtlinge?
- Inwiefern dient die Musizierpraxis als marker of difference und somit als identitätsstiftend?
- Welche Reaktionen auf arabische Musik wurden erfahren?
- Welche Rolle spielt Authentizität beim Musikzieren?
- Wie sehen die Musiker die westliche Musik (bzw. was ist für sie westliche Musik) und hat sich diese Einschätzung seit ihrer Ankunft verändert?
- Gibt es eine soziale Funktion von Musik?
- Hat sich das Musik-Repertoire seit dem Eintreffen im Aufnahmeland verändert?

1.2 Aufstellung der Hypothese

Meine Hypothese, mit der ich an die Arbeit herangehe und die nun zu falsifizieren oder zu verifizieren ist, ist, dass Musik eine grenzüberschreitende Sprache ist, die überall verstanden wird und die als integratives Moment zum Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen beiträgt.

Oder, wie es Alan P. Merriam ausdrückt: „It has been suggested that one of the primary functions of music is to aid in the integration of society, a process of continual concern in human life.”[6]

2. Die Konstruktion des Feldes

2.1 Persönliche Motivation

„Es ist eine historische Entscheidung, weil sie die Geschichte teilt, in ein Vorher und ein Nachher. Jene drei Tage Anfang September 2015, die man schon kurze Zeit später als Merkels Grenzöffnung bezeichnen wird, als zweiten Mauerfall gar […].“[7]

Ähnlich wie es im Zeitungsartikel knapp ein Jahr nach dem Ereignis beschrieben wird, empfand ich den Moment des Eintreffens der Flüchtlinge aus Ungarn am Wiener Westbahnhof als historischen Moment. Obwohl man als Beobachter die Ausmaße des Vorgangs nicht abschätzen konnte, war die ungewöhnliche Energie, die die Ankunft der Flüchtlingsströme in den Städten Mitteleuropas auslöste, bemerkenswert.

Gleichzeitig war aber auch Ungewissheit dabei. Wer waren diese Menschen? Aus dieser Neugier entwickelte sich mein Vorhaben, mich in irgendeiner Weise am Integrationsprojekt dieser Menschen zu beteiligen. Da für mich als Ethnomusikologe noch ein fachgebundenes tiefergehendes Interesse dazukam, beschloss ich eine Feldforschung durchzuführen. Die Gelegenheit dazu ergab sich zwei Monate später, als ich zu einem Musikprojekt mit und für Flüchtlinge eingeladen wurde.

2.2 Das Leben im Flüchtlingsquartier

Es handelte sich um ein selbstorganisiertes Projekt von einer Gruppe Studenten des Wiener Konservatoriums MdW in Wien. Ich war als befreundeter Musiker von Anfang an dabei, wobei sich insgesamt etwa acht Musiker beteiligt hatten. Der Ort war ein gerade erst neu geschaffenes Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in Wien. Die Flüchtlinge wurden hier in einem ehemaligen Regierungsgebäude in der Vorderen Zollamtstraße 7 zu Hunderten untergebracht. Durch die Überfüllung der Kapazitäten des Gebäudes herrschte Raumnot, was die Menschen aus ihren Zimmern auf die Gänge und Treppen des Gebäudes trieb, wodurch eine gewisse Lageratmosphäre entstand. Da keiner sich hier je richtig zuhause fühlte und zudem die Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen kamen, waren die Leute besonders offen. Gerade Einheimische bzw. Europäer waren Gegenstand des allgemeinen Interesses.

Neben den speziellen Musikprojekten, die ich im Lauf des Jahres verfolgte, galt mein Interesse den Menschen, die hier vorübergehend zusammenlebten. Die für eine Teilnehmende Beobachtung geforderte Nähe und Häufigkeit der Aufenthalte ergab sich, als im Flüchtlingsheim ein Café öffnete.

2.3 Kulturcafe VoZo

Als sich nach und nach immer mehr Strukturen im Haus etablierten, veränderte sich auch das Leben der Bewohner. So war die wichtigste Errungenschaft ein Café, das jeden Nachmittag geöffnet war und wo ein zunehmendes Programm angeboten wurde. So gab es für die Kinder beispielsweise Malkurse. Für die Erwachsenen Yoga und Tanzen. Zweimal pro Woche spielten [C1] wir im Café.

Von da an, war ich täglicher Gast in diesem Café und konnte zu einigen Flüchtlingen eine intensivere Beziehung aufbauen. So wurde ich auch des Öfteren von Familien zum Essen eingeladen. Eine Einladung hat hier eine viel größere Bedeutung als in unserer Kultur und kommt einem Vertrauensbeweis gleich. Als Gast verkehrte man gewissermaßen auf derselben Stufe auf Augenhöhe mit seinen Gastgebern. Die dadurch ermöglichten Gespräche und Diskussionen zeigten mir ein völlig neues Bild von diesen Menschen, da nun zum ersten Mal persönliche Schicksale und Gedanken ausgetauscht werden konnten. Durch diese Begegnungen konnte ich neue Erfahrungen machen und dadurch das Leben der Menschen auch aus der Insider Perspektive betrachten.

Um auch dem Anspruch gerecht zu werden die Sprache und Kultur der Menschen zu erforschen, begann ich Farsi zu lernen, was mir einfacher als arabisch zu sein schien, was sich im Nachhinein als für die Feldforschung nicht als entscheidend herausstellte, da alle Probanden Araber waren. Außerdem begann ich auch Daf zu lernen, um die Rhythmen der orientalischen Musik zu verstehen.

3. Theoretischer Hintergrund

3.1 Musik in der Konfrontation des Anderen

Der Begriff Weltmusik ist ein sehr vielschichtiger Begriff. Einerseits als musiktheoretisches Konzept, andererseits als Label der Tonträgerindustrie vermag er oft mehr zu verschleiern, als dass man sich unter dem Begriff tatsächlich etwas vorstellen könnte. Der Musikwissenschaftler Georg Capellen hat den Begriff wohl als erstes in Deutschland schon um 1905 geprägt.[8] Er verstand darunter einen neuen, „exotischen Musikstil“, der Orient und Okzident miteinander verschmelzen könne.[9] Dieser neue Musikstil sollte die Melodik und Rhythmik des Orients mit der westlichen Harmonik verbinden. Diese Gedanken sind heute längst Realität geworden. Arabische Melodien und Beats, die auf ein westliches Akkordschema treffen, finden sich in verschiedenen Stilen, sei es, auf einer einfachen Ebene, in der arabischen Popmusik, sei es, auf vielfältige und recht unterschiedliche Weise in der Musik interkultureller Ensembles.[10] Die Musik unterschiedlicher Kulturen wurde verschmolzen und als musikalischer Synkretismus zu einem neuen Musikstil weiterentwickelt, den man nun oft Weltmusik nennt. Dabei sollte man den Begriff selbst auch kritisch hinterfragen: „It’s not World Music, it‘s the world’s musics.“[11] Wer Musik immer noch ausschließlich im Singular gebraucht verrät die ethnozentrische Sichtweise. Dass es einen übergeordneten Begriff Musik gibt, ist keine Selbstverständlichkeit. So kennen die meisten traditionellen Gesellschaften der Welt keinen abstrakten Oberbegriff, der musikalische Tätigkeiten wie singen, spielen und tanzen vereint.[12] Wer hingegen von Musiken der Welt spricht, beweist das interkulturell geschulte Ohr.

[1] Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Zulassungsarbeit die Sprachform des generischen Maskulinums angewendet. Es wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die ausschließliche Verwendung der männlichen Form geschlechtsunabhängig verstanden werden soll.

[...]


[2] http://www.miz.org/fokus_musik_macht_heimat.html

[3] Vgl. Ernst Moritz von Hornbostel, Die Probleme der vergleichenden Musikwissenschaft, in: Ders. (Hrsg.), Tonart und Ethos. Aufsätze zur Musikethnologie und Musikpsychologie, Leipzig 1986, S. 40.

[4] Vgl. Max Peter Baumann, Music in the Dialogue of Cultures, Wilhelmshaven 1991.

[5] Reinhard Kopiez, Der Mythos von Musik als universell verständliche Sprache, in: Musikermythen, hrsg. von

Bullerjahn und Löffler, Zürich 2004, S. 49

[6] Alan P. Merriam, 1964, S. 46.

[7] Georg Blume u.a., Die Nacht, in der Deutschland die Kontrolle verlor. Was geschah am 4. September 2015? Welche Absichten, Pannen und Missverständnisse dazu führten, dass plötzlich Hunderttausende Flüchtlinge ins Land kamen. Ein Protokoll, in: Die Zeit vom 18. August 2016, Nr. 35, S. 2.

[8] Georg Capellen, Fortschrittliche Melodienlehre, Leipzig 1908. Ders., Exotische Rhythmik, Melodik und Tonalität als Wegweiser zu einer neuen Kunstentwicklung, in: Die Musik 23, 1906/07.

[9] Ebd., zitiert nach: Max Peter Baumann, Musik im interkulturellen Kontext, Nordhausen 2006, S. 16.

[10] Als ein Beispiel unter vielen sei hier die niederländisch-syrische Band No Blues genannt.

[11] Auf einem Plakat in Mickey Harts Studio; s. Keil, Charles und Steven Feld: Music Grooves. Chicago 1991; zitiert nach Max Peter Baumann, 2006, S. 31.

[12] Vgl., Max Peter Baumann, 2006, S. 7. [C1]besser musizierten –?

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Musik und Migration. Die Rolle der Musik im Integrationsprozess von geflüchteten Musikern
Untertitel
Feldforschung
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Note
1,5
Autor
Jahr
2016
Seiten
43
Katalognummer
V354513
ISBN (eBook)
9783668434820
ISBN (Buch)
9783668434837
Dateigröße
604 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Interviewtranskripte sind in dieser Veröffentlichung aus Datenschutzgründen nicht
enthalten. Die Namen der Interviewpartner wurden für die Veröffentlichung verändert.
Schlagworte
musik, migration, rolle, integrationsprozess, musikern, feldforschung
Arbeit zitieren
Philip Henri Unterreiner (Autor:in), 2016, Musik und Migration. Die Rolle der Musik im Integrationsprozess von geflüchteten Musikern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/354513

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