Das indische Kastensystem zwischen Tradition und urbaner Moderne


Hausarbeit (Hauptseminar), 2014

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Traditioneller Kastenbegriff

3. Kasten im modernen urbanen Indien
3. 1. Historische Bedingungen für einen Bedeutungswandel von Kaste
3. 2. Dimensionen der Dynamik von Kaste

4. Die Transformationen in der Bedeutung von Kasten

5. Schlussbemerkungen

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Every Indian is born and dies in his caste, he cannot change this caste.“ (Sharma et al. 1994: 279) Seit geraumer Zeit setzen sich Wissenschaftler unterschiedlichster Richtungen mit der Kastenproblematik in Indien auseinander. Besonders für Ethnologen und Soziologen ist die Thematik von hohem Interesse, nicht zuletzt wegen des Aufstiegs Indiens als eine der führenden Wirtschaftsnationen immenser gesellschaftlicher Vielfalt, im 20. und 21. Jahrhundert. Schon den portugiesischen Kolonialherren wurde früh die Signifikanz der Kastenzugehörigkeit in der indischen Gesellschaft, und ihre Auswirkungen auf alle weiteren Aspekte des alltäglichen indischen Lebens, bewusst.

In der Vergangenheit wurden zahlreiche Versuche unternommen die fundamentalen Strukturen von Kasten zu identifizieren, wobei die Meinungen oft auseinander gingen, da seit der Unabhängigkeit Indiens 1949 weitreichende gesellschaftliche Transformationsprozesse ihren Lauf nahmen. Mit dem Beginn der Liberalisierung der indischen Wirtschaft ab 1991, nach dem Fall der Regierung Chandra Shekhar, und einer rasant einsetzenden Urbanisierung in der gesamten Republik, kristallisierten sich nunmehr diverse Unterschiede in Sozialleben und Kastenpraxis, urbaner und ländlicher Bevölkerung heraus.

Für ein besseres Verständnis der Problematik ist es mir wichtig, anfangs einige relevante Informationen zum Thema Kaste zu benennen. In den folgenden Kapiteln soll es mir gelingen einen Bogen zum modernen, urbanen Indien zu schlagen, um darauf folgend tiefer in die Thematik einzudringen. Kernstück meiner Hausarbeit wird die Analyse heutiger, urbaner Kastendynamiken, und ihre Transformationsprozesse in ökonomischer, kultureller, politischer, sozialer und religiöser Dimension sein. Einige Bemerkungen zur den wichtigsten, von mir herausgearbeiteten, Erkenntnissen schließen letztendlich meine Arbeit ab. Da die angesprochenen Themen im früheren und aktuellen Diskurs auf verschiedene Weise, von den unterschiedlichen Autoren, analysiert und interpretiert wurden, fällt es mir schwer allgemeingültige Aussagen zu treffen, weshalb ich im Bezug auf meine Argumentation auf die von mir verwendeten Autoren verweise. Im Raum der mir mannigfaltig zur Verfügung stehenden Literatur nehme ich im Folgenden besonderen Bezug auf die Autoren: Dumont, Béteille, Patil, Gould, Fuller und Samaddar.

2. Traditionelle Bedeutung der Kaste in Indien

Um tiefer gehend in die aktuelle Bedeutung und Konnotation von Kaste in der indischen Gesellschaft eingehen zu können, möchte ich vorerst einen Umriss des traditionellen Kastenbegriffs skizzieren. Linguistisch betrachtet stammt der Begriff Kaste vom portugiesischen Wort casto, was als rein, oder keuch, übersetzt werden kann. Casto sollte ein den portugiesischen Kolonialherren aus der eigenen Kultur unbekanntes Phänomen bezeichnen, bei dem sich gesellschaftliche Gruppen im damaligen Indien abgrenzten und hierarchisch anordneten. Besonders augenscheinlich traten diese sozial-strukturellen Prozesse bei Heirat und Arbeitsteilung zutage. Das Kastensystem unterscheidet grundlegend zwei Kategorien: jati und varna. Als varn a werden vier mythologisch begründete Hauptkasten bezeichnet: Brahmanen (Priester), Kshatriyas (Krieger), Vaishyas (Händler) und Shutras (Bedienstete), wobei die Brahmanen als intellektuelle Elite den obersten Platz der Hierarchie einnehmen, die Shutras dagegen an unterster Stelle eingeordnet werden. Im Schema nicht erwähnt sind die als „unrein“ angesehenen „Kastenlosen“, auch Dalits, Scheduled Castes oder „Unberührbare“, deren Stellenwert als am niedrigsten betrachtet wird. Die varna bilden die geistig-ideologische Ebene des Kastensystems und legitimieren die gesellschaftliche Hierarchie auf der Basis von Religion und Mythen. Varna kann als gesamt-indische Kategorie angesehen werden und ermöglicht eine gewisse Vergleichbarkeit des Status einzelner Kasten in Indien. Eine für alltägliche Interaktionen relevantere Zuordnung von Bevölkerungsgruppen stellen die jati dar. Sie sind die soziale und familiäre Dimension des Kastensystems und werden quantitativ auf 2000 bis 3000 Kasten geschätzt, wobei jati meist lokal und regional begrenzt sind. In der lokalen Praxis sind jati und varna lose verbunden. Die Mitglieder der verschiedenen jati ordnen sich demnach einer der vier varna zu. Auf der soziologischen Ebene, ausgehend von Célestin Bouglé, basiert das Kastensystem auf drei Säulen. Erste Säule ist die soziale Trennung der Gruppen, in Bezug auf Essen und Heirat (Endogamie). Zweite wichtige Grundlage des Kastensystems ist eine genuine Arbeitsteilung in der indischen Gesellschaft. Die dritte und letzte Säule ist die hierarchische Anordnung der Gesellschaftsmitglieder anhand von Kastenzugehörigkeit. Louis Dumont fügt dieser Dreiteilung den Gegensatz von rituell „reineren“ und „unreineren“ Kasten hinzu, der die Grundlage der Kasten- Hierarchie darstellen soll, und ein Grund für die Distinktion höherer Kasten in beispielsweise Heirat und Arbeit ist.

Speziell der Heirat, und der damit verbundenen praktizierten Endogamie, kommt bis heute höchste Bedeutung zu. Im Hinblick auf die zweite Säule ist die Essenz beruflicher Spezialisation in der traditionellen indischen Gesellschaft, ihre Ortung im Kontext von Verwandtschaftsgruppen und kleineren Gemeinschaften, in denen Beschäftigungen von einer Generation zur nächsten weitergegeben und durch die Religion hierarchisch angeordnet wurden.

Auf religiöser Ebene bemerkt Dumont eine Untrennbarkeit von Religion und Sozialstruktur, womit das Kastensystem gemeint ist, im Hinduismus (Dumont 1966: 76). Religion dient demnach nicht nur als Legitimation einer gesellschaftlichen Hierarchie, sondern ist darüber hinaus, in der religiösen Praxis, integraler Bestandteil der sozial-strukturellen Mechanismen im historischen und modernen Indien.

Ein weiterer Aspekt sozialer Differenzierung findet sich in der räumlichen Trennung der höheren Kasten von den niederen, sowie zwischen Kasten und Kastenlosen, in vielen Teilen Indiens. Demnach waren, und sind noch teilweise, Siedlungen der Dalit außerhalb der Dörfer zu finden, während sich die unterschiedlichen Kasten traditionellerweise innerhalb des Dorfes isolierten. Um dieses Kapitel zusammenfassend abzuschließen möchte ich auf Harold A. Gould's Definition von Kaste Bezug nehmen, wonach Kasten hierarchische Institutionen sind, deren eigentlicher Zweck die Zuweisung von Rang, Wert und Interaktionsmöglichkeiten für funktionell und rituell differenzierte, endogame Cluster von Menschen ist (übersetzt aus Gould 1963: 430).

3. Kasten im modernen urbanen Indien

Der indische Staat zählt laut Census 2011 über 1,2 Milliarden Einwohner. Dabei liegt der Anteil der kastenlosen Bevölkerung („Scheduled Castes“) bei 16,6%, was etwa 200 Millionen Menschen umfasst. Die Kastenproblematik, und ihr Einfluss auf die indische Gesellschaft, ist keineswegs im letzten Jahrhundert verschwunden. Dennoch können Transformationsprozesse im urbanen, als auch ruralen, Raum beobachtet werden. Spätestens seit der Unabhängigkeit Indiens 1949 und später folgenden Liberalisierung um 1991, wurden bis dato eingehende Definitionen des Kastenbegriffes zunehmend unzutreffender, wodurch sie einer Auseinandersetzung mit der Thematik im Kontext moderner indischer Dynamiken in Politik, Kultur, Sozialstruktur, Wirtschaft, etc. bedurften.

3. 1. Historische Bedingungen für einen Bedeutungswandel von Kaste

Als früheste Veränderungen, bzw. Verbesserungen, des Kastensystems werden die Bengalische Renaissance und die Bhakti-Bewegung gesehen.

Die hinduistische Bhakti-Bewegung nahm direkten Bezug auf das Kastensystem, indem die Anhänger unter anderem das Kastensystem ablehnten und die Vormachtstellung der Brahmanen dementierten. Wenngleich nennenswerte Erfolge nicht erzielt werden konnten, war es doch eine erste kritische Betrachtung des Kastensystems, ausgehend von den hohen, gebildeten Kasten. Während der Bengalischen Renaissance, Anfang des 19. Jahrhunderts, kam es zu einer Phase des kulturellen, sozialen, religiösen, und politischen Wandels, was den Übergang Bengalens zu einer modernen Gesellschaft markieren sollte. Wichtigste Inhalte dieser Epoche waren die Errichtung westlich orientierter Bildungseinrichtungen und Bildungsinhalte, eine auf Vernunft ausgerichtete neue Philosophie, vereinzelte soziale Rechte (z.B. Frauenrechte), sowie eine - für damals - moderne Wirtschaft, gekoppelt mit der ersten bengalischen Industrialisierung und Urbanisierung. Die Bewegung wurde jedoch fast ausschließlich von den obersten Schichten der bengalischen Gesellschaft getragen, weshalb es für die niederen Kasten und Kastenlosen keine spürbaren Verbesserungen gab.

Auch während der britischen Kolonialzeit war die Kastenproblematik ein stark diskutiertes, sowie von Besatzern und indischen Intellektuellen divers interpretiertes Thema. Auf der einen Seite existierte der Standpunkt der Kolonialherren, der Kasten als herausragende, unverzichtbare, alle Aspekte des Lebens durchdringende Institution Indiens beschrieb:

„however eloquently they might talk about democracy and development, Indians were and would remain und the grip of caste with its exclusiveness, its hierarchie and its ineluctable fragmentation of civil society“ (Béteille 1992: 155).

Auf der anderen Seite argumentierten indigene Intellektuelle, dass die Bedeutung der Kasten von der kolonialen Administration deutlich überschätzt wurde, bzw. zu überwinden war. Diese nationalistische Sichtweise sah das Kastensystem bereits auf dem Rückzug. Mit der folgenden nationalistischen Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts entstand in Indien eine Neuausrichtung des Kastenbegriffs, weitestgehend initiiert durch die Anstrengungen Phule's und Ambedkar's. Von jenen Verteidigern der Dalit wurden insbesondere der mangelnde Zugang zu Bildung und Berufschancen, aufgrund der Benachteiligungen im hierarchischen Kastensystem, öffentlich kritisiert.

Zur Zeit der Unabhängigkeit existierte in den gebildeten Schichten das Gefühl an einem Wendepunkt angelangt zu sein, dessen zahlreiche neue Möglichkeiten zum Vorteil der eigenen Nation genutzt werden mussten. Mit einer neuen Verfassung und dem ersten 5-Jahres-Plan entwickelte sich in weiten Teilen Indiens der Wille nach sozialer Gerechtigkeit, Gleichheit, Wachstum und Wohlstand. Dem gewünschten Fortschritt entgegengestellt sah man Armut, Unterversorgung, Analphabetismus, Ignoranz und Aberglaube. Das Kastensystem wurde dabei von vielen Unterstützern der Verfassung als eine Hürde angesehen, derer keiner Auffrischung bedarf ( Béteille 1992: 153ff).

Mit der Ausarbeitung der ersten indischen Verfassung durch Dr. B. R. Ambedkar, einem gebürtigen Dalit, entstanden unter anderem Reservationen für die untersten Kasten im Bildungssektor und in der Politik. „Unberührbarkeit“ wurde verfassungsrechtlich verboten.

Durch die Reservierungspolitik Ambedkar's als Teil der Verfassung, wurden Dalits, entsprechend ihres Bevölkerungsanteils, Parlamentssitze zugesichert, wodurch man die politische Partizipation der Kastenlosen förderte und bis heute sicherte. Die verfassungsbedingten Dynamiken im ökonomischen, sozialen, politischen und bildungspolitischen Sektor führten erstmals zu überregionalen Verbesserung der Rechte und Lebensbedingungen von S cheduled Castes (SC) und Scheduled Tribes (ST), speziell im urbanen Raum. Im Jahre 1991 erweiterte die Regierung Reservierungen für benachteiligte Kasten mit der Ergänzung von 3743 „rückständigen Klassen“ (other backward classes oder OBC), sodass SC, ST und OBC nunmehr über 50% der Stellen im öffentlichen Dienst erhalten sollten. Die bundesweite Umsetzung des Gesetzesentwurfes hält bis heute an. Gerade in Nordindien stoß diese Politik der positiven Diskriminierung auf vehemente Proteste der höheren Kasten.

Neben der Erweiterung der Reservierungspolitik begann 1991 die Liberalisierung der indischenWirtschaft unter P. V. Narasimha Rao. Mit der radikalen Liberalisierung Indiens verabschiedete sich die Regierung vom bisherigen Modell eines staatlich gelenkten Kapitalismus. Seit Anfang der 1990er Jahre stieg dadurch unter anderem die Wachstumsrate der indischen Bevölkerung vonehemals etwa 3% auf teilweise 11% an. Logische Konsequenzen des Bevölkerungs-Booms waren Landflucht und Urbanisierung.

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Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Das indische Kastensystem zwischen Tradition und urbaner Moderne
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Ethnologie)
Veranstaltung
BA Süd-Asien
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
18
Katalognummer
V352237
ISBN (eBook)
9783668385887
ISBN (Buch)
9783668385894
Dateigröße
550 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kastensystem, Kastendynamiken, Kaste, Tradition
Arbeit zitieren
Ludwig Bode (Autor:in), 2014, Das indische Kastensystem zwischen Tradition und urbaner Moderne, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/352237

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