"Ein Ende der Armut ist machbar!" Chancen, Konzepte, gesetzliche Regelungen und politische Umstände zur Bekämpfung der Armut


Essay, 2016

15 Seiten, Note: 1,0

Anonym


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Armutskonzepte
2.1 Armutsbekämpfung in England und ihre Kritiker
2.2 Anfänge der empirischen Armutsforschung
2.3 Ende und Wiederentdeckung der Armut
2.4 Multidimensionale Armut

3.Diskussion der These
3.1 Sinnhaftigkeit eines absoluten Armutsbegriffs
3.2 Armut als soziologisches Phänomen
3.3 Armut und Macht

4. Fazit

5. Literatur:

1. Einleitung

„Ein Ende der Armut ist machbar!“. Diese These vertritt der amerikanische Starökonom Jeffrey D. Sachs in seinem 2005 erschienen Buch mit dem passenden Titel „ The End of Poverty “ (Sachs 2005). Unsere Generation, ist Sachs überzeugt, sei in der Lage der extremen Armut bis zum Jahr 2025 ein für alle Mal zu beenden. Die Ideen vom Ende der Armut ist heute mehr als eine Vision einzelner. Seit der Verabschiedung der Milleniumsziele im Jahr 2000 ist es erklärtes Ziel der internationalen Gemeinschaft. In den 2015 beschlossenen Zielen für Nachhaltige Entwicklung wird gar proklamiert, man wolle ein „ end of poverty in all its forms everywhere “ erreichen (UN 2015).

Doch kann das historische Phänomen Armut überhaupt beendet werden? In diesem Essay möchte ich diese Frage kritisch diskutieren. Dabei werde ich mich mit verschiedenen Armuts-definitionen und -konzepten auseinandersetzen und diese auf ein mögliches Ende der Armuthin beleuchten. Ausgangspunkt bilden dabei die englischen Armengesetze von 1597, die alserste institutionalisierte staatliche Reaktion auf Armut gelten. Im Weiteren werden wissen-schaftliche Ansätze, die sich ab dem 19. Jahrhundert mit der Erfassung und Erforschung dessozialen Phänomens beschäftigen, herangezogen. Wie herausgearbeitet werden soll, spielendiese in der öffentlichen Debatte um Armut und ihr mögliches Ende eine wichtige Rolle.

Ich werde bei meiner Analyse zu dem Schluss kommen, dass die These vom machbaren Endeder Armut nicht nur aufgrund ihres unterkomplexen Armutsverständnisses verworfen werdenmuss, sondern auch unter politischen und machtkritischen Gesichtspunkten bedenklich ist.

2. Armutskonzepte

2.1 Armutsbekämpfung in England und ihre Kritiker

Die zu diskutierende These setzt zunächst implizit voraus, dass Armut etwas Problematischesist, das es besser nicht geben sollte. Dieses Verständnis herrschte nicht immer vor und entwi-ckelte sich erst mit dem ausgehenden Mittelalter. In der mittelalterlichen Gesellschaft war Ar-mut ein normaler Zustand und wurde nicht als Problem, gegen das politisch gezielt vorgegan-gen werden musste, gesehen. Im Gegenteil, durch die Gabe von Almosen und Spenden nachdem sonntäglichen Gottesdienst konnte man sich als Christ sein Seelenheil sichern (Lepenies2011: 76). Der Fokus bei dieser freiwilligen Abgabe lag auf dem Akt des Gebens, nicht etwaauf dem Armen oder einer Bestrebung zur nachhaltigen Veränderung seiner sozialen Situa-tion.

Durch die Monetarisierung der mittelalterlichen Gesellschaft konnten allerdings immer mehr Menschen ihren Lebensunterhalt nicht selbst erwirtschaften, die Zahl der Bettler und Vagabunden in England stieg (ebd.: 80). Infolge dessen wurden Arme immer mehr als eine Bedrohung wahrgenommen. Bettelei und Vagabundieren wurden unter Strafe gestellt. Die besonders angespannte sozioökonomische Lage in England war der Hintergrund des Beginns der staatlichen Armenfürsorge durch die Einführung der Old Poor Laws im Jahr 1597. Nun sollten die Gemeinden durch die Einsetzung von Gemeindeverwaltern, welche einen Armensatz erhoben und verteilten, dem Problem Herr werden (ebd.: 78).

Eine wichtige Veränderung in der Vergabepraxis der Fürsorge brachte die Einführung der Speenhamland-Tabelle im Jahr 1795. Basierend auf dem Brotpreis legte sie fest, ab welchemEinkommen ein Landarbeiter einen Anspruch auf finanzielle Hilfe hatte, um sein Überlebenzu sichern. Damit verlor die elisabethanische Armenfürsorge ihren repressiven Charakter. DieGesetze wurden jetzt für die Armen und nicht mehr gegen sie verwendet (ebd.: 87).Obwohl die Old Poor Laws oft als Keimzelle des europäischen Wohlfahrtsstaates bezeichnetwerden, ist wichtig festzuhalten, dass sie in erster Linie die innere Ordnung im Land sichernsollten. Ihr Anspruch ist damit keinesfalls mit dem heutiger Bemühungen, Armut nachhaltigzu bekämpfen und in letzter Konsequenz gänzlich auszumerzen, zu vergleichen.

Kritiker sahen in den englischen Armengesetzen und besonders in der Speenhamland-Tabelleeinen unnötigen Eingriff des Staates mit desaströsen wirtschaftlichen Folgen. Weil theoretischjeder Geringverdiener Anspruch auf Fürsorgeleistungen hatte, verschwand der Anreiz zur Ar-beit und die Produktivität sank rapide. Die Abschaffung des Speenhamland-Gesetzes im Rah-men der Novellierung der Armengesetze im Jahr 1834 erklärte der Wirtschaftshistoriker KarlPolanyi später zum Beginn der großen gesellschaftlichen Transformation der westlichen Ge-sellschaftsordnung (Polanyi 1944: 81f.). Besagtes Fürsorgesystem wäre fälschlicherweise lange als fortschrittlich wahrgenommen worden, hätte aber in Wirklichkeit dem wirtschaftlichen und sozialen Wandel im Wege gestanden, so Polanyi.

Schon unter den Zeitgenossen waren die Old Poor Laws heftig umstritten. „Der Fortschrittder Gesellschaft wird zeigen, dass manche Mangel leiden müssen (...)“, schrieb der PriesterJoseph Townsend (Townsend 1786: 27). Um darzulegen, dass Mangel und Not natürlichePrinzipien einer Gesellschaft seien, bediente er sich einer Parabel von Hunden und Ziegen,deren Population sich auf einer Insel im Gleichgewicht hält. Armut könne überhaupt nicht be-endet werden. Gesetze, die diesen Eindruck erweckten, seien nicht nur unklug, sondern gera-dezu absurd, urteilte Townsend.

Anders als Townsend, der anstelle der Armengesetze für ein karitatives Fürsorgemodell plä- dierte, forderte Thomas Malthus die ersatzlose Abschaffung derselben. Er formulierte sein be-kanntes Bevölkerungsprinzip und versuchte wissenschaftlich zu begründen, was Townsendzuvor bereits anhand seiner frei erfundenen Anekdote beschrieben hatte (Malthus 1798). Auf-grund des Fortpflanzungstriebs vermehre sich die Menschheit stets schneller als die zumÜberleben notwendigen Ressourcen, so seine zentrale Aussage. Elend sei die logische, jaschicksalshafte Konsequenz dieses Naturgesetzes (ebd.: 20). Malthus wandte sich damit dezi-diert gegen optimistische Zukunftsvision wie sie William Godwin oder Marquis de Condorcetzuvor formuliert hatten. Eine wie auch immer formulierte Vision von einem Ende der Armutwar für Townsend und Malthus abwegig, ja geradezu wider die Natur.Jeremy Bentham, der als Begründer des klassischen Utilitarismus gilt, forderte ebenfalls dieAbschaffung der Old Poor Laws. Er plädierte für eine Privatisierung der Armenfürsorge. Da-für zuständig sollte eine National Charity Company sein, die er selbst leiten wollte. Analog zuseinem bekannten Gefängnisentwurf des Panoptikums sollten die Armen in sogenannten in-dustry houses unter Bedingungen „ no more disireable than of the poorest man outside “ Ar-beiten verrichten (Himmelfarb 1970: 94). Schon allein die Dimensionen, in denen Benthamdachte, machen deutlich, dass auch er nicht an ein mögliches Ende der Armut dachte. Im Ge-genteil, er wollte diese unternehmerisch verwalten und profitorientiert nutzen. In insgesamt500 Häusern sollten eine Million Menschen Platz finden (ebd.: 83).

2.2 Anfänge der empirischen Armutsforschung

Wie Karl Polanyi analysierte, spielten die Liberalisierungen durch die New Poor Laws im Jahr 1834 eine zentrale Rolle bei der Entstehung eines Arbeitsmarktes und für die an Fahrt aufnehmende industrielle Revolution in England. Durch die Aufhebung des Act of Settlement von 1662 konnten Arbeitskräfte vom Land in die wachsenden industriellen Zentren angezogen werden (Polanyi 1944: 82).

Die Umstände, unter denen die arbeitende Bevölkerung in den Fabrikstädten wie Manchesteroder Liverpool lebte, waren jedoch erbärmlich. Friedrich Engels beschrieb diese in seinemWerk „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ detailreich (Engels 1845). Seine ethno-graphisch anmutende Arbeit enthielt bereits die Kerngedanken des Kommunistischen Mani-fests, das er wenige Jahre später zusammen mit Karl Marx verfasste. Im marxistischen Ver-ständnis entsteht die Armut der arbeitenden Klasse zwangsläufig aus der Akkumulation von Kapital und der damit einhergehenden Ausbeutung durch die Kapitalisten (Verelendungstheo- rie). Genau dieses Elend bildet für Engels und Marx jedoch den Ausgangspunkt einer Dyna- mik, die zur Revolution und einem Systemwechsel führt. Für eine friedliche Lösung war es laut Engels bereits 1845 zu spät: „Die Klassen sondern sich schroffer und schroffer, der Geist des Widerstandes durchdringt die Arbeiter mehr und mehr, die Erbitterung steigt (...) und ein kleiner Anstoß wird bald hinreichen, um die Lawine in Bewegung zu setzen“ (ebd.: 506). Das Ende der Armut war für ihn nicht durch Fürsorge oder andere Sozialprogramme innerhalb des kapitalistischen Systems zu erreichen. Die Armut selbst sei die Keimzelle der Dynamik, die zur Revolution und schließlich ihrer Überwindung im Kommunismus führt.

Einen kommunistischen Umsturz wollten Unternehmer wie Charles Booth und Seebohm Rowntree verhindern. Die Armenaufstände in den 1840er Jahren und die Erfahrungen aus derFranzösischen Revolution hatten bei den oberen Schichten der Gesellschaft zunehmend zu derErkenntnis geführt, dass etwas gegen das soziale Elend getan werden müsse. Doch wer undvor allem wie zahlreich waren diese Armen überhaupt? Arbeiten wie das 17-bändige Werk „ Life and Labour of the People in London “ von Charles Booth versuchten darauf eine Ant-wort zu finden. Auf Basis von Zensusdaten, den Berichten von Schulinspektoren und anderengesellschaftlichen „Aufsehern“ versuchte er, die numerische Dimension der Armut in Eng-lands Hauptstadt zu bestimmen (Lindner 2004: 77f.). Dazu teilte er die Londoner Bevölke-rung in acht Gruppen ein und erstellte detailreiche Karten auf denen diese farblich illustriertwaren. „ Thus, it was possible (...) to display (...) the local distribution and even the exact lo-cation of the misery, the poverty, the comfort and the luxury of the whole Metropolis. “ (Webb1988: 248).

Seebohm Rowntree ging methodisch anders als Charles Booth vor, kam aber zu einem ähnli-chen Ergebnis, was den Anteil der Armen in seiner Heimatstadt York anging (etwa 30%). Ergilt mit seinem im Jahr 1901 erschienen Buch „ Poverty, A Study of Town Life “ als Erfinderder Armutslinie (Ronwtree 1901). Seine poverty line stellt einen Geldbetrag dar, der zur Auf-rechterhaltung der physischen Arbeitskraft (merely physical efficiency) eines Haushalts nötigist. Diesen ermittelte Rowntree auf Basis der empfohlenen Kalorienmenge für ein bestimmtesGeschlecht beziehungsweise Alter und den Marktpreisen für einen lebensnotwendigen Wa-renkorb (ebd.: 87ff.). Dieses absolute Armutsmaß ließ sich transparent ermitteln und monetärgenau quantifizieren. Damit reduzierte es jedoch gleichzeitig Armut auf Überlebensarmut undmachte so aus einem komplexen sozialen Phänomen eine Kennzahl. Die Vorteile dieser Er-rungenschaft liegen auf der Hand: Erstmals war es möglich, den Anteil der Armen genau zuquantifizieren und eine Entwicklung im Zeitverlauf nachzuzeichnen.

Booth und Rowntree führten ihre Forschung nicht durch, weil sie eine Vision vom Ende der Armut hatten. Es ging ihnen vielmehr darum, das Problem überhaupt erst einmal zu erfassen. Die Armenviertel der Großstädte wie Londons East End galten bis zu diesem Zeitpunkt als unerforschte „ terra icognita “ (Linder 2004: 71). In einem nächsten Schritt wollte vor allem Rowntree durch seine Forschung evidenzbasierte Politikberatung ermöglichen. Sein absolutes Armutsverständnis und die Berechnungsmethode seiner Armutslinie waren ausschlaggebend für das vermeintliche Ende der Armut in den 1950er Jahren.

[...]

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
"Ein Ende der Armut ist machbar!" Chancen, Konzepte, gesetzliche Regelungen und politische Umstände zur Bekämpfung der Armut
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,0
Jahr
2016
Seiten
15
Katalognummer
V354465
ISBN (eBook)
9783668404984
ISBN (Buch)
9783668404991
Dateigröße
558 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Armut, Armutsbekämpfung, Sachs
Arbeit zitieren
Anonym, 2016, "Ein Ende der Armut ist machbar!" Chancen, Konzepte, gesetzliche Regelungen und politische Umstände zur Bekämpfung der Armut, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/354465

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