Goffmans Stigmatheorie. Eine Analyse der deutschen Hexenverfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts als Ergebnis sozialer Spannungen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2015

20 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Hexenverfolgung in Deutschland der frühen Neuzeit
2.1. Ursachen und Auslöser
2.2. Das Urteil Hexe: Wer wurde angeklagt?

3. Goffmans Stigmatheorie
3.1. Stigma und Identität
3.2. Sozialisation und Konsequenzen
3.3. Exkurs: Der Nutzen von Stigmata. Über Vorurteil und Diskriminierung
3.4. Reaktionsmöglichkeiten: zwischen Akzeptanz und Leugnung
3.5. Strategien zum offenen Umgang
3.6. Strategien zum verdeckten Umgang
3.7. Das Umfeld: Seinesgleichen und Weise

4. Zusammenfassendes Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Ein Stigmatisierter hat in seiner Gemeinschaft gewiss einige Erschwernisse und Benachteiligungen zu ertragen. Neben einer geminderten oder gar fehlenden sozialen Akzeptanz kann es zu Denunziation, psychischem Stress und Identitätsproblemen kommen. Auch ganz praktische Probleme, wie das Finden einer Arbeitsstelle gehören natürlich dazu. Doch tatsächlich gab es bereits Zeiten in der Historie der Menschen, in denen bestimmte Personenkategorien so benachteiligt wurden, dass ihnen noch nicht einmal leben möglich war. Und das sei ganz und gar wörtlich zu nehmen: aufgrund antizipierter Andersartigkeit und angenommener Bedrohung wurden Menschen angeklagt, verhört und dann zum Tode verurteilt. Gemeint ist hier speziell die Personengruppe „Hexen“, denen ein Teufelspakt unterstellt wurde. Der Dominikaner Heinrich Kramer und Jakob Sprenger veröffentlichten um das Jahr 1486 das Werk „Malleus Maleficarum“; den sogenannten Hexenhammer, der nicht nur eine Rechtfertigung für einen kirchlichen und weltlichen Verfolgungs- sowie Vollstreckungsappart der Zeit verkörperte, sondern auch detaillierte Verfahrensweisen zur legitimierten Folter (vgl. Institoris & Sprenger 1923, S. 14-144). Allein in Deutschland wurden zwischen 1570 und 1680 25000 Menschen als Hexen diskreditiert und verurteilt (Dillinger 2008, S. 89). Doch viel erschreckender ist wohl die Tatsache, dass der Verfolgungswillen vielmehr vom Volk als von den Machthabern ausging (vgl. Lorenz 2004, S. 195-198). Was waren die Ursachen für dieses Begehren? Wer galt als böswillige Hexe? Was für eine Art der Stigmatisierung passierte? Und wie greift das Hexenbild als Stigma, das soziologisch betrachtet werden kann?

In dieser Arbeit soll Deutschland, insbesondere Dieburg, in der frühen Neuzeit hinsichtlich der Hexenprozesse beleuchtet werden. Nach einem Umreißen des historischen Kontextes und der Ursachen der Verfolgungen wird auf das volkstümliche Hexenbild eingegangen. Im zweiten Teil wird Goffmans Stigma-Theorie erläutert und dahingehend geprüft, wie die Hexenprozesse in damaligen Gemeinschaften darauf anwendbar sind. Speziell soll es dabei um die Sicht der Anklagenden und Verurteilenden; also der Gemeinschaft, auf den Stigmatisierten gehen. Im letzten Teil wird ein zusammenfassendes Fazit gezogen, in dem die Anwendbarkeit kritisch betrachtet werden soll.

In dieser Arbeit soll es nicht um theologische oder andere Ansätze der Hexenprozesse gehen. Vielmehr werden sie als Ergebnis von sozialen Konfliktstellationen und als Indikator für den Spannungszustand einer Gemeinschaft betrachtet. Auch sollen ganze Prozesskaskaden nicht beleuchtet werden, sondern die am Anfang stehenden Beschuldigungen, da diese ein statistisch signifikantes Stigma-Bild der Hexe ermöglichen.

2. Die Hexenverfolgung in Deutschland der frühen Neuzeit

2.1. Ursachen und Auslöser

Nach Lehmann sind Hexen eine marginale Gruppe in einer Gemeinschaft, die die Mehrheit mit Vorurteilen betrachtet und als Außenseiter behandelt (vgl. Lehmann 1978, S. 118). Doch selbstverständlich tauchte das Hexenbild nicht erst zur frühen Neuzeit auf. Tief verwurzelt im Denken der Menschen ist schon im vorchristlichen Europa Magie schlicht und ergreifend Teil der Realität. Das althochdeutsche Wort „Hagazussa“, was übersetzt so viel wie „Besen-“ oder „Zaunreiterin“ bedeutet, weist auf das Erbe des heidnischen Glaubens hin (vgl. Pfeifer 1989, S. 680). Allerdings ist die ursprüngliche Bedeutung nicht ausschließlich negativ sondern ambivalent gewesen; Magie konnte für positive und helfende Zwecke; wie Hellsehen, Esoterik und Medizin, verwendet werden, aber auch für Schaden missbraucht werden. Den negativen Anklang erhielt das Wort mitunter erst durch die Übernahme der christlich-römischen Werte im Zuge der Christianisierung. Schlichter Aberglaube kann also als eine Ursache späterer Hexenprozesse betrachtet werden (vgl. Dillinger 2008, S. 75; Pfeifer 1989, S. 680). Zusätzlich wurden bereits im 12. Jahrhundert Glaubensabweichler und Ketzer kirchlich verfolgt. Im Zuge der Häretikerverfolgungen im römischen Reich und der kirchlich und weltlich gestützten Inquisition wurde dann Hexerei und Häresie gleichgesetzt, sodass auch Hexen verfolgt wurden. Damit war auch die Leugnungsphase der Kirche seitens der Existenz von Hexen und heidnischen Aberglaubens dahingehend beendet, als dass die Existenz von Schadenszauber treibenden Personen, die mit dem Teufel einen Pakt geschlossen haben und sich vom christlichen Glauben abgewandt haben, zugestanden wird. Die theologische Ursache hinsichtlich des „Schützen Gottes Reiches“ und kirchlicher Überzeugungs- und Disziplinierungsmaßnahmen zur Verbreitung und Reinhaltung des christlichen Glaubens ist also trotz der christlichen Gebote der Nächstenliebe ersichtlich (Lorenz 2004, S. 195, Angenendt 2007, S. 232-290). Jedoch werden Hexenprozesse als „complex phenomen, involving political, social, psychological and ideological facts, which appear when a society, or a group within it, experiences tensions and difficulties under the stress of a rapid change“ (Rosen 1960, S. 204) betrachtet, sodass eine differenzierte Ursachenbetrachtung konstituierend ist. Die Hexenforschung hat ein Begehren zur Hexenverfolgung des Volkes von „unten“ und eher eine regulierende Bereitschaft dazu von „oben“ erkennen können; demnach können die Prozesse also als Indikator für die Bewältigung von sozialen Konflikten und aktuellen Bedrohungen gesehen werden (vgl. Lorenz 2004, S. 195-198). So kann beispielsweise die Theorie von Konjunkturen der Angst, die davon ausgeht, dass eine Gesellschaft je nach Bedrohungsgrad latente oder auch unmittelbare Angst spürt, herangezogen werden (vgl. Dillinger 2008, S 75). Die frühe Neuzeit in Deutschland war tatsächlich von großen Unsicherheiten geprägt; so riss der „Schwarze Tod“, die Pest, im 14. Jahrhundert bedrohlich viele Menschenleben mit sich. Auch unsichere Papstwürden, wie die „große Schisma“ im 15. Jahrhundert oder militärische Niederlagen in Kriegen tragen zur Spürbarkeit von aktueller Unsicherheit und Angst bei (vgl. ebd., S. 75-76). Zusätzlich muss die Akkulturation genannt werden: im 16. und 17. Jahrhundert versuchten die politische und kirchliche Führung beispielsweise die tridentischen Reformen in der Landbevölkerung durchzusetzen; damit sollte die traditionelle Kultur der Bauern der Kultur der Eliten angepasst werden. Mit dieser erzwungenen Akkulturation wurde neben ökonomische Krisen Konfliktpotential verursacht. Auch das Aufzwingen der dämologischen Hexerei auf das ursprüngliche volkstümliche Magieverständnis gehört demnach zu Akkulturation (vgl. ebd., S. 75-76). Auch das Behringer-Paradigma greift hier; demnach standen hinter jeder Prozesskaskade akute soziale Notsituationen wie Ernteausfälle und nachziehende ökonomische Krisen; dazu zählen auch Seuchen und Hungerkrisen, die zu sozialen Spannungen führten. Speziell dazu lässt sich vor Allem die sog. „kleine Eiszeit“ in Deutschland festhalten: das Klima innerhalb des frühen 14. bis zum späten 19. Jahrhundert war ungewöhnlich kalt; doch in der Kernphase von 1560-1630 vielen mitunter durch feuchte und kühle Sommer sogar die schwarzen Blätter von den Bäumen; die Winter waren lang und hart und zusätzlich war das Land von Stürmen und Unwettern heimgesucht. Dies führte Agrarkrisen, die wiederum ökonomische Krisen und Hungersnöte zur Konsequenz hatten (Lorenz 2004, S. 197). Generell wandte man sich besonders in der frühen Neuzeit, anders als zur Renaissance, dem Jenseitsgedanken zu, der das menschliche Erdendasein lediglich als Durchgangstation, die Mäßigung und Askese verlangt, versteht. In einer Zeit, in der nie sicher ist, ob die Ernte auf dem Feld nicht verschimmelt oder durch einen Sturm vernichtet wird; in der eine permanente Angst vor Seuchen und Krankheit sowie Krieg herrscht, scheint das einzig Zuverlässige nach dem Vanitas- und Momento-Mori-Motiv der Tod zu sein. Dogmatismus, Konfessionen sowie Religionen bedeuteten in solch einer unsicheren Situation Halt (vgl. ebd., S. 197). Diese allgemeine Krisensituation ist maßgeblich für das diffuse Gefühl der Angst in der Bevölkerung: spezielle Krisen als Auslöser in der jeweiligen Lebenssituation haben dann die unmittelbare Angst und massive Hilflosigkeitsgefühle zur Folge. So können bestimmte Unwetter zum Auslöser werden; im Sommer 1562 tobte in Südwestdeutschland ein schwerer Hagelsturm, der einen Großteil der Ernte vernichtete, woraufhin ein Anstieg in den Prozesszahlen nachzuweisen ist (vgl. Raith 2004, S. 228-229). Konkrete Vorwürfe wurden dann Hexen gerichtet, um einen Schuldigen auszumachen (vgl. Dillinger 2008, 75-76; Lorenz 2004, S. 195f): wie zum Beispiel bei der Verurteilung einer Hexe in Dieburg 1569, die zuvor nachts auf einem Feld gesehen wurde, das ohnehin als zwielichtig galt. So ist im Bericht des Hochheimer Amtsmann Folgendes hinsichtlich der Verurteilung nachzulesen:

„In sonderlicher erwegung [daß] neulicher zeitt viehe daselbst verdorben vnd schaden genommen.“

Original nachzulesen in: BStA Wü MDP 14, fol. 95r, zitiert nach Herbert Pohl, S. 207

Letztlich ist zu konkludieren, dass die Hexenprozesse im Ausmaß regional abhängig gewesen sind und eher als Indikator für den aktuellen sozialen Zustand der Gemeinschaft vor Ort fungierten als als ein einheitliches Messinstrument.

2.2. Das Urteil Hexe: Wer wurde angeklagt?

Als Erstes ist es grundlegend, einen Unterschied zwischen einzelnen Prozessen und ganzen Prozesskaskaden festzustellen: lokal und zeitlich begrenzt sind Prozesse, die durch Denunziation durch die Gemeinschaft ausgelöst werden (vgl. Pohl 2008, S. 212). Diese können dann einen autokatalytischen Prozess auslösen, sodass sich eine Prozesskaskade anschließt, bei denen während des Prozesses Hexen kreiert werden – das Stereotyp also aufgelöst wird. Mit der Durchbrechung des volkstümlichen Hexenbild konnten Personen jeden Alters, jeder Schicht und jeden Geschlechtes unter Verdacht geraten (vgl. Pohl 2008, S. 212; Lehmann 1978, S. 27). Betrachtet sollen hier deshalb vor Allem einzelne Prozesse, die das Stigma Hexe als Personenkategorie soziographisch signifikant machen. Die Schwierigkeit stellt sich jedoch in der Datenfeststellung, da Alter, Beruf, Familienstand und Vermögen während der Prozesse meistens undokumentiert blieben. Bezogen wird sich deshalb in die von Herbert Pohl aufgearbeiteten Prozesse in und um Dieburg des 16. und 17. Jahrhunderts.

Zum Verhältnis der Geschlechter lässt sich feststellen, dass der überwiegende Teil der Angeklagten Frauen gewesen sind: um das 17. Jahrhundert liegt der Anteil der Männer zwischen 17,1% und, bis zum Jahre 1613 am Ende einer Prozesskaskade, an der allein 214 Menschen verurteilt wurde, 29,8% (Pohl 2008, S. 213-214). Jedoch standen Männer nie am Anfang einer Prozesskaskade. Erst nach Etablierung einer Kaskade wurden sie (ebenso wie Kinder) ebenfalls angeklagt. Zum Merkmalskatalog der Hexe gehört also definitiv das Geschlecht „weiblich“. Da die meisten der Diskreditierten bereits verheirateten waren und erwachsene Kinder hatten, kann man davon ausgehen, dass das Alter im mittleren bzw. fortgeschrittenen Bereich gelegen haben muss (vgl. ebd., S. 219). Genaues wurde bis 1612 nicht festgehalten, bis das Generalinterrogatorium Dieburgs obligatorische Fragen zum Angeklagten einführte: demnach lag das Durchschnittsalter bei 55 Jahren. Wenn man jedoch bedenkt, dass ca. 25% einer Generation bis zum dritten Lebensjahr, ein weiteres Viertel bis zum 25. Lebensjahr und das dritte Viertel bis zum 50. Lebensjahr starb, ist „hohes Alter“ durchaus als Merkmal der Hexe anzudenken (vgl. ebd., S. 219). Dieburgs Verurteilte gehörten dazu hauptsächlich der (unter-)bürgerlichen und (unter-)bäuerlichen Schicht an: häufig angegebene Berufe sind beispielsweise Bäcker, Sattler, Wirt oder Hebamme(vgl. ebd., S. 222). Außerdem waren die Meisten nicht sehr wohlhabend oder sogar vergleichsweise arm (vgl. ebd., S. 229). Zum Sozialstatus kann man dem typischen Hexenbild Dieburgs also die Attribute „Angehörige einer eher niedrigen Schicht“ und damit auch „Armut“ hinzufügen. Daneben ist noch der einflussreiche Faktor der Anerkennung in der Gemeinschaft: so wurden hauptsächlich Verfemte oder sozial marginal Stehende angeklagt. Neu Hinzugezogenen oder Menschen mit besonderem esoterischem Wissen (insb. auch Wissen über Verhütungsmöglichkeiten) stand die Gemeinschaft mit Angst und Vorurteilen gegenüber; so waren im Jahr 1627 gut ein Drittel aller der Hexerei Beschuldigten keine gebürtigen Dieburger (vgl. ebd., S. 230). Zusammenfassend handelt es sich beim Stigma „Hexe“ also nicht um einzelne Personenmerkmale im Goffman’schen Sinne, sondern um einen Katalog, bei dem das Zusammentreffen von spezifischen Merkmalen und Umweltbedingungen dazu führte, dass die Gemeinschaft jemanden als Hexe oder Hexer „entlarvte“ – das bedeutet, dass es mehrere Kombinationsmöglichkeiten von bestimmten Merkmalen gibt, die zum Stigma „Hexe“ führen und durchaus nicht alle Attribute zutreffend sein müssen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Goffmans Stigmatheorie. Eine Analyse der deutschen Hexenverfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts als Ergebnis sozialer Spannungen
Hochschule
Universität Koblenz-Landau  (Institut für Soziologie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
20
Katalognummer
V353323
ISBN (eBook)
9783668393424
ISBN (Buch)
9783668393431
Dateigröße
907 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
goffman, stigma, hexe, hexenverfolgungen, deutsche, theorie, soziale, spannungen, stigmatisierung
Arbeit zitieren
Melissa Quantz (Autor:in), 2015, Goffmans Stigmatheorie. Eine Analyse der deutschen Hexenverfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts als Ergebnis sozialer Spannungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/353323

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