Die Medien als dysfunktionale Intermediäre?

Eine qualitative Inhaltsanalyse zum Problem der Objektivität in der Kriegsberichterstattung


Bachelorarbeit, 2015

69 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Anhangsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Hinführung zum Thema und Forschungsgegenstand
1.2 Struktur der Arbeit
1.3 Literaturbericht

2. Objektivität als journalistisches Ethos
2.1 Die Bedeutung von Objektivität im Journalismus
2.2 Auslegungsvarianten und Begriffsdefinitionen für Objektivität
2.3 Katalog journalistischer Objektivitätskriterien

3. Das Objektivitätsdilemma im Kontext von Kriegsbericht- erstattung
3.1 Einschränkungen für objektive Kriegsberichterstattung
3.2 Objektivität: Zielmarke und professionelle Methode für Kriegsreporter

4. Der Typus Kriegsberichterstatter
4.1 Begriffserklärungen: Kriegsberichterstatter und Kriegsberichterstattung
4.2 Motive für den Beruf des Kriegsberichterstatters
4.3 Selbstverständnisse von Kriegsberichterstattern.

5. Objektivitätskriterien auf dem Prüfstand .
5.1 Die Methodik: Beschreibung des Untersuchungsdesigns
5.1.1 Das Untersuchungsinstrument: Qualitative Inhaltsanalyse
5.1.2 Das Untersuchungssample: Bildung der Stichprobe
5.1.3 Die Analyse: Herausforderungen beim Kodieren und Interpretieren der Daten
5.2 Die Untersuchungsergebnisse: Präsentation und Diskussion
5.2.1 Richtigkeit
5.2.2 Transparenz
5.2.3 Zusammenfassende Betrachtung

6. Resümee

Literaturverzeichnis

Anhang

„ Qualit ä t im Journalismus definieren zu wollen, gleicht dem Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln. “

Stephan Ruß-Mohl

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Anhangsverzeichnis

1 Magisches Vieleck der Medienqualität

2 Steckbriefe der Kriegsreporter und Kurzrezensionen der Werke

1. Einleitung

1.1 Hinführung zum Thema und Forschungsgegenstand

Stell Dir vor es ist Krieg - und keiner weiß davon. Das ist ein ziemlich unrealistisches Szenario, denn kaum ein Tag vergeht, ohne dass die Medien von einem der zahlreichen Kriegsschauplätze der Gegenwart berichten. Die Ukraine, Syrien, Nigeria, Libyen oder Irak sind nur einige Länder, die aufgrund ihrer Kriege jüngst im Fokus der Berichterstat- tung standen oder immer noch stehen. Dabei war Krieg noch nie so öffentlich wie heute - Nachrichten aus dem Kriegsgebiet verbreiten sich digital über das Internet schneller denn je, der Zugriff auf Informationen aus verschiedensten Quellen ist kinderleicht. Gleichzeitig ist die politisch interessierte Weltöffentlichkeit heute nicht mehr auf die Berichte profes- sionell ausgebildeter Journalisten angewiesen, da Privatleute und Soldaten als Blogger al- ternative Kriegsdarstellungen liefern.

Im Zuge dieser Entwicklungen muss zwangsläufig über die Qualität der Kriegsberichterstattung diskutiert werden. Denn aufgrund der technischen Neuerungen verändert sich diese kontinuierlich und das auch aus zwei weiteren Gründen: angesichts des Bedeutungszuwachses der Beschleunigung einerseits und ökonomischer Prinzipien und Kalküle der Medienunternehmen andererseits. Die dienende Rolle der Medien als intermediärer Akteur zwischen Gesellschaft und politischem System ist bei einem gleichzeitigen Qualitätsverlust ihrer Berichterstattung über Kriege nicht mehr per se gegeben. Stattdessen versperren sich die Massenmedien ohne einen qualitativ hochwertigen und anspruchsvollen Kriegsjournalismus ihrer ursprünglichen Funktion, die sie zu einer freien demokratischen Meinungsbildung beizutragen verpflichtet.

Als journalistisches Qualitätsmerkmal rückt Objektivität auch in der Debatte um Qualität in der Kriegsberichterstattung in den Vordergrund. Von Relevanz ist in diesem Zusammenhang für die Forschung bislang die Frage, inwieweit die Berichterstattung über Kriege objektiv und damit glaubwürdig sein kann. Eine einheitliche Antwort darauf ist schwer zu finden. Aus der Vielzahl unterschiedlicher Sichtweisen ist als einzige Tradition zu erkennen, dass die Frage nach objektiver Kriegsberichterstattung Kontroversen auf die Tagesordnung ruft. Diese Problematik ist Anlass für die Arbeit, einen Schritt zurückzuge- hen und nicht nach dem „inwieweit“ sondern nach dem „wie“ zu fragen: Im ersten Schritt wird deshalb erarbeitet, woran sich Objektivität in der Kriegsberichterstattung messen lässt. Ausgehend davon soll die zentrale Forschungsfrage beantwortet werden, wie Kriegsreportern die Umsetzung des journalistischen Objektivitätspostulats in der Arbeits- praxis überhaupt gelingen kann.

Da ein Streifzug durch den aktuellen Forschungsstand (Kap. 1.3) erstaunlicher- weise kaum wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zu den Rahmenbedingungen liefert, wie objektiver Kriegsjournalismus realisierbar ist, betritt die vorliegende Arbeit mit dieser Forschungsfrage weitgehend terra incognita. Forschungsziel ist es, mittels inhaltsanalyti- scher Untersuchung der Aussagen ausgewählter Kriegsreporter Erkenntnisse über die Um- setzung von Objektivität in der Praxis der Kriegsberichterstattung zu gewinnen. In diesem Sinne ist explizit nicht die Frage nach der Existenz von Objektivität Kern dieser Arbeit, sondern ihre Bedeutung und praktische Anwendung im Arbeitsalltag der Kriegsreporter vor Ort. Dem begrenzten Umfang der Arbeit geschuldet, beschränkt sich die Beantwortung der Forschungsfrage lediglich auf zwei Objektivitätskriterien, die aus der Literatur als besonders relevant herausgearbeitet werden: Richtigkeit und Transparenz.

Zur Beantwortung der Forschungsfrage ist es notwendig zu erfahren, in welchem Maß die im Katalog journalistischer Objektivitätskriterien präsentierten Charakteristika für richtige und transparente Berichterstattung in der Kriegsberichterstattung umgesetzt wer- den können. Um diese Frage zu beantworten, werden die untersuchten Aussagen der Kriegsreporter zum Umgang mit den Objektivitätsdimensionen Richtigkeit und Trans- parenz mit den in der Literatur vorgeschlagenen Umsetzungsmerkmalen inhaltsanalytisch verglichen. Von zentralem Interesse ist es, Abweichungen in der Umsetzung beider Krite- rien zu identifizieren, um in einem zweiten Schritt spezifische Merkmale bezogen auf die Kriegsberichterstattung streichen oder ergänzen zu können. Am Schluss dieser Arbeit soll damit eine Einschätzung der existierenden Ausprägungen von Richtigkeit und Transparenz bezüglich der Umsetzung von Objektivität in der Kriegsberichterstattung möglich sein.

1.2 Struktur der Arbeit

Im ersten Teil der Arbeit wird zentrales Hintergrundwissen über Objektivität als journalistisches Berufsethos vermittelt. Hierzu wird ausgehend von der Frage nach journalistischer Qualität zunächst die Relevanz von Objektivität hergeleitet. Im Anschluss werden verschiedene Auslegungen des Objektivitätsbegriffes vorgestellt, um die Grundlage für die in Kap. 3.2 folgende begriffliche Abgrenzung von Objektivität im Kontext von Kriegsberichterstattung zu schaffen. Das Kapitel schließt mit der Diskussion und Präsentation verschiedener Objektivitätskriterien - darunter Richtigkeit und Transparenz, die für den empirischen Teil der Arbeit herangezogen werden.

Der zweite Teil thematisiert Objektivität als Dilemma für die Kriegsberichterstat- tung. Hierbei wird im Speziellen ein Überblick über verschiedene Einschränkungen der publizistischen Arbeit im Kriegsgebiet gegeben, um auf ihre negativen Folgen für objektive Berichterstattung zu schließen. Angesichts dieser Problematik konkretisiert der darauf folgende Abschnitt das Verständnis und die begriffliche Auslegung von Objektivität im Kontext von Kriegsberichterstattung.

Der dritte Teil widmet sich thematisch dem Typus des Kriegsberichterstatters. Ein- leitend werden hierzu die zentralen Begriffe Kriegsberichterstatter und Kriegsberichterstat- tung behandelt. Im Fokus des Kapitels stehen darüber hinaus mögliche Berufsmotive und Rollenverständnisse der Berufsgruppe, wobei an dieser Stelle auf verschiedene Studien Bezug genommen wird.

Methodische Erläuterungen zum Untersuchungsdesign finden sich im vierten Teil. Sie beschreiben die Vorgehensweise bei der Auswahl des Untersuchungsinstruments und die Bildung der Stichprobe. Daneben wird auf spezifische Herausforderungen bei der Datenauswertung eingegangen, da diese für das Verständnis der Forschungsergebnisse von zentraler Bedeutung sind. Daran anschließend werden die Ergebnisse der Inhaltsanalyse vorgestellt und diskutiert, so dass Antworten auf die forschungsleitende Fragestellung in der zusammenfassenden Betrachtung (Kap. 5.2.3) generiert werden können.

Die Arbeit endet mit einem Resümee, das einen Ausblick auf mögliche weiterführende Untersuchungen gibt und Handlungsempfehlungen für die praktische Umsetzung von Objektivität in der Kriegsberichterstattung herleitet.

1.3 Literaturbericht

Das Thema Objektivit ä t in der Kriegsberichterstattung ist aufgrund seiner Komplexität und Mehrdimensionalität als Forschungsgegenstand in verschiedenen Disziplinen der Geistes - und Sozialwissenschaften zu verorten: der Kommunikationswissenschaft, ins- besondere deren Teildisziplinen Publizistik und Journalistik, sowie der Politikwissenschaft und Philosophie. Angesichts der Interdisziplinarität der Thematik und der allgemein konkurrierenden Auffassungen von Objektivität in den Fachgebieten ist es jedoch nicht verwunderlich, dass sich bislang kein einheitlicher Forschungsstand entwickelt hat.

Die verschiedenen Bedingungen der publizistischen Arbeit im Kriegsgebiet, die Objektivität laut Auffassung der Autoren erschweren oder sogar verhindern, stehen bislang einseitig im Fokus der Wissenschaft (vgl. z.B. Beham 2007; Dietrich 2007; Klein/Steinsick 2006; Kryszons 2003; McLaughlin 2002; Richter 1999; Tumber 2004). Systematisches Wissen über die Möglichkeiten der praktischen Umsetzung von Objektivität wird hingegen nicht vermittelt und stellt deswegen einen relevanten Forschungsgegenstand dar.

Um diese Blindstelle der Forschung zu beseitigen, werden im Theorieteil der Arbeit zunächst die gegenläufigen Ansichten zum Objektivitätsbegriff präsentiert. Hier stellen insbesondere die beiden Lehrwerke „Grundlagen des Journalismus“ von Neuberger/Kapern (2013) und von La Roches „Einführung in den praktischen Journalismus“ (1991) interes- sante Quellen dar - sie zählen zugleich zu den meistzitierten und einflussreichsten im Fachgebiet Journalistik. Befördert durch den angesprochenen Dissens zum Objektivitäts- begriff hat die Forschung während der letzten Jahrzehnte eine Fülle von Monographien, Beiträgen in Sammelbänden und Zeitschriftenaufsätzen hervorgebracht, in denen unter- schiedlichste Objektivitätskriterien für den Journalismus definiert und diskutiert werden. Die Arbeit beruft sich hier u.a. auf Hagen (1995), Gleich (2003), Bentele (1988), Schatz/ Schulz (1992), McQuail (1992) und Jandura (2007). Für die Thematisierung der ver- schiedenen Typen von Kriegsberichterstattern sind sowohl die Monographie „Reporter im Krieg. Was sie denken, was sie fühlen, wie sie arbeiten“ von Foggensteiner (1993) sowie die empirische Studie mit dem Titel „Kriegsreporter zwischen Mythos und Arbeitsrealität“ von Strübig (2013) aufschlussreich.

Als Hauptquelle der empirischen Untersuchung dienen Arbeiten, die aus der Feder von Kriegsreportern selbst stammen: Autobiografien, Kriegstagebücher und Briefauszüge (Emcke 2004; Kloss 2003; Kretz 2010; Mueller 2011; Reichelt 2009). Es wurde gezielt auf diese Werke zurückgegriffen und dies nicht primär angesichts des konstatierten Forschungsdefizits: Bei der wissenschaftlichen Betrachtung, wie objektive Kriegs- berichterstattung in der Praxis realisierbar ist, ist es unerlässlich, die Akteure in den Fokus der Forschung zu stellen.1 Daneben hat sich das von Löffelholz, Trippe und Hoffmann her- ausgegebene Handbuch „Kriegs- und Krisenberichterstattung“ (2008) als besonders hilf- reich erwiesen, da es die Voraussetzungen und Regeln für einen qualitativ hochwertigen, objektiven Kriegsjournalismus übersichtlich und ebenfalls praxistauglich anhand mehrerer Beiträge von Kriegsreportern darstellt.

2. Objektivität als journalistisches Ethos

Wie ist objektive Kriegsberichterstattung in der Praxis realisierbar? Um diese Frage in ihrer Komplexität zu beantworten, widmet sich das vorliegende Kapitel zunächst dem zen- tralen Begriff Objektivit ä t, den es zu definieren gilt und dessen Stellenwert für den Journa- lismus begründet werden soll. Nachfolgend werden verschiedene Auslegungen von Objek- tivität kontrovers diskutiert und davon ausgehend Kriterien für objektive Berichterstattung hergeleitet, die später im Kontext der Kriegsberichterstattung untersucht werden.

2.1 Die Bedeutung von Objektivität im Journalismus

In demokratischen Gesellschaften ist die Vermittlung von Politik und die Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit ohne die Massenmedien heute nicht nur undenkbar, den Medien wird mitunter sogar die Bedeutung einer vierten Staatsgewalt beigemessen. Vor dem Hintergrund ihrer zentralen politischen und sozialen Aufgaben werden die Medien wie auch Parteien, Verbände oder Gewerkschaften als zwischengeschaltete Organisationsstruktur der Lebenswelt der Bevölkerung auf der einen und der der politischen Akteure und Organe auf der anderen Seite begriffen (vgl. Boenisch 2007: 31-38).

Die Aufgabe der Massenmedien als Intermediär besteht darin, die Interessen des Volkes und die entscheidungsrelevanten Themen der politischen Akteure dem jeweils an- deren Adressaten zu vermitteln (vgl. Jarren/Donges 2011: 119-121). Sie fungieren damit als „Resonanzboden für extern an sie herangetragene Themen [und sollen diese] Themen und Meinungen der Akteuren [sic!] auswählen, gewichten, kommentieren“ (vgl. Jarren/ Meier 2002: 132). Auf diese Weise stoßen die Medien Interaktionsprozesse an und trans- formieren politische Inhalte und Entscheidungen. Die Medien laufen jedoch Gefahr, ihrer Rolle als vermittelnde Instanz zwischen der politisch interessierten Bevölkerung und den politischen Entscheidungsträgern in Zukunft nicht mehr gerecht zu werden, wenn sie sich zunehmend an ökonomischen Prinzipien orientieren. Ihre ursprüngliche Funktion droht damit in Dysfunktion umzuschlagen - eine Problematik, der sich die Forschung bereits gewidmet hat und die Boenisch (2007) zusammenträgt:

„Wenn nämlich eine möglichst umfassende, möglichst neutrale Information der Bürger über politische Vorgänge und Akteure nicht mehr gegeben ist (s. PÜRER 2003: 300), wenn nicht mehr wahrheitsgemäß, nicht mehr vielstimmig berichtet wird (vgl. LÖFFELHOLZ 1963: 7), wenn statt überwacht manipuliert wird, wenn statt kritisiert propagiert wird, wenn die Ziele von politischer Berichterstattung nicht mehr Information und Vermittlung, sondern Persuasion sind (s. PÜRER 2003:300).“ (vgl. Boenisch 2007: 39, Herv. im Orig.)

Um diesem Trend entgegenzuwirken und zu gewährleisten, dass die Medien auch künftig

angemessen zur freien und individuellen Meinungsbildung in der Gesellschaft beitragen, fordert der Deutsche Journalistenverband (2002: o.S.) in seiner Charta „Initiative Qualität im Journalismus“ (IQ) Journalisten2 zu einem verantwortungsvollen Umgang mit berufsethischen Aspekten und zur aktiven Teilnahme an der Qualitätssicherung auf.

In den aktuellen Debatten um die Zukunft des Qualitätsjournalismus drängt sich daher konsequenterweise eine andere Frage in den Vordergrund: Was zeichnet journalistische Qualität konkret aus? Objektivität wird in diesem Zusammenhang als ein zentrales Kriterium (vgl. Neuberger/Kapern 2013: 167; Gleich 2003: 139) neben beispielsweise Aktualität, Originalität, Transparenz und Reflexivität genannt, obwohl wie Ruß-Mohl (1992: 85), Gleich (2003: 139) und Schicha (2003: 7) feststellen, eine klare Eingrenzung der Qualitätsdimensionen aufgrund der Vielzahl beeinflussender Variablen nicht möglich sei (vgl. auch A1 Magisches Vieleck der Medienqualität)

Trotz einer fehlenden Trennschärfe beim Qualitätsbegriff geht eine enge Verzah- nung mit Objektivität aus der Literatur eindeutig hervor. Meyer (2010: o.S.) tituliert das Streben nach Objektivität gar als „oberstes Gebot“ und für Weischenberg (2005: 325) stellt Objektivität die wichtigste Berufsnorm von Journalisten dar. Gleichwohl schwer scheint es der Wissenschaft zu fallen, sich auf eine allgemein gültige Definition von Objektivität zu einigen. Dies ist nicht verwunderlich, wird Objektivität doch von ganz unterschiedlichen Perspektiven aus betrachtet: eine philosophische, auf der Erkenntnistheorie basierende An- näherung an den Begriff der Objektivität kommt zu anderen Schlüssen als ein kommunika- tionswissenschaftlich geleiteter Diskurs, der professionelle Arbeitsroutinen und Normen in den Fokus rückt. Die Begriffsfassung des letzteren lässt sich wiederum nicht automatisch von den Lehrbüchern in die berufliche Praxis übertragen, wo eine weitere Begriffsfassung der Objektivität vorherrscht (vgl. Neuberger/Kapern 2013: 158-162).

Im nächsten Kapitel werden deshalb zunächst verschiedene Auslegungsvarianten des Objektivitätsbegriffs betrachtet und dabei die mit der Ausweitung des Begriffs beklagte „Überstrapazierung“ (ebd.: 157) in der journalistischen Praxis skizziert. Diese Diskussion mündet in der vorliegenden Arbeit in einem Katalog zu überprüfender Objektivitätskrite- rien bzw. Kategorien. Am Beispiel der Kriegsberichterstattung werden die zwei Kriterien Richtigkeit und Transparenz in einem zweiten Schritt der kritischen Prüfung unterzogen. Daraus wird hergeleitet, wie ihre Erfüllbarkeit in der Praxis der Kriegsberichterstattung gewährleistet werden kann.

2.2 Auslegungsvarianten und Begriffsdefinitionen für Objektivität

„Objektiv sein heißt die Wirklichkeit richtig beschreiben“, behauptet Heinz Bäuerlein (1956: 2) und liefert damit eine Beschreibung, die unter dem Deckmantel wohlklingender Worte ein Dilemma in sich birgt. Denn dieses Zitat verweist darauf, dass im Zusammen- hang mit journalistischer Objektivität auch die Begriffe Wirklichkeit und Richtigkeit eine Rolle spielen. Von La Roche hinterfragt deshalb ausgehend von Bäuerleins These, was Wirklichkeit bedeutet und was richtig ist. Für ihn setzt das richtige Beschreiben der Wirk- lichkeit u.a. voraus, dass ein Journalist in seiner Recherche sorgfältig und gewissenhaft vorgeht, dass er faktentreu, vollständig und ausgewogen berichtet. Auf Meinungsäußerun- gen und Wertungen des Verfassers muss verzichtet werden und auch ausschmückende Ele- mente sollten gänzlich vermieden werden. Dies soll dazu beitragen, die Faktenlage möglichst unverzerrt wiederzugeben. (von La Roche 1991: 125-126).

Von La Roche leitet aus diesen Normen das Konzept der ä u ß eren Objektivit ä t ab, die als Grenzen dessen verstanden werden soll, was ein um Objektivität bemühter Journalist im Alltag tatsächlich zu leisten vermag. Die äußere Objektivität wird noch um eine weitere Komponente, die innere Objektivit ä t, ergänzt. Sie gilt als unerreichbar, da die Sichtweise auf einen Sachverhalt von der individuellen Weltanschauung des Wahrnehmenden, zum Beispiel der des Reporters, geprägt wird. So folgert von La Roche, dass es »die eine« Wirklichkeit nie geben kann. (vgl. ebd.: 126-130) Er verbindet diese Problematik zugleich mit einer Forderung:

„Dass diese innere, letzte, absolute Objektivität vom Menschen nicht zu verwirklichen ist, heißt aber nicht, sie als anzustrebendes Ziel aufzugeben. Objektivität als Utopie zu erkennen schafft keinen Freibrief für den Journalisten, nun unkontrolliert seine Subjektivität zu pflegen (…). Das Bem ü hen um eine niemals ganz erreichbare Objektivität bringt zumindest Annäherungen an die Realität, bringt jedenfalls ein Mehr an Objektivität.“ (von La Roche 1991: 129)

Dem Objektivitätsdilemma fügen Neuberger und Kapern (2013) eine weitere Dimension hinzu. Ihrem Ansatz folgend muss grundsätzlich zwischen zwei Bedeutungsvarianten differenziert werden:

Erstens, einem Normen umfassenden Objektivitätsverständnis im weiteren Sinne, wie es in der Medienpraxis verankert ist. Sie lehnen sich dabei vor allem an das Konzept der äußeren Objektivität nach von La Roche an, bei dem Objektivität als Zielmarke ver- standen wird, derer sich mittels Einhaltung der journalistischer Handwerksregeln genähert werden kann. Gleichzeitig wird beklagt, dass die Kriterien Vollständigkeit und Vielfalt die Objektivitätsnorm überstrapazieren und damit unerreichbar werden lassen. Vollständigkeit sei schon deshalb ein utopisches Ziel, weil die Vielzahl möglicher Perspektiven, mit der die reale Umwelt betrachtet und beschrieben werden kann, eine Selektion unumgänglich macht. Das Streben nach Vielfalt widerspräche dem journalistischen Grundsatz zur Beschränkung auf das Relevante. (vgl. Neuberger/Kapern 2013: 149-161) Dem widerspricht Hagen (1995: 51), der Vielfalt als Objektivitätskriterium zulässt, sofern sie als „Reflexion real vielfältiger Meinungen zu einem Thema, oder als Repräsentation verschieden ähnlich wahrscheinlicher Ereignisversionen“ begriffen wird.

Zweitens nennen Neuberger und Kapern (2013: 162-164) ein erkenntnistheoreti- sches Objektivitätsverständnis im engeren Sinne, wie es von den Vertretern des Realismus, Subjektivismus und Konstruktivismus geprägt wird. Dieses zielt vor allem auf die Frage nach dem Erkenntnisgewinn ab: Können richtige bzw. wahre Aussagen über die reale Umwelt überhaupt getroffen werden? Die Subjektivisten distanzieren sich von Objektivi- tät, weil sie „eine unrealistische und die tatsächlichen Einflüsse verschleierende Norm“ (Schönhagen 1998: 239) sei. In Anlehnung an den radikalen Konstruktivismus kann Objektivität nur dann existieren, wenn die Sinneswahrnehmung des Einzelnen zu einem verlässlichen Bild der Realität führte. Da jede Konstruktion der Wirklichkeit aller- dings auf Basis einer selektiven Beobachtung erfolgt, lehnt der radikale Konstruktivismus das Objektivitätspostulat gänzlich ab (vgl. ebd.: 163f.; Boventer 1993: 174; Hagen 1995: 63). Dieser Auffassung steht die vorliegende Arbeit kritisch gegenüber, da, wie im nächs- ten Kapitel deutlich wird, unter Kriegsbedingungen von der Koexistenz mehrerer Wirk- lichkeiten (vgl. Staiger 2004: 153f.) ausgegangen werden muss und somit verschiedene mögliche Wahrheiten in der Berichterstattung denkbar sind.

Nicht die Frage nach der „Wahrheitsfindung (…) sondern (…) die Anwendung be- stimmter professioneller und institutioneller Routinen, welche sich an Formalien, Organi- sationsstrukturen und Einstellungsmustern der Akteure [Anm. d. Verf.: Journalisten] orien- tieren“ (Weischenberg 2001: 22), soll daher zum Untersuchungsobjekt dieser Arbeit wer- den. Tuchman (1972: 662-679) spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „opera- tional view of objectivity“.

2.3 Katalog journalistischer Objektivitätskriterien

Die Auseinandersetzung mit dem Objektivitätsbegriff hat gezeigt, dass bereits existierende Kriterienkataloge in Anbetracht des mangelnden Konsenses grundsätzlich immer ergänzungsfähig sind. Doch wie Pointer (2010: 74) feststellt, ist „allen Definitionen (…) die Forderung nach deskriptiver Qualität gemein“. Das unterstreicht noch einmal die zentrale Bedeutung von Objektivität für die journalistische Qualität.

Die Selektion der Objektivitätskriterien in dieser Arbeit orientiert sich demnach an den zentralen Kriterien für Objektivität einerseits (vgl. Gleich 2003; Schatz/Schulz 1992; Ruß-Mohl 1992; Bentele 1988; Westerstahl 1983) sowie Qualität im Journalismus anderer- seits (vgl. Beck, Reineck und Schubert 2010). Hagen (1995: 50-52) verdichtet diese fast vollständig in fünf Punkten: Richtigkeit, Transparenz, Sachlichkeit, Ausgewogenheit und Vielfalt3. Bezeichnenderweise basieren seine Kriterien auf den öffentlichen Aufgaben der Massenmedien zur Information, Orientierung und freien Meinungsbildung (vgl. Bilke 2008: 96). Sie bilden demnach den Referenzrahmen dieser Arbeit, sollen aber noch um das bei Hagen fehlende Kriterium der Vermittlung von Hintergrundwissen ergänzt werden, welches aufgrund mehrfacher Nennung (vgl. Gleich 2003: 139; Mükke 2008: 10; Arnold 2009: 232-237) als zentral eingestuft wird. Um mit den Kriterien weiterzuarbeiten, bedarf es an dieser Stelle einer Konkretisierung, die sich verschiedener Definitionen bedient:

Richtigkeit

Die Forderung nach Richtigkeit in der Berichterstattung zielt darauf ab, Medieninhalte in- tersubjektiv und empirisch überprüfbar und damit für andere nachvollziehbar zu machen (vgl. Rager 1994: 199f.; Pöttker 2000: 382). Vor diesem Hintergrund definiert Hagen (1995: 105) das Kriterium Richtigkeit über die Kombination der zwei Eigenschaften Wahrheit und Genauigkeit. Aussagen in der Medienberichterstattung gelten demnach als richtig, wenn sie sowohl wahr als auch genau sind. Dabei sei jedoch zu berücksichtigen, dass die Wahrheit einer Aussage ausgehend vom Erkenntnismodell als nicht überprüfbar betrachtet wird. So bedeutet ihre „ Forderung (…) nicht mehr und nicht weniger, als da ß Journalisten ein Ph ä nomen so bezeichnen, wie es ein anderer Beobachter nach ihrer Kenntnis als zul ä ssig (nicht: als einzig zulässig) angesehen h ä tte. “ (ebd.: 107, Herv. im Orig.) Dies entspricht dem Verständnis einer subjektiven Wahrhaftigkeit, die dem Kriteri- um der Richtigkeit jedoch nicht widerspricht. Eine Aussage soll als wahr gelten, wenn sie mit einer anderen Aussage oder mit einer generellen Vorstellung vergleichbar ist und beide übereinstimmen. Um als genau bezeichnet zu werden, muss die Abweichung von der Aus- sagen möglichst gering sein. (vgl. ebd.: 105-109)

Um Aussagen auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen, eignet sich ein medienexter- ner oder medieninterner Vergleich: Medienextern kann eine Aussage auf Richtigkeit über- prüft werden, indem sie mit den Meinungen weiterer Quellen, zum Beispiel Experten, ver- glichen wird. Auch durch eigene Beobachtungen als Augenzeuge der berichteten Tatsachen bedarf. Ihre Umsetzbarkeit und Messbarkeit stellt Hagen (1995: 52) jedoch in Frage.

oder statistische Veröffentlichungen kann ein medienexterner Vergleich stattfinden. Medi- enintern kann Richtigkeit überprüft werden, indem die eigene Berichterstattung über ein Ereignis mit der Berichterstattung anderer Medien verglichen wird. (Jandura 2007: 47) Diesbezüglich kommt Hagen (1995: 110)4 zu der Einschätzung, dass die Wahrschein- lichkeit eines Irrtums umso geringer bewertet werden darf, je mehr Medien gleich über ein Ereignis berichten.

Mittels medienexternem und medieninternem Vergleich mit anderen Quellen kann jedoch nur die Richtigkeit von Aussagen geprüft werden, die Sachverhalte beschreiben. Werden jedoch Argumente übernommen, also meinungsorientierte Informationen, so müssten diese zusätzlich auf Plausibilität geprüft werden. Dies kann mittels Abgleich der Information mit Erfahrungswissen und Denkregeln des Berichterstatters erfolgen. (vgl. Haller 1993: 147) Daneben bedarf es bei der Beurteilung, ob eine Aussage richtig ist, zusätzlich einer Untersuchung auf Grammatik-, Rechtschreib- und Inhaltsfehler (vgl. Ha- gen 1995: 110f.).

Transparenz

Bei Transparenz im Journalismus unterscheidet Meier (2013: o.S.) zwischen einer redaktionsexternen Transparenz, der „Fremd-Transparenz“, und einer redaktionsinternen Transparenz, der „Selbst-Transparenz“ von Journalisten und Redaktionen.

Die redaktionsexterne Transparenz spiegelt sich in den Funktionen des deutschen Presserates wider und findet zB. mittels Medienjournalismus und Watchblogs statt. Sie meint die Selbstthematisierung der Medien in Bezug auf die Transparenz ihrer Berichter- stattung. Für die vorliegende Arbeit ist nur die redaktionsinterne Transparenz von Bedeu- tung, mit der ein Autor oder eine Redaktion Transparenz gegenüber dem Publikum her- stellt. Sie soll dem Rezipienten ein besseres Verständnis für die Produktionsbedingungen von Medieninhalten vermitteln und Qualitätsbewertungen durch das Publikum er- möglichen. Auf diese Weise will redaktionsinterne Transparenz das Vertrauen des Rezipi- enten in das journalistische Produkt und den Autor selbst stärken. (vgl. ebd.: o.S.)

Erneut muss hier jedoch zwischen zwei Dimensionen von Transparenz differenziert werden, der Produkt- und der Prozesstransparenz. Produkttransparenz bezieht sich auf den einzelnen Beitrag, während Prozesstransparenz die redaktionellen Entscheidungen betrifft. (vgl. ebd.: o.S.)

Soll Objektivität inhaltsanalytisch anhand des Kriteriums Transparenz untersucht werden, so ist Produkttransparenz das ausschlaggebende Kriterium5. Wie der Name verrät, hat sie zum Ziel, den Inhalt des journalistischen Produkts transparent zu vermitteln. Einer- seits muss dazu die Herkunft der Information offengelegt werden, indem personenbezo- gene Angaben, wie beispielsweise Name, Funktion, Beruf und Titel der Primärquelle veröffentlicht werden. Die Vorgabe Quellentransparenz soll die Verantwortlichkeit für eine veröffentlichte Aussage eindeutig nachvollziehbar machen. (vgl. Schönhagen 1998: 257f.) Dies ist vor allem dann notwendig, wenn der Journalist die Information nicht selbst bezeu- gen kann, allgemeine Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussage bestehen oder die Informa- tion subjektive Wertungen enthält (vgl. Sehl 2008: 40). Andererseits muss der Äußerungsanlass beschrieben werden, der allgemein als Vermittlungskontext verstanden wird. Er soll Rückschluss auf die Interessen der Informationsquelle geben. (vgl. Meier 2013: o.S.) Daneben ist im Zusammenhang mit Produkttransparenz auch Quellenkritik be- deutsam, die zur Beurteilung der Güte und damit Qualität einer Informationsquelle beitra- gen soll (vgl. ebd.: o.S; Wagner 1995: 200). Der vierte zentrale Aspekt von Produkttrans- parenz ist die Offenlegung der Bedingungen der Berichterstattung, um zu erklären, wie der Bericht entstanden ist (vgl. Meier 2013: o.S.).

Sachlichkeit

Sachlichkeit wird in der journalistischen Qualitätsforschung als zweite Dimension des übergeordneten Neutralitäts- bzw. Unparteilichkeitsbegriffes neben der Norm zur Trennung zwischen Nachricht und Kommentar genannt (vgl. Jandura 2007: 47). Sachlichkeit in der Berichterstattung bezieht sich auf die Vorstellung einer wertungsfreien und unparteiischen Formulierung auf sprachlicher Darstellungsebene einerseits und einer sachlichen Präsenta- tion auf optisch-artikulatorischer Realisierungsebene andererseits (vgl. Hagen 1995: 50f).

Sachliche Medieninhalte kennzeichnet eine Sprache, die unpersönlich, frei von Emotionen, vorurteilsfrei und unparteiisch ist (Schatz/Schulz 1992: 704; McQuail 1992: 233). Im Rahmen der Berichterstattung darf demnach keiner Meinung Vorzug gegeben werden, um Parteinahmen zu vermeiden. Bei Beiträgen, die Bild- und Videomaterial bein- halten, müsse zusätzlich zur Textebene auch die optische Bildebene untersucht werden, weil „Bilder (…) durchaus unsachlich, emotional, subjektiv sein [können] und als (un- zulässige) Wertungen in tatsachenbetonten Darstellungen eingesetzt werden“ (Schatz/ Schulz 1992: 704).

Diese Aussage über Sachlichkeit auf Bildebene nimmt indirekt Bezug auf die zweite Dimension des Neutralitätsbegriffes, der Trennung zwischen Nachricht und Kom- mentar. Sie fordert eine formale Abgrenzung von faktenorientierter und meinungsorien- tierter Darstellung, indem im Rahmen der Berichterstattung die beiden unterschiedlichen journalistischen Rollen voneinander unterschieden und für den Rezipienten gekennzeich- net werden. Die Abgrenzung zwischen Kommentar und Nachricht soll den Rezipienten dazu befähigen, möglichst unvoreingenommen ein eigenes Urteil zu bilden. (vgl. Schanne 1995: 113f.)

Hagen (1995: 117) leitet aus der Sachlichkeitsnorm weiter ab, dass sie Journalisten zu einer strikten Trennung dessen verpflichtet, was sie als ihre eigene Position wahrnehmen und was sie zu unmittelbar für das Ereignis relevanten Aspekten zählen. Dabei müssten sie sich daran orientieren, wie jedes andere Mitglied desselben Kulturkreises in ihren Augen zwischen beiden Polen trennen würde. Platz für Wertungen durch den Autor oder Aussagen zur eigenen Meinung und Weltanschauung räumt Hagen lediglich bei den meinungsorientierten Darstellungsformen Reportage und Kommentar ein. Sachlichkeit sei daneben empirisch messbar, indem der Gehalt an wertenden Aussagen in Nachrichten untersucht werde. (vgl. Hagen 1995: 116f.)

Ausgewogenheit

Um Ausgewogenheit als Norm in der Berichterstattung zu definieren, muss zwischen der Forderung nach quantitativer und nach qualitativer Ausgewogenheit von Medieninhalten differenziert werden (vgl. Jandura 2007: 44).

Bei Schatz und Schulz (1992: 704) findet sich ein Einstieg in die Begrifflichkeit der quantitativen Ausgewogenheit: „Ausgewogene Darbietung heißt (…), dass möglichst alle in der öffentlichen Diskussion des Themas vorgetragenen Argumente und Standpunkte berücksichtigt werden. Das impliziert auch, dass die jeweiligen Interessensgruppen und ihre Repräsentanten angemessen zu Wort kommen, dass ferner die Sicht der unmittelbar Betroffenen -insbesondere bei kritischer und investigativer Berichterstattung- berück- sichtigt wird.“ Diese Definition muss tiefergehend exploriert und ergänzt werden: Ausge- wogenheit steht zunächst im Zusammenhang mit der Beurteilung eines Ereignisses, einer Thematik oder eines Menschen, wobei die Auswahl der Fakten und der unterschiedlichen Positionen zum Bewertungsobjekt von zentraler Bedeutung ist (vgl. McQuail 1992: 202). Hagen (1995: 120) versteht im Einklang mit diesem Grundgedanken unter Ausgewogen- heit im quantitativen Sinne ein faires Verhältnis von verschiedenen Haltungen gegenüber dem Berichterstattungsgegenstand. Ähnlich wie bei Schulz und Schatz ist Ausgewogenheit auch hier vor allem für umstrittene Themen bedeutsam: Gegenläufige Positionen müssten in einem ausgeglichenen, gerechten Verhältnis im Bericht gegenüberstehen. (ebd.: 120) Als Umsetzungsmaßstab nennt er zum Beispiel „ die gleichm äß ige Ber ü cksichtigung von Be- f ü rwortern und Gegnern in einer Kontroverse ü ber politischen [sic!] Alternativen “ (ebd.: 120, Herv. im Orig.). Darüber hinaus schlägt die Forschung als Bewertungsmaßstäbe, in- wieweit Medien quantitativ ausgewogen berichten, politische Mehrheitsverhältnisse oder die Haltung der Bevölkerung vor. Dies ist problematisch, weil sie dem Pluralismusgebot widersprechen. (vgl. Jandura 2007: 44) Schanne (1995: 112) fordert deshalb weiter: „Wenn gesellschaftliche Verteilungen von Meinungen zu einem Problem dargestellt werden, dann sind relevante Meinungen, zum Beispiel der größten Gruppierung einer Mehrheit und der größten Gruppierung einer Minderheit, einander gegenüberzustellen.“ Ausgewogenheit kann sich dabei sowohl auf die Inhaltsebene einer einzelnen Nachricht beziehen, als auch auf die gesamtjournalistische Ebene eines Mediums oder der Programmsparten im Fernse- hen und Radio (vgl. Hagen 1995: 121; Jandura 2007: 45).

Als qualitativ ausgewogen wird Berichterstattung dann bezeichnet, wenn die Abweichung der Nachrichtenauswahl eines Mediums im Vergleich zu anderen Medien möglichst gering ist (vgl. Jandura 2007: 45).

Vielfalt

Die Norm der publizistischen Vielfalt wird in pluralistischen Gesellschaften aus dem Prinzip der freien und konkurrierenden Willensbildung abgeleitet (vgl. Wyss 2002: 124). Diese ist im Wesentlichen davon abhängig, inwieweit der Einzelne Zugang zu den vielfältigen Meinungen, Interessen und Informationen im demokratischen Diskurs hat (vgl. Maurer 2005: 93). So begründet McQuail (1992: 144) die Forderung nach einer vielfälti- gen Berichterstattung damit, die Realität sei in ihrer Vielfältigkeit wiederzugeben. Vielfalt sei laut Hagen (1995: 125) jedoch nur dann einzufordern, wenn die Realität zu komplex und unübersichtlich ist, um sie maßstabsgetreu widerzuspiegeln - anderenfalls sei das Kri- terium der Ausgewogenheit hinreichend.

Das Kriterium Vielfalt ist als mehrdimensionales Konstrukt zu bezeichnen, da es sich auf verschiedene Ebenen bezieht: das Mediensystem, die Medienorganisation, das Publikum und das journalistische Produkt. (vgl. Bonfadelli 2002: 120) Für die demokrati- sche Meinungsbildung steht Vielfalt auf Produktebene und dabei insbesondere der Inhalts- aspekt des journalistisches Produkts im Vordergrund (vgl. Daschmann 2009: 258).

Die vorliegende Definition beschränkt sich infolgedessen auf inhaltliche Ausprägungen von Vielfalt.6 Indikatoren für inhaltliche Vielfalt lassen sich dabei schwer verallgemeinern - die Forschung nennt unter anderem Meinungsvielfalt (vgl. Bonfadelli 2002: 120; Daschmann 2009: 158; Kepplinger 1995: 47), Themenvielfalt (vgl. Bonfadelli 2002: 120; Kepplinger 1995: 47; Schatz/Schulz 1992: 695) und Quellenvielfalt (vgl. Bonfadelli, 2002: 120; Hagen 1995: 126). Unter Meinungsvielfalt wird verstanden, dass die Berichter- stattung in meinungsbildenden Beitragsformen eine Vielzahl verschiedener gesellschaftlicher Perspektiven und Haltungen wiedergibt (vgl. Kepplinger 1995: 48). Themenvielfalt sei gegeben, wenn über möglichst viele verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und über eine möglichst große Zahl verschiedener Akteure berichtet wird (vgl. ebd.: 48). Themenvielfalt lässt sich dabei weiter in Themenkategorien, wie zum Beispiel Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, sowie Einzelereignisse unter- gliedern (vgl. Daschmann 2009: 258). Quellenvielfalt wird über die Anzahl der verwende- ten Quellen gemessen. Die Glaubhaftigkeit einer Angabe wächst demnach mit der Anzahl an Quellen, die sie bestätigen. (vgl. Hagen 1995: 125-127) Diese verschiedenen Ausprä- gungen inhaltlicher Vielfalt fasst Bonfadelli (2002: 120) wie folgt zusammen: Die Berichterstattung muss eine große Anzahl von Ereignissen und Themen und eine Vielzahl von Akteuren, Quellen und Meinungen berücksichtigen.

Vermittlung von Hintergrundinformation

Die Vermittlung von Hintergrundinformation als journalistische Objektivitätsnorm dient dazu, ein Ereignis oder einen Sachverhalt durch zusätzliche Erläuterungen zum betreffend- en Themenkomplex in einen Kontext einzubetten. Hintergrundberichte verfolgen damit das Ziel, Ereignisse und Sachverhalte für den Rezipienten verständlich und nachvollziehbar zu machen. (vgl. Westdeutscher Rundfunk 2013: 14-15) Sie kennzeichnet, dass der Reporter in ihnen Ereignisse nicht bloß neutral dokumentiert, sondern des Gesehene, Gehörte und Recherchierte in komplexe Zusammenhänge einordnet und Begleitumstände sowie Ab- hängigkeiten zu erklären und deuten versucht. Fundierte Hintergrundberichte sollen des- halb auf Basis einer Vielzahl von Quellen entstehen, die von eigenen Beobachtungen, über Interviews mit Beteiligten und Experten bis hin zur Auswertung von Daten und Sekundärquellen wie Statistiken, Chroniken oder Pressemitteilungen reichen können. (Deutsches Journalisten Kolleg o.J.)

Für die Vermittlung von Hintergrundinformation ist deshalb ein funktionierendes und umfassendes Kontaktnetzwerk mit vertrauenswürdigen Informanten wichtig. Darüber hinaus erfordern Hintergrundberichte ein kontinuierliches Beobachten von Ereignissen. Ihre Qualität ist damit von den Recherchemöglichkeiten eines Berichterstatters und von den zur Verfügung stehenden zeitlichen und finanziellen Ressourcen abhängig. (vgl. Mükke 2008: 10f.)

[...]


1 [Anm. d. Verf.] Die Auswahlkriterien bei der Bildung des Untersuchungskorpus werden in Kap. 5.1.2 im Konkreten erläutert. Spezielle Herausforderungen bei der Auswertung des Untersuchungskorpus thematisiert Kap. 5.1.3 und stellt zugleich die Besonderheiten einzelner Werke vor.

2 [Anm. d. Verf.] In dieser Arbeit wird aus Gründen der Lesbarkeit auf die Ausformulierung beider Geschlechtsformen verzichtet: Mit der maskulinen Form „Journalist“ ist damit an jeder Stelle auch die feminine Form der „Journalistin“ gemeint. Gleiches soll auch für den Begriff des „Kriegsberichterstatters“ gelten, der später eingeführt wird.

3 Die Forderung nach Objektivität fällt laut Hagen zu vage aus, so dass es einer Präzision mittels bestimmter Kriterien

4 Um die Richtigkeit einer Aussage durch den Vergleich mit Aussagen anderer Quellen zu überprüfen, nennt Hagen (1995: 109): 1. andere Medien, 2. andere Quellen bzw. Akteure der Berichterstattung, 3. Expertenmeinungen und 4. sys- tematische Aufzeichnungen, wie Statistiken und Archivare. Er unterscheidet nicht explizit zwischen einem medienin- ternem und medienexternem Vergleich - die genannten Quellen lassen sich aber in das Schema Janduras (2007) einteilen.

5 [Anm. d. Verf.] Der Begriff Prozesstransparenz findet in der Inhaltsanalyse (vgl. Kap. 5.2) keine Verwendung, da diese sich ausschließlich auf die Produktebene bezieht. Prozesstransparenz wird an dieser Stelle deshalb nur thematisch angerissen: Sie sei laut Meier (2013: o.S.) herzustellen, indem Berichterstattung Auswahlkriterien und Mechanismen der Nachrichten-Routine sowie Eigeninteressen von Redaktionen thematisiert.

6 Neben der inhaltlichen Vielfalt nennen Schatz und Schulz (1992: 693) sowie Fahr (2001: 17) auf Produktebene noch eine strukturelle Dimension von Vielfalt. Strukturelle Produktvielfalt bezieht sich auf Gestaltungselemente, wie Sparten, Ressorts und Rubriken, und auf die journalistischen Darstellungsformen der einzelnen Beiträge bzw. Artikel (Bonfadelli 2001: 120). Mit Funktionsvielfalt (Information, Bildung, Unterhaltung und Beratung) des journalistischen Produkts kommt bei Fahr (2001: 17) noch eine dritte Dimension auf Produktebene hinzu.

Ende der Leseprobe aus 69 Seiten

Details

Titel
Die Medien als dysfunktionale Intermediäre?
Untertitel
Eine qualitative Inhaltsanalyse zum Problem der Objektivität in der Kriegsberichterstattung
Hochschule
Universität Passau
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
69
Katalognummer
V353129
ISBN (eBook)
9783668413887
ISBN (Buch)
9783668413894
Dateigröße
651 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Medien Intermediäre Kriegsberichterstattung Objektivität
Arbeit zitieren
Miriam Ziebell (Autor:in), 2015, Die Medien als dysfunktionale Intermediäre?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/353129

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