Rousseaus "Rêveries". Einsamkeit vs. Gesellschaft in der deuxième promenade


Hausarbeit, 2013

19 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Einsamkeit als etwas Positives
2.1 Einsamkeit bei Rousseau allgemein
2.2 Einsamkeit in der deuxième promenade
2.2.1 Rêverie und Kontemplation
2.2.2 Einsamkeit und Natur: Auto-suffisance und Botanisieren

3 Die Ekstase bei Ménilmontant

4 Individuelle Ekstase vs. Gesellschaft

5 Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Schönfelder

1 Einleitung

Tout ce qui m’est extérieur m’est étranger désormais. Je n’ai Ɖlus en ce monde ni prochain, ni semblables, ni frères. Je suis sur la terre comme dans une planète étrangère où je serais tombé de celle que j’habitais.“ Im ganzen Werk Rousseaus kehrt das gequälte Empfinden der Entfremdung von der Welt und der Gesellschaft wieder (Baczko, S. 13). Es ist bekannt, dass Rousseau mit fortschreitendem Alter mehr und mehr unter (teilweise begründeten) Verschwörungsängsten und Verfolgungswahn litt, die einerseits seine gesellschaftliche Isolation vorantrieben, andererseits durch diese verstärkt wurden. Das Leben Rousseaus kann gesehen werden als ͣeine Geschichte der wachsenden Vereinsamung“, wobei er nicht nur einsam war, sondern auch viel über Einsamkeit nachdachte (Baczko, S. 207). Dies fand seinen Höhepunkt in den Rêveries du promeneur solitaire, was der Titel bereits deutlich macht. Nach den Confessions und den Dialogues waren die Rêveries das dritte und letzte autobiographische Werk Rousseaus. Er hatte in den Dialogues vergebens versucht, sich gegen die Vorwürfe seiner Gegner zu wehren und sein verlorenes Ansehen wiederzuerlangen. Die Rêveries -entstanden während der letzten Lebensjahre Rousseaus- sind geschrieben in der Einsicht, dass es für ihn keine Möglichkeit gibt, in die Gesellschaft zurückzukehren. Die Zentralität des Begriffs Einsamkeit für die Rêveries wird dem Leser bereits durch ihre prominente Stellung als Eröffnungszeile des ganzen Werkes deutlich gemacht: ͣMe voici donc seul sur la terre, n’ayant Ɖlus de frère, de Ɖrochain, d’ami, de société que moi-même“ (S. 35). Dabei geht es hauptsächlich um die Frage, welchen Wert diese Einsamkeit gegenüber der Gesellschaft hat und wie bzw. ob der Mensch in der Gesellschaft glücklich sein kann.

Diese Arbeit soll anhand der deuxième promenade zeigen, dass die Versöhnung zwischen Individuum und Gesellschaft (wie noch in den Confessions und den Dialogues behauptet) nicht möglich ist, d.h., dass das individuelle Glück und die Gesellschaft sich gegenseitig ausschließen. Die Struktur orientiert sich an der Struktur der deuxième promenade selber, die sich in drei klar abgetrennte Teile gliedert. Zunächst soll der Begriff der Einsamkeit bei Rousseau an sich geklärt werden; anschließend steht die Einsamkeit in der deuxième promenade im Vordergrund, hier vor allem begriffliche Referenzen dazu sowie im Zusammenhang mit Natur. Dies bereitet das Feld vor für den Unfall und die Ekstase von Ménilmontant, dem Höhepunkt der deuxième promenade. Schließlich wir im dritten Teil die Darstellung der Gesellschaft im Fokus stehen, denn der Wert von Einsamkeit wird nur deutlich im Vergleich mit ihrer Alternative, d.h., dem Zusammensein mit anderen. Generell wird auch auf stilistische Besonderheiten eingegangen werden: der Wechsel von melancholischem Frieden, brutalem Unfall, anschließender Euphorie, gefolgt von Verfolgungswahn und schließlich Vertrauen in Gott schlägt sich auch im Stil der einzelnen Passagen wieder und lässt die deuxième promenade abwechslungsreich sein wie keine andere in den Rêveries (Parent, S. 523).

2 Einsamkeit als etwas Positives

2.1 Einsamkeit bei Rousseau allgemein

Der Begriff der Einsamkeit hat eine lange Bedeutungstradition in der Philosophie, vor allem im religiösen Kontext. In der Mystik ist sie ͣdie Voraussetzung für das Einfließen Gottes in die Seele“ (Emmel, S. 407), im Pietismus ermöglicht sie das individuelle Gotteserlebnis. In der Empfindsamkeit (zu der Rousseau gezählt werden kann) erhält Einsamkeit einen besonderen Wert durch den Vorrang der Innerlichkeit vor dem Äußeren (Emmel, S. 407). Immer geht es um eine privilegierte Erkenntnismöglichkeit des Individuums durch Absonderung von der Gemeinschaft. Rousseau greift diese Idee auf und verarbeitet sie als ständig wiederkehrendes Motiv in seinem Werk. Eigentlich sollte man eine Vermischung von literarischem Werk und Verfasser vermeiden und beide getrennt betrachten. In den Rêveries wird die Differenz zwischen Werk und Autor jedoch aufgehoben (Gaul, S. 148), sodass sich ein kurzer Seitenblick auf die Einsamkeit bei Rousseau außerhalb der Rêveries lohnt, um diese besser verstehen zu können. Zum einen soll kurz betrachtet werden, welchen Wert Rousseau der Einsamkeit zuordnet und zum anderen die Charakteristik der Einsamkeit als Gefühl.

Einsamkeit ist ein Thema, dass das komplette Werk Rousseaus durchzieht, vor allem das autobiographische Trio Dialogues, Confessions und die Rêveries; das Wort ͣseul“ und seine Verwandten (ͣisolé“,“sans ami“, ͣétrangé“, etc.) gehören zu den am häufigsten wiederholten und kommen teilweise mehrmals pro Seite vor (Baczko, S. 199). Generell wird das lleinsein bei Rousseau Ɖositiv bewertet: ͣgut ist nur der einsame Mensch“ (Fragments autobiographiques, S. 1175).1 Damit stellt sich Rousseau auch gegen den größten Teil der Aufklärer (v.a. Diderot, Voltaire, Holbach), die in der Einsamkeit einen anormalen Zustand sahen und sie deshalb als ͣSchwärmerei und Unnatur“ verurteilten; der aufgeklärte Mensch bewährt sich im Umgang mit seinen Mitmenschen (Baczko, S. 208). Der Mensch muss vor der Einsamkeit beschützt werden, nur so kann er Glück erlangen und seine Persönlichkeit entfalten (Baczko, S. 209). Bei Rousseau hingegen verkehrt sich der moralische Wert der Einsamkeit ins Gegenteil: der sensible und moralisch gute Mensch muss sich von der verdorbenen Gesellschaft fernhalten, um seine moralische Überlegenheit zu schützen (Baczko, S. 209). Auch nach der im Essai sur l’origine des langues erstmals behandelten Vorstellung von einem ‚goldenen Zeitalter‘ der Menschheit fällt auf, das dieser Mensch alleine bzw. autark war. Sobald sich die ersten Menschen zusammen gefunden und eine Art Gesellschaft gebildet hatten, endete dieses goldene Zeitalter. Einsamkeit heißt bei Rousseau also mehr als ein Ergebnis äußerer Umstände2, nur seine eigene Einsamkeit, sondern erhält durchaus eine weltanschauliche Perspektive. Es geht um den Sinn der Einsamkeit an sich und wie man durch sie die Welt wahrnimmt (Baczko, S. 209).

Im Zusammenhang mit Einsamkeit untrennbar verbunden ist das Gefühl (sentiment). Das scheint banal, ist aber im zeitlichen Kontext Rousseaus wichtig, denn auch hier zeigt sich seine Kritik an der Aufklärung. Diese stellte bekanntlich die Vernunft über alles und wollte die Welt durch aufmerksames Beobachten und scharfen Schlussfolgerungen begreifen, ganz im Geiste Descartes‘. Diesem vernunftbetonten Blick auf die Welt stellt Rousseau das sentiment als einziges Mittel zum authentischen Dasein entgegen, welches als Schlüssel zur rousseauschen Anthropologie gesehen werden kann (Sgard, S. 854). Wo die Aufklärer Descartes‘ ͣIch denke, also bin ich“ folgten, kann Rousseaus Maxime als ͣIch fühle, also bin ich“ gefasst werden. Das zeigt sich auch durch das häufige uftreten von Wörtern wie âme, cœur, sensibilité, sentiment, etc, die alle eben nicht rationale Begriffe sind, sondern affektive. Aus diesem Grund war Rousseau auch ein großes Vorbild für die Romantiker. Einsamkeit reiht sich also schlüssig ein in Rousseaus Gesamtkonzept vom Gefühl das der Vernunft überlegen ist.

Einsamkeit und für-sich-Sein hat bei Rousseau also einen festen Platz und ist im Gegensatz zur Abneigung seitens Rousseaus Zeitgenossen bei ihm nichts Negatives, sondern bietet im Gegenteil besondere Erkenntnismöglichkeiten, wie sich auch in der deuxième promenade zeigen wird.

2.2 Einsamkeit in der deuxième promenade

2.2.1 Rêverie und Kontemplation

In Anbetracht Rousseaus literarischer Leistungen als einer der größten Schriftsteller seines Jahrhunderts (Crogiez, S. 103) kann man davon ausgehen, dass er seine Worte auch in den Rêveries mit Bedacht gewählt hat. Die von ihm verwendeten Begriffe sind oft nicht einfach nur eine ästhetische Entscheidung, sondern kommen häufig aus der philosophischen Tradition und sind dementsprechend nicht neutral, sondern haben -wenn man mit diesen Begriffen vertraut ist- durchaus Konsequenzen für die Lesart des Textes. Raymond fasst das passend zusammen:

Les Rêveries du Promeneur Solitarie contienent peu de rêveries proprement dites; elles ne sont Ɖas un journal intime, un ͣinforme journal“. On ne romƉt Ɖas si facilement avec des siècles de discours rêthorique (Raymond, S. 197).

Obwohl sie sich gerne den Eindruck von Spontanität und absoluter Individualität geben, sind die Rêveries sind voller Begriffe und Ideen, die bei anderen Autoren schon verwendet wurden und teilweise eine jahrhundertelange Tradition haben. So finden sich vor allem im dem Unfall vorangehenden Teil viele Referenzen zum Thema ‚Einsamkeit‘. Zwei dieser Begriffe sind für die Rêveries bzw. die deuxième promenade besonders wichtig, nämlich einerseits die Rêverie an sich und andererseits die Kontemplation.

Es ist kein Zufall, dass Rousseau die Rêverie als Format für sein letztes Werk gewählt hat, denn der Begriff ist durchaus programmatisch. Traditionell gibt es in der abendländischen Philosophie vor allem von Logik und Vernunft bestimmte Denkformen (z.Bsp. Sokrates, Descartes). Bei der Rêverie hingegen handelt es sich um eine radikal ungebundene Form des Denkens: man lässt die Gedanken schweifen und folgt einem unreflektierten freischwebenden Vorstellungsverlauf (Goldmann, Wachtraum; Tagtraum, S. 13). Anfangs eher negativ mit Vagabundieren, Delirieren und ausschweifendem Phantasieren konnotiert, erfährt die Rêverie erstmals bei Montaigne -bedingt durch dessen Auffassung von der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnismöglichkeit- eine starke ufwertung zur ͣstimmungsvollen Meditation und einsamen Reflexion“ (Goldmann, Wachtraum; Tagtraum, S. 13). Die Rêverie wird eine Art Topos, die für das Zurückziehen aus der Gesellschaft zum Zwecke der freien Erkenntnisfindung steht, oft v.a. im religiösen Kontext. Jedoch wandelt sich bei Rousseau sich die Rêverie mehr und mehr vom literarischen Topos zum persönlichen Mythos (Morrissey, S. 124). Er fügt ihr eine Vielschichtigkeit hinzu, die sich so bei den anderen Autoren nicht findet: einerseits hilft sie, die von der Gesellschaft aufgezwungene Isolation auszuhalten und anzuprangern (Morrissey, S. 152); andererseits erlaubt sie ihm, sich von der Welt zurückzuziehen in eine ͣIsolation Ɖrotectrice“ und sich aus der Welt des Menschen zurückzuziehen heißt sich der wahren Natur der Dinge anzunähern (Morrissey, S. 152). Die Rêverie wird so eine Verschränkung von Philosophie, Psychologie und teilweise Autobiographie, die eine bis dahin unbekannte Intimität und Sensibilität an den Tag legt (Morrissey, S. 152). Begrenzt durch die äußeren Umstände (Vertreibung aus Genf, Verbot seiner Schriften, etc.) bietet Rousseau also die Möglichkeit, diesen Umständen zu entfliehen und seine Einsamkeit in etwas Positives umzuwandeln: diese kann ihm Erkenntnisse über sich selbst, die Natur und die Welt im llgemeinen liefern, die ihm in der ‚normalen‘ Gesellschaft nie zugänglich wären. Man muss dazu anmerken, dass in den Reveries mehrmals behauptet wird, Rousseau würde sie exklusiv für sich selbst schreiben, sowohl in den Rêveries (S. 43) selbst als auch in der Sekundärliteratur (Parent, S. 520; Smith, S. 89). Das würde auch gut zu der hier aufgestellten Dominanz von Einsamkeit sprechen, denn so würde selbst der Leser ausgeschlossen werden. Dagegen sprechen jedoch die überall im Werk vorkommenden Selbstrechtfertigungen und Unschuldsbeteuerungen, was nahe legt, dass die Rêveries auch für einen verständnisvollen und mitleidigen Leser in einer undefinierten Zukunft gedacht waren (Smith, S. 89). Dieser Widerspruch schmälert jedoch nicht den philosophischen Wert der in den Rêveries ausgedrückten Gedanken und die Wichtigkeit der Verbindung von Einsamkeit und Erkenntnis, die dieser Begriff schon im Titel ankündigt. Auch entspricht das geistige Umherwandern in der Rêverie dem körperlichen Umherwandern des Spaziergängers selber, der viele Umwege nimmt und letztlich immer wieder zu seinem Ausgangsort zurückkehrt.

[...]


1 Orig.: „Pour moi je croirois au contraire que ce n’est qu’autant qu’on aime à vivre seul qu’on est vraiment sociable.“

2 Wobei hier erwähnt werden sollte, dass Rousseaus Ausschluss aus der Gesellschaft ja keine freiwillige freiwillige ist, sondern eine erzwungene, worunter er auch stark gelitten hat (Scarca, S. 866).

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Rousseaus "Rêveries". Einsamkeit vs. Gesellschaft in der deuxième promenade
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Autor
Jahr
2013
Seiten
19
Katalognummer
V353271
ISBN (eBook)
9783668393585
ISBN (Buch)
9783668393592
Dateigröße
1009 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
rousseaus, rêveries, einsamkeit, gesellschaft
Arbeit zitieren
Gregor Schönfelder (Autor:in), 2013, Rousseaus "Rêveries". Einsamkeit vs. Gesellschaft in der deuxième promenade, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/353271

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Rousseaus "Rêveries". Einsamkeit vs. Gesellschaft in der deuxième promenade



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden