Tagebücher in der qualitativen Sozialforschung


Hausarbeit, 2003

20 Seiten, Note: gut


Leseprobe


Gliederung

1. Tagebücher in der qualitativen Sozialforschung

2. Melchior- eine themenzentrierte und historisch vergleichende Längsschnittstudie
2.1 Der Aufbau der Studie
2.2 Tagebücher als Quelle qualitativer Sozialforschung
2.2.1 Sind Tagebücher taugliche Quellen für die quantitative Sozialforschung?
2.2.2 Sind Tagebücher gültige Quellen qualitativer Sozialforschung?
2.3 Theorien und Forschungsprozess – Wer wirkt auf wen?
2.4. Kritische Würdigung

3. Zinnecker: literarische und ästhetische Alltagspraxen Jugendlicher
3.1 Der Teilaspekt der literarische und ästhetische Alltagspraxen Jugendlicher und seine Einordnung in das Gesamt der Studie Jugendliche und Erwachsene ’85
3.1.1 Das Gesamt der Studie
3.1.2 Der Bericht zu den künstlerischen Alltagspraktiken
3.2. Tagebücher in der Jugendforschung – quantitative und qualitative Methoden
3.3. Von der Frage nach der Bewältigung des Alltags bis zur Typologie tagebuchschreibender Jugendlicher. Eine kritische Würdigung der Studie

4. Tagebücher und (qualitative) Sozialforschung – eine kurze Abschlussbemerkung

5. Literatur

6. Erklärung

1. Tagebücher in der qualitativen Sozialforschung

Als eine Form von Selbstthematisierung werden Tagebücher bezeichnet, Tagebuchschreiben sei eine Form der Selbstreflexion, eine Arbeit am Selbst.

Ratgeberliteratur preist das Tagebuchschreiben als Möglichkeit eigene Stärken zu entdecken, als Form der Lebensbewältigung.

Im Internet „bloggern“ immer mehr Menschen in ihr Online-Tagebuch – und immer mehr Menschen lesen mit.

Die Formtradition Tagebuch ist nicht tot, sie wird lebendig aufgenommen und gestaltet.

Kann diese Form des Selbstzeugnisses Quelle sozialwissenschaftlicher Forschung sein? Wie wird mit Tagebüchern in der (qualitativen) Sozialforschung umgegangen? Welche Forschungsthemen werden damit bearbeitet? Welchen Einschränkungen unterliegt Quelle Tagebuch?

Anhand zweier Studien soll in dieser Hausarbeit diesen Fragen nachgegangen werden.

2. Melchior- eine themenzentrierte und historisch vergleichende Längsschnittstudie

Anke M. Melchior legt in ihrer Dissertation „Liebesprobleme…waren schon immer ein Anlaß für mich, Tagebuch zu führen: Liebe, Ehe und Partnerschaft in Frauentagebüchern“ neben einer Studie zur Frauen-Sozialisation auch einen Beitrag zur Tagebuchforschung vor. Seine Wurzeln hat er in einem Forschungsprojekt, dass zwischen 1991 und 1996 die „Sozialisation in Frauentagebüchern. Diaristinnen im Generationenvergleich vom Kaiserreich bis zur Gegenwart“ thematisierte.

2.1 Der Aufbau der Studie

Ausgangspunkt der Darstellung ist das Erkenntnisinteresse – hier die Frage nach den Selbstentwürfen von Frauen in Bezug auf Liebe, Ehe und Partnerschaft – das in den Kontext theoretischer Forschungsschwerpunkte, hier in den Kontext der Sozialgeschichte und in den theoretischer Konzepte – hier die der (weiblichen) Individualisierung und der geschlechtsspezifischen Sozialisation - gestellt wird. Aus diesen theoretischen Kontexten entstehen Leitfragen, die Grundlage der Interpretation der Tagebücher werden.

Melchior greift auf Tagebücher zurück, die durch die Arbeit der oben genannten Projektgruppe Frauentagebücher beschafft wurden: Nach zeitgenössischen Tagebüchern wurde durch einen Aufruf in verschiedenen, auf das Ziel hin ausgewählten Zeitschriften recherchiert. Der Rückmeldung durch die Tagebuchautorinnen folgte der persönliche Kontakt, der mit einem Interview verbunden wurde. Daten dieser Tagebücher werden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert. Die Tagebücher aus der Kaiserzeit stammen aus archivierten Nachlässen.

Die Festlegung auf die Anzahl und die Qualität der zu interpretierenden Tagebücher erfolgt in der Studie von Melchior 1998 durch eng mit dem Forschungsinteresse zusammenhängenden Kriterien (vgl. S. 51f.).

Melchior stellt sehr detailliert die Stufen der Auswertung der Tagebücher vor, nicht zuletzt um, ein methodisches Vorbild hinsichtlich einer qualitativen Auswertung von Tagebüchern (vgl. S. 54) zu geben. Ich folge in meiner Darstellung eng Melchior 1998, S. 54-60.

Die Auswertung des Tagebuchs beginnt mit einer ersten Transkription, die Fehler, Eigenheiten und Formatierungen beibehält und in der zeitgenössische Datensätze anonymisiert werden.

Ihr folgt eine erste auswertungsbezogene Lesephase, deren Inhaltsanalyse zum Ziel hat Kategorien zu bilden, „mit denen sich die Inhalte der Tagebuchquellen charakterisieren lassen.“ (Melchior 1998, S. 55). So entsteht ein gegenstandsbezogener und zugleich theoriegeleiteter Themenkatalog, der sich im Lauf der Auswertung immer weiter differenziert (vgl. ebd.).

In einem erneuten Lesevorgang werden Textsequenzen einem oder mehreren Unterpunkten des Themenkatalogs zugeordnet. Die Textabschnitte werden mit Zahlen kodiert. Der zugehörige Codierplan erklärt die Regeln der Zuordnung.

In einem vierten Auswertungsschritt wird der „wissenschaftliche Quellentext“ erarbeitet. Dieser will das Tagebuchmaterial gliedern und ordnen, um so einen Vergleich zwischen verschiedenen Tagebüchern zu ermöglichen. In ihm werden paraphrasierte oder auch zitierte Tagebucheintragungen dem Themenkatalog zugeordnet. Er behält – im Interesse der themenzentrierten Längsschnittanalyse - die Chronologie der Tagebucheinträge bei. Der wissenschaftliche Quellentext ist die Materialbasis für die spätere Interpretation und enthält selbst noch keinerlei Interpretationen. Für jedes auszuwertende Tagebuch wird der Quellentext flexibel angefertigt, verbindlich sind für alle Tagebücher dieser Studie der Themenkatalog mit seinen Kategorien und der Codierplan. Die wiederholten Lesedurchgänge bei der Erstellung des wissenschaftlichen Quellentextes führen zu fortlaufenden Ergänzungen und Korrekturen des Quellentextes. Diese Auswertungsphase wird mit der Erstellung eines Portraits des Tagebuchs und seiner Autorin abgeschlossen. Portrait und wissenschaftlicher Quellentext bilden im Sprachgebrauch Melchiors die Monographie.

Anhand der Monographie wird der „Thematische Bericht“ verfasst, der schließlich die Arbeitsgrundlage für die Interpretation des Tagebuchs ist. In ihm werden die für die Fragestellung und das Forschungsinteresse relevanten Teile des wissenschaftlichen Quellentextes herausgearbeitet. Auch hier bleibt die Abfolge der Textstellen chronologisch. Der Thematische Bericht ist also „eine Reduktion des wissenschaftlichen Quellentextes auf den für die Interpretation wesentlichen Korpus“ (Melchior 1998, S. 57)

In der „ersten kommunikativen Validierung“ werden durch die Diskussion in der Projektgruppe der wissenschaftliche Quellentext und der thematische Bericht auf seine Gültigkeit hin überprüft.

Während dieser ersten sechs Auswertungsschritte werden die Ideen zur Interpretation und die entstehenden theoriegeleiteten Hypothesen in „Memos“ gesammelt und schrittweise weiterentwickelt.

Der interpretative Bereich der Auswertung vollzieht sich nach Melchiors Darstellung „Vom Besonderen zum Allgemeinen“ (S. 59): Einzelanalyse sowie intra- und intergenerativer Vergleich orientieren sich an projektunabhängig entworfenen Leitfragen, die dazu geeignet sind, das Forschungsinteresse zu befriedigen, hier also die „aktive Gestaltung exemplarischer Sozialisations- und Individualisierungsverläufe im Spannungsfeld von Sozial- und Individualgeschichte“ (Melchior 1998, S. 59) zu deuten.

In der Einzelanalyse wird auf der Basis des Thematischen Berichts sowohl längsschnittorientiert und themenbezogen als auch punktuell und intensiv interpretiert. Das Ziel ist sowohl „übergreifende als auch in die Tiefe gehende Aussagen zu gewinnen und sie miteinander in Bezug zu setzen.“ (Melchior 1998, S. 60). Durch einen abschließenden Lesedurchgang durch die gesamte Transkription wird die Interpretation, die mit möglichst vielen Textstellen belegt wird, überprüft und gesichert.

Im intragenerativen Vergleich werden die in den Tagebüchern der Frauen gleicher Generation (hier also die der Kaiserzeit und die der 1970er und 1980er Jahre) enthaltenen Selbstentwürfe im Fokus der möglichen Vielfalt und im intergenerativer Vergleich die knapp 100 Jahre auseinanderliegenden Selbstentwürfe im Fokus von historisch und gesellschaftlichen Wandel gegenübergestellt.

In einer zweiten kommunikativen Validierung werden die Interpretationsergebnisse zur Erweiterung des interpretativen Verständnisses und im Dienst der Validitätskontrolle wiederum in der Forschungsgruppe diskutiert.

2.2 Tagebücher als Quelle qualitativer Sozialforschung

Warum wählt Melchior Tagebücher als Datengrundlage? Welches sind die spezifischen Vorzüge dieser Form von Selbstzeugnis? Für Melchior besitzen Tagebücher „eine subjektive Authentizität“, weisen zugleich auf „zeittypische biographische Muster hin“ und formulieren auch „ambivalente Selbstaussagen chronologisch“ (Melchior 1998, S. 33). Tagebuch schreiben wird als Selbstentwurf einer Identität verstanden, die in Bewegung ist (vgl. Melchior 1998, S. 9). Für Melchior sind gerade die „chronologische Abfolge“ der Tagebucheintragungen und die Offenlegung von Entwicklungsprozessen durch die Tagebuchautoren qualifizierend für die Auswahl von Tagebüchern als Quelle für eine Längsschnittstudie (Melchior 1998, S. 33.). Gerade der Umstand, dass Tagebücher kaum objektiv überprüfbar sind und die Selbstdarstellung im Tagebuch ambivalent und auch verzerrend ist, macht sie für Melchior so attraktiv: „Subjektive Deutungsmuster im biographischen Verlaufsprozeß (Längsschnitt), die aktuelle und auf Zukunft gerichtete Gestaltung von Selbstentwürfen machen Tagebücher als wissenschaftliche Quelle bedeutsam“ (Melchior 1998, S. 10).

Ausgehend von dieser Quellenkritik, die Melchior selbst vorlegt, möchte ich einige Fragen erörtern, die entstehen, wenn Tagebücher als Quelle qualitativer Sozialforschung gebraucht werden. Ich lehne mich an die von Fuchs 1984 vorgestellten Merkmale der biografischen Kommunikation an.

2.2.1 Sind Tagebücher taugliche Quellen für die quantitative Sozialforschung?

a) Tagebücher besitzen eine lange Formgeschichte, die den Tagebuch-Autor in Inhalt und Form binden. Zugleich sind Tagebücher offen in der Form und individuell zu gestalten. Für die moderne Tagebuchform kann festgestellt werden, dass sie einer großen Intimität und damit auch einer großen Verschlossenheit und Verschwiegenheit unterliegt.

Im Tagebuch schreibt der Diarist freiwillig seine eigene Sicht von Leben auf, schreibt auch nur das, was er selbst sehen und wahr haben will – insoweit selektiert er die Realität – aber er schreibt auch nur seine individuelle Sicht des Geschehenen auf, das was er wahrhaft wahrnimmt und fürwahrnimmt und konstruiert so seine Lebensgeschichte – damit kann das Tagebuch als sehr authentisch gelten.

b) Das Tagebuch ist jedoch mehr als eine geplante Selbstdarstellung, die in Autobiographie und Interview einen großen Raum einnehmen kann, es ist vielmehr durch die große Authentizität eine chancenreiche Quelle für den Sozialforscher, der im Tagebuch auch Erlebnisse und Gedanken vorfindet, die vor der Öffentlichkeit sonst eher verborgen und verheimlicht werden (vgl. Melchior 1998, S. 32), sei es weil die Inhalte zu persönlich, vielleicht auch unangenehm sind, sei es weil die Darstellung nicht mit dem eigenen Selbstbild vereinbar scheint. So wird im Tagebuch das Gesamt der Lebensgeschichte offenkundig, es kann in den sonst verschwiegenen, „dunklen Seiten“ Sinn- und Biografiestrukturen entdeckt werden, die einen wichtigen Beitrag für die Biografieforschung liefern.

[...]

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Tagebücher in der qualitativen Sozialforschung
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
gut
Autor
Jahr
2003
Seiten
20
Katalognummer
V35196
ISBN (eBook)
9783638351904
ISBN (Buch)
9783640442225
Dateigröße
531 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Tagebücher, Sozialforschung
Arbeit zitieren
Heike Kellner-Rauch (Autor:in), 2003, Tagebücher in der qualitativen Sozialforschung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/35196

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