Entfremdung und Ausdruck in der Philosophie Jean-Jacques Rousseaus


Magisterarbeit, 2003

120 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Der Begriff der Entfremdung
II.1. ,Aliénation’ und ,être hors de soi’ bei Rousseau
II.2. Das Syntagma ‚aliéner’
II.3. Das Syntagma ‚être hors de soi’

III. Die Entfremdungsproblematik
III.1. Discours sur les Sciences et les Arts
III.2. Discours sur l’origine, et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes 25
III.2.1. Naturzustand
III.2.2. Naturmensch
III.2.3. Perfectibilité
III.2.4. Freiheit
III.2.5. Verlust der Unmittelbarkeit
III.2.6. Zusammenfassung
III.3. Essai sur l’origine des langues
III.3.1. Sprachursprung
III.3.2. Verlust der unmittelbaren Kommunikation
III.3.3. Zusammenfassung
III.4. Contract Social: Überwindung der Entfremdung
III.4.1. Entfaltung und Verwirklichung der menschlichen Natur
III.4.2. ‚Aliénation totale’: Das Höchstmaß an Freiheit
III.4.3. Zusammenfassung

IV. Ausdruck
IV.1. Les Rêveries du Promeneur Solitaire – Ein autobiographischer Text?
IV.2. Les Rêveries du Promeneur Solitaire: Eine Selbst- verständigung

V. Die Transparenz des Herzens in den Rêveries
V.1. Promenades: Komposition der Rêveries
V.2. Rêverie
V.3. Imagination
V.4. Natur
V.5. Solitude
V.6. Sprache: allegorischer Ausdruck des Selbst
V.7. Zusammenfassung

VI. Resümee

Literaturverzeichnis

Abkürzungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

I. Einleitung

Im Rahmen dieser Arbeit soll gezeigt werden, dass der Gegensatz zwischen dem, was dem Menschen ursprünglich und dem, was ihm fremd ist, übergreifendes Leitmotiv in Rousseaus Werk ist[1] und diese Entfremdung im Sinne von ‚Entäußerung’ erst die Möglichkeiten wahren Menschseins birgt. Rousseau weist, in seiner als spannungsvoller Einheit verstandenen Werke, Möglichkeiten, die gesellschaftliche Denaturierung zu überwinden, zeigt Wege zum authentischen Menschsein auf.

Die Entfremdungsproblematik soll im ersten Teil dieser Arbeit anhand der beiden Discours, des Essai[2] und relevanter Passagen des Contract Social reflektiert werden. Um Rousseaus spezifisches Entfremdungskonzept begrifflich zu fassen, ist dieser Reflexion einleitend eine sprachwissenschaftliche Untersuchung der Syntagmata ‚aliénation’ und ‚être hors de soi’ in Rousseaus Schriften vorangestellt. Die Vorstellung, dass der Mensch in Distanz zu sich selbst gerät, sich selbst fremd wird, lässt sich am treffendsten mit dem deutschen Begriff ‚Entfremdung’ beschreiben. Doch der Begriff ‚Entfremdung’ wird bei Rousseau, anders als bei deutschen Autoren, nicht mit einem einzigen Terminus ausgedrückt, sondern in einer komplizierten Konstellation verschiedener sprachlicher Wendungen, die über den französischen Terminus ‚aliénation’ hinausführen.[3] So bedarf es zum besseren Verständnis von Rousseaus Perspektive der inneren Zusammenhänge des Entfremdungsgeschehens zunächst einer Untersuchung des sprachlichen Rahmens, in dem sich Rousseau bewegt. Um die spezifische Gestalt, in der sich der Entfremdungsgedanke bei Rousseau artikuliert, zu erfassen, sollen die wichtigsten Begriffe unterschieden werden, die das semantische Feld von ‚Entfremdung‘ konstituieren und die in Rousseaus Schriften Verwendung finden.

Die erste und grundlegende Dimension des Rousseauschen Entfremdungsbe-griffs ist kultur- und gesellschaftskritischer Natur. Insbesondere in den beiden Discours formt Rousseau den Begriff des sich selbst entfremdeten Menschen als Kategorie einer existenzialen Anthropologie.[4] Rousseaus These von der gesellschaftlich bedingten Entfremdung des Menschen wird im Rahmen dieser Arbeit den einschlägigen Passagen beider Discours entnommen. Der erste Discours wird als eine Art Vorstufe zum zweiten und der zweite als eine Weiterführung des ersten verstanden. In der Rousseau-Forschung wird die gedankliche Einheit der beiden Abhandlungen zuweilen bezweifelt.[5] Doch die Kohärenz der beiden Schriften soll zum einen unter die für diese Arbeit wesentlichen Aspekte der Rousseauschen Entfremdungsproblematik anhand einer werkimmanenten Argumentation deutlich werden. Zum anderen ist bereits in Rousseaus Antwort auf die vom polnischen König Stanislas geübte Kritik am ersten Discours zu erkennen, dass Rousseau in der zweiten Schrift die Erkenntnisse der ersten vertiefen und besser fundieren will.[6]

Zu den methodischen Möglichkeiten, die ihm bei der Erforschung des Menschen zur Verfügung stehen, äußert sich Rousseau im Vorwort zum zweiten Discours.[7] Aber auch im Hauptteil der Schrift fällt er noch eher beiläufig eine Reihe von methodischen Entscheidungen, die oft in seinem spezifischen Rückgriff auf das Quellenmaterial impliziert sind.[8] Zur Charakteristik seines Naturmenschen zieht Rousseau nicht nur biologische Daten aus den ihm zugänglichen Quellen zusammen,[9] sondern reflektiert seine These des ‚natürlichen Menschen’ auch anhand der Positionen maßgeblicher Rechtstheoretiker und Philosophen. Neben dem Bezug auf Rechtstheoretiker aus Renaissance und Aufklärung wie Hugo Grotius und Samuel Pufendorf sowie auf die politischen Philosophien von Thomas Hobbes und John Locke zeigt Rousseaus Beschäftigung mit René Descartes und Montesquieu den Anspruch und die Tragweite seiner anthropologischen Theorie auf. Rousseaus Frage nach der ‚natürlichen‘ Lebensweise des Menschen beruht also auf einem Vorverständnis von ‚Entfremdung’, das aus der Tradition gewisse anthropologische und ethische Inhalte aufnimmt und weiter entwickelt. So sollen in der Untersuchung der beiden Discours Hinweise auf die oben angeführten Quellen nicht fehlen, da sich Rousseaus Theorie des ‚natürlichen Menschen’ beziehungsweise seines Entfremdungsprozesses in Reflexion und kritischer Distanz zu diesen Denkern entwickelt.

Im ersten Discours betrachtet Rousseau das Problem der Ungleichheit von der moralisch-politischen, aber vor allem auch von der kulturgeschichtlichen Seite. Es geht ihm um den Prozess der Privatisierung und der Entfremdung des Einzelbewusstseins von der Gemeinschaft.[10] Diese im ersten Discours entworfene Kulturkritik entwickelt Rousseau weiter, indem er in der zweiten Abhandlung dem gesellschaftlichen Menschen den natürlichen gegenüberstellt. Das Grundthema der Frühschriften Rousseaus, besonders des zweiten Discours, ist somit die Frage nach dem Verhältnis zwischen der wahren Natur des Menschen und seiner gegenwärtigen gesellschaftlichen sich selbst entfremdeten Erscheinungsform. Nach der wahren Natur des Menschen zu fragen, bedeutet für Rousseau nicht, nach dem ‚l’homme de la nature’ zu suchen, sondern die ‚nature de l’homme’, das wahre Wesen des Menschen, sein wahres Selbst aufzudecken.[11] Besonders im zweiten Discours, wo Rousseau zu klären versucht, wie es zu der sozialpsychologischen Identitätsspaltung gekommen ist, als welche die menschliche Selbstentfremdung begriffen werden kann, distanziert er sich von der Methodik der neuzeitlichen Naturrechtslehren und ihren Spekulationen über einen Naturzustand.[12] Rousseau begreift als erster die Menschennatur als historisches Problem und löst die ‚Natur‘ des Menschlichen zumindest teilweise im Prozess auf.[13] Auch im Essai kritisiert Rousseau die traditionelle Vorstellung von der ‚ursprünglichen Natur’ des Menschen, indem er sie in ein Prozessgeschehen auflöst. Der in den beiden Discours nachgezeichnete Entfremdungsprozess manifestiert sich für Rousseau ferner in der Sprache.[14] In seinem Essai zeichnet Rousseau den Weg von der Ursprache, die melodiös und poetisch den Gefühlen Ausdruck verleiht, bis hin zu der von der Vernunft geführten Sprache, welche die Ursprache entstellt, auf: „D’abord on ne parlera qu’en pöesie; on ne s’avisa de raisoner que longtems après.”[15] Die Ursprache ist, wie auch der hypothetisch angenommene Naturzustand, unwiederbringlich, doch soll ihre Kennzeichnung den „l’homme de la parole“ an sein ursprüngliches Vermögen „du pouvoir des signes“ erinnern.[16] Dieses „sich erinnern müssen“, wie es Starobinski formuliert,[17] ist für Rousseau von Bedeutung, denn es geht ihm nicht nur um die Analyse und Beschreibung der menschlichen Selbstentfremdung, sondern wesentlich auch um ihre Überwindung.

Rousseaus Werk hat somit zwei voneinander abhängige Aspekte. Es beschreibt und analysiert zum einen die Entfremdungssituation des vergesellschafteten Menschen, zum anderen soll diese Situation überwunden werden. Dazu bedarf es einer neu gestalteten politischen Ordnung. Den ersten Ansatzpunkt für eine konstruktive staatsrechtliche Betrachtungsweise der gesellschaftlichen Problematik bietet bereits der zweite Discours, obwohl dort noch die Gesellschaftskritik im Vordergrund steht.[18] Doch die Möglichkeit einer authentischen politischen Existenz wird erst im Contract Social vorgestellt. Der Gesellschaftsvertrag sucht die Freiheit und Unabhängigkeit der einzelnen Gesellschaftsmitglieder zu wahren und so die Entfaltung und Verwirklichung der menschlichen Natur zu ermöglichen.[19]

Im zweiten Teil der Arbeit soll zunächst in einer Hinführung untersucht werden, ob es sich bei dem Text die Rêveries um eine Autobiographie bzw. um einen autobiographischen Text handelt. In der zahlreichen Rousseau-Literatur, in Literatur-Lexika wie auch in der ersten vollständigen Ausgabe Rousseaus Werke, der Edition de la Pléiade, werden die Rêveries als Autobiographie bezeichnet.[20] Diese Definition, die zu erfüllende Kriterien mit sich führt, soll hier nicht ungeprüft übernommen werden.

Dieser theoretischen Annäherung an die Autobiographie als Kunstwerk folgt eine textimmanente Untersuchung der Rêveries.[21] Neben einer positiven Ge-stalt der ‚aliénation’, deren Begriff im ersten Teil dieser Arbeit entwickelt wird, soll gezeigt werden, wie in der durch die ‚imagination’ geprägten ‚rêverie’ das ‚sentiment de l’existence’ zum Ausdruck gelangen kann. Das ‚Sich-Einbilden’ – und eng damit verwandt das Träumen – sind Schlüsselbegriffe in Rousseaus Werk, besonders in seinen so genannten ‚autobiographischen’ Schriften.[22] Die Einbildungskraft kann dazu dienen, Modelle für eine wahre Existenz zu finden. Der Traum bietet die Möglichkeit, sein Selbst innerhalb der depravierten Umwelt zu verwirklichen, er stellt eine Entäußerung des ‚Ich’ dar sowie eine Loslösung von der vordergründigen Wirklichkeit seiner Existenz, um schließlich etwas wie das ‚wahre Selbst‘ oder die eigentliche Wahrheit der Existenz zu erreichen, in der das ursprüngliche ‚sentiment de l’existence’, das sich selbst genügt, wiederhergestellt ist.[23] Erkenntnistheoretisch nimmt Rousseau in den Rêveries die Herausforderung „eine[r] Transformation von dem Satz ‚Ich denke’ in den Satz ‚Etwas stellt sich dar’“ an.[24] Bewusstseinszustände ohne Selbstbezug sucht Rousseau in den Rêveries mit Hilfe der Literatur und als Spaziergänger in der eigenen Gefühlswelt auszudrücken.

II. Der Begriff der Entfremdung

II.1. ,Aliénation’ und ,être hors de soi’ bei Rousseau

Da hier nach dem Entfremdungsbegriff eines französischsprachigen Autors gefragt wird, kann nicht einfach vorausgesetzt werden, dass im Französischen ein einfaches Synonym zu dem deutschen Wort ‚Entfremdung’ existiert, bzw. dass sich aufgrund der historischen Distanz im Werk Rousseaus überhaupt ein dem deutschen Begriff ‚Entfremdung’ entsprechendes Wort findet.[25] So soll die Entfremdungsproblematik Rousseaus über eine sprachwissenschaftliche Betrachtung des Terminus ‚Entfremdung’ eingeleitet werden. Es soll zum einen analysiert werden, welcher Begriffe sich Rousseau bedient, um Entfremdungszustände zu bezeichnen und inwiefern diese Begrifflichkeiten der Bedeutung von ‚Entfremdung’ in der deutschen Sprache entsprechen. Zum anderen soll auf der Grundlage des sprachlichen Befundes der vielschichtige und durchaus ambivalente Entfremdungsbegriff bei Rousseau deutlich werden.

II.2. Das Syntagma ‚ aliéner’

Das dem deutschen Ausdruck ‚fremd’ am nächsten kommende französische Lexem ist ‚étrange(r)’.[26] Dieses Lexem dient in Form des Adjektivs ‚étrange(e)’ dazu, etwas oder jemanden als ‚fremd’ zu charakterisieren, beziehungsweise mit dem Substantiv ‚étranger(ère)’ als ‚Fremde(r)’ zu bezeichnen. Weitere Ableitungen des Lexems ‚étrange(r)’ wie das Adverb ‚étrangement’ oder das weniger geläufige Substantiv ‚étrangeté’ markieren ebenfalls eine Unterscheidung zwischen dem Gewöhnlichen und dem ‚Fremden’,[27] doch akzentuieren sie nicht das Phänomen des ‚Fremd-Werdens’, das Rousseau ebenfalls begrifflich zu erfassen sucht. Für ihn scheint ein anderer Ausdruck dieses Phänomen, wie Jean-Louis Lecercle bemerkt, besser einzufangen: „L’œuvre de Rousseau est sans doute la première à d’écrire et analyser [...] le phénomène auquel a été donné le nom d’aliénation.”[28]

Eine erste Annäherung an das Vokabular, mit dem Rousseau das Phänomen der Entfremdung auszudrücken versucht, führt somit zu dem Lexem ‚alien’ und den daraus gebildeten Ableitungen ‚aliénation’ beziehungsweise ‚aliéner’.[29] Rousseaus charakteristische Verwendung von ‚aliéner’ beziehungsweise ‚aliénation’ soll hier kurz mit einigen Verweisen belegt werden.

Rousseau wendet sich bereits zu Beginn des Contract Social einer von Grotius vorgeschlagenen Definition von ‚aliénation’ zu und erläutert: „[a]liéner c’est donner ou vendre.”[30] In dem spezifischen Verwendungskontext soll die Formel zum Ausdruck bringen, dass jede Übertragung von Rechten entweder geschenkhaft oder im Blick auf eine Gegenleistung erfolgt. Der Veräußerungsvorgang, der hier mit dem Ausdruck ‚aliéner‘ angesprochen wird, kann aber nach Rousseau nicht im Hinblick auf die individuellen Freiheitsrechte vollzogen werden, die eben keinen möglichen Gegenstand von Verkauf oder Schenkung bilden. Mit Blick auf die Fragen nach der Natur des Staates, nach der Vereinbarkeit von staatlicher Souveränität und individueller Freiheit, erhält Rousseaus Begriff der ‚aliénation’ eine besondere Ausprägung, da er bei dem Wort ‚aliéner’ nicht nur an das Überlassen materieller Güter denkt. So muss man die verschiedenen Bedeutungsdimensionen von ,aliénation’ unterscheiden. Zum einem muss zwischen der Selbstveräußerung die zur Knechtschaft, und jener, die zum sittlich legitimen, Freiheit konstituierenden Staat führt, unterschieden werden. Am rechten Verständnis und an der rechten Gestaltung der ‚aliénation’ hängen für Rousseau Legitimität und Sittlichkeit der sozialen Existenz ab.[31] Bei der Konstituierung des Staates gibt der Mensch laut Rousseau etwas ihm Ureigenes her, d. h. er ‚entfremdet’ einen Teil seines Selbst an einen neuen Souverän, um es in verwandelter Form zurück zu erhalten: „Ce que l’homme perd par le contract social, c’est sa liberté naturelle et un droit illimité à tout ce qui le tente et qu’il peut atteindre”.[32]

Hier eröffnet sich eine anthropologische Dimension der Entfremdung im Sinne von ‚Entäußerung’, da die ‚aliénation’, zu der sich die Partner des Gesellschaftsvertrages entschließen, nicht nur ein juristischer Vorgang ist. Rousseau sieht in dieser ‚Entäußerung’ eine Möglichkeit, dem Menschen eine neue, auf die Gemeinschaft bezogene Existenz zu geben und so die verhängnisvolle Entfremdung der bisherigen Kulturentwicklung zu überwinden:[33]

[E]t qu’au lieu d’une aliénation, ils n’ont fait qu’un échange avantageux d’une maniere d’être incertaine et précaire contre une autre meilleure et plus sûre, de l’indépendance naturelle contre la liberté, du pouvoir de nuire à autrui contre leur propre sureté, et de leur force que d’autres pouvoient surmonter contre un droit que l’union sociale rend invincible.[34]

Neben der naturrechtlichen Bedeutung tritt die medizinische Bedeutung von ‚aliénation’ in Rousseaus Schriften zurück. Einige Stellen lassen sich jedoch finden, wo der Terminus, meist in der Partizipialform ‚aliéné(é)’ gebraucht, ein Verlieren des Bewusstseins bezeichnet. So etwa, wenn die Briefpartner in dem Liebesroman Julie, ou la Nouvelle Héloïse darüber diskutieren, ob ein von körperlicher Qualen fast bewusst- und willenloser Mensch, „aliénées par la douleur“,[35] autorisiert sei, sich das Leben zu nehmen. Doch trotz der eben zitierten Passage, werden in den Werken Rousseaus körperliche Ursachen für die ‚aliénation’ selten ausdrücklich genannt. Bei Rousseau dominiert vielmehr die Verwendung in psychologischen Zusammenhängen. Wenn er von einer Entfremdung des Bewusstseins, der ‚Seele‘ oder des ‚Herzens‘ gegenüber sich selbst oder gegenüber anderen spricht, so deutet dies in der Regel nicht auf einen körperlichen, sondern auf einen psychischen Hintergrund. Der in diesem Sinne von Rousseau verwendete Terminus ‚aliénation’ ist von besonderer Bedeutung für das Verständnis seines Selbstentfremdungsbegriffes. Die Wirkung dessen, was Rousseau als ‚aliéner’ bezeichnet, kann weit tiefer reichen als die Folgen einer gegenseitigen Verstimmung. Es kann dabei um den radikalen Verlust des Eigenen, Vertrauten, Natürlichen gehen, um das ‚Hineingestellt-Werden’ in eine andere Existenz. Eine solche prägende Erfahrung, das Zerwürfnis mit Madame de Warens,[36] beschreibt Rousseau ausführlich in seinen Confessions, eine Erfahrung, die sich auch im Emile literarisch reflektiert, wenn dessen Herz sich während der Trennung von seiner Verlobten abzuwenden droht.[37]

Die verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks ‚aliénation’ bei Rousseau zeigen, dass er diesen Terminus nicht ausschließlich im negativen Sinne verwendet. Wie eine ‚aliénation’ zu bewerten ist, hängt davon ab, unter welchen Bedingungen und von wem sich der Mensch entfremdet, beziehungsweise, an wen er sich ver- oder entäußert. So ist der Begriff ‚aliéner’ bei Rousseau zum einen durch seine Ambiguität gekennzeichnet und andererseits durch eine eigentümliche Verknüpfung juristischer und personaler Aspekte, wie der bereits zitierte Satz im Contract Social verdeutlicht.[38] Das Postulat der ‚aliénation’ im Contract Social hebt in einem besonderen Maße hervor, dass Rousseau um eine neue Akzentuierung des von den Naturrechtslehren übernommenen Terminus ‚aliénation’ ringt.

II.3. Das Syntagma ‚être hors de soi’

Neben dem Terminus ‚aliéner’, der gemäß dem allgemeinen Sprachgebrauch zur Kennzeichnung von Entfremdungsphänomenen dient und von Rousseau in besonderer Weise akzentuiert wird, um seiner spezifischen Entfremdungsvorstellung Ausdruck zu verleihen, finden sich bei Rousseau weitere Syntagmata, die das gleiche semantische Feld mit konstituieren. Diese betonen nicht nur den schon erreichten Status des sich selbst fremdgewordenen Menschen, sondern bringen auch den Prozess des Hinausgehens zum Ausdruck. Am prägnantesten geschieht dies in der Monemverbindung ‚être hors de soi’,[39] die in dieser oder ähnlicher Form schon vor Rousseau gebräuchlich ist,[40] aber erst von ihm in einen anthropologischen Kontext eingebracht wird. Es muss also näher untersucht werden, inwieweit die Syntagmata ‚aliéner’ und ‚être hors de soi’ der Intension des Entfremdungsbegriffs entsprechen.[41] Gliedert man die im Werk Rousseaus auftretenden Syntagmata dieser Art nach semantischen Kriterien, so wird deutlich, dass sie verschiedene Zustände zum Ausdruck bringen. Eine erste Gruppe von Wortkombinationen bezeichnet einen negativen Zustand, ein ‚Sich-Selbst-Fremd-Sein’. Diese klarste und prägnanteste Formulierung des ‚être hors de soi’ findet sich im zweiten Discours:

[L]e Sauvage vit en lui-même; l’homme sociable toûjours hors de lui ne sait vivre que dans l’opinion des autres, et c’est, pour ainsi dire, de leur seul jugement qu’il tire le sentiment de sa propre éxistence.[42]

Eine zweite Wortgruppe von entsprechenden Syntagmata drückt hingegen statt eines Zustandes einen Vorgang, ein ‚Sich-Selbst-Fremd-Werden’ aus, der vor allem in Rousseaus autobiographischen Werken deutlich wird. So ist in Les Confessions und in Rousseau juge de Jean-Jacques die Rede vom „se transformer en des hommes tout différens”[43] und „se transporter hors de soi”.[44] Andererseits kann das Syntagma ‚être hors de soi’ auch positiv, im Zusammenhang von Traum und Verwandlung, gebraucht werden.[45] In der ersten Promenade der Rêveries wird deutlich, dass der Traum Selbstverwirklichung

ermöglicht, die innerhalb der depravierten Umwelt nicht möglich ist:[46]

Si je reconnois autour de moi quelque chose ce ne sont que des objets affligeans et déchirans pour mon cœur […]. Ecartons donc de mon esprit tous les pénibles objets dont je m’occuperois aussi douloureusement qu’inutilement. Seul pour le reste de ma vie, puisque je ne trouve qu’en moi la consolation, l’espérance et la paix je ne dois ni ne veux plus m’occuper que de moi.[47]

Diese zu dem Terminus ‚aliénation’ analogen Syntagmata in Rousseaus Werken unterscheiden sich von dem herkömmlichen Entfremdungsbegriff, indem sie dem geläufigen Ausdruck ‚aliénation’ einen ungewohnten praktischen Sinn geben. ‚Etre hors de soi’, positiv wie negativ interpretiert, bezeichnet einen Gegensatz zur vorhandenen Wirklichkeit. So ist als Synonym zum deutschen Begriff ‚Entfremdung’ im Werk Rousseaus nicht nur der allgemein vertraute Terminus ‚aliénation’ anzusehen, da die Ambiguität des Begriffs bei Rousseau in ihrer negativen wie positiven Komponente zu finden ist. Im zweiten Discours wird die negative Wertung besonders deutlich, ‚Entfremdung‘ wird als ein anthropologischer Begriff verwendet, der ein destruktives Geschehen bzw. einen Zustand der Destruktion bezeichnet. In diesem Sinne verweist der Gegensatz zwischen dem, was dem Menschsein ursprünglich ist, und dem, was ihm fremd ist, auf die Gefahr, dass der Mensch sich in einem kulturgeschichtlichen Entfremdungsprozess selbst verliert. ‚Entfremdung’ kann also einerseits die Perversion des menschlichen Wesens, die Verfälschung der wahren Natur des Menschen bedeuten. Andererseits fassen Rousseaus Begrifflichkeiten aber auch die ethisch positive Gestalt der ‚aliénation’, die vor allem im Contract Social und in der durch die ‚imagination’ geprägten ‚rêverie’ ausgedrückt wird. Im Contract Social bedeutet Entfremdung offensichtlich ein konstruktives Element, da aus der anthropologischen Notwendigkeit der ‚aliénation’ ihr sittlicher Verpflichtungscharakter folgt.[48] Während bisher das Herausgehen des Menschen aus sich selbst zumeist in einem negativen Sinn als Selbstentfremdung zu verstehen ist, zeigt sich demnach bei einer näheren Betrachtung, dass diesem Vorgang in einem bestimmten Kontext auch eine positive Funktion zukommen kann. Die ethisch positive Gestalt der ,aliénation’, so resümiert Starobinski, „ne s’accentue et ne devient mémorable que dans son contraste avec un donné oppressif dont elle travaille à se délivrer.”[49] Der Vorgang, dass der Mensch in Distanz zu sich selbst gerät, ermöglicht dann erst wahres Menschsein.[50]

Somit setzt sich der Entfremdungsbegriff in Rousseaus Werken erst aus den verschiedenen Aspekten der genannten Syntagmata zusammen. Für seine Unterscheidung der Entfremdungsphänomene, Entfremdung als Zustand oder als Vorgang, ist der anthropologische, kulturgeschichtliche und ethische Zusammenhang, in dem die jeweilige Entfremdung steht, entscheidend. So soll im Folgenden, um auch in der deutschen Terminologie diesen Sachverhalt auszudrücken, ‚Entfremdung’ den destruktiven Aspekt und ‚Entäußerung’[51] dagegen seinen konstruktiven Gegenpart bezeichnen.

III. Die Entfremdungsproblematik

Die ersten Anlässe, über die Entfremdungsproblematik zu reflektieren, bilden zwei Preisfragen der Akademie von Dijon, deren Beantwortung sich Rousseau in den beiden Discours zur Aufgabe macht. In diesen Abhandlungen untersucht er die Fragen von Wirklichkeit und Schein, von Identität und Selbstverlust, die in dem Problem der ‚Selbst-Entfremdung’ des Menschen als Gattung und als Individuum konvergieren.

III.1. Discours sur les Sciences et les Arts

Im ersten Discours untersucht Rousseau die von der Akademie von Dijon im Oktober 1749 öffentlich gestellte Frage: „Si le rétablissement des Sciences et des Arts a contribué à épurer les mœurs ?“[52] Er liest die Preisfrage auf dem Weg nach Vincennes, wo er den dort inhaftierten Denis Diderot besuchen möchte. Später wird er die Umstände dieser Lektüre als eine Art von Er-weckungserlebnis schildern. Was ihn in diesem Augenblick bewegt, beschreibt er mit den Worten: „A l’instant de cette lecture je vis un autre univers et je devins un autre homme.“[53] Diese ‚Illumination von Vincennes’ stellt einen Wendepunkt in Rousseaus Leben dar und findet ihren unmittelbaren Ausdruck im ersten Discours.

Zu Beginn seines Discours führt Rousseau aus, dass sich die neuzeitliche Kultur als glanzvolles und großartiges Schauspiel darstellt:

C’est un grand et beau spectacle de voir l’homme sortir en quelque maniere du néant par ses propres efforts; dissiper, par les lumieres de sa raison, les ténébres dans lesquelles la nature l’avoit enveloppé; s’élever au-dessus de soi-même; s’élancer par l’esprit jusques dans les régions célestes; parcourir à pas de Géant ainsi que le soleil, la vaste étendue de l’Univers; et, ce qui est encore le plus grand et le plus difficile, rentrer en soi pour y étudier l’homme et connoître sa nature, ses devoirs et sa fin. Toutes ces merveilles se sont renouvellées depuis peu de Générations.[54]

Rousseau stellt fest, dass Wissenschaft und Kunst – als solche betrachtet – zu einem sehr hohen Stand entwickelt worden seien und so auch die Zivilisation des Menschen weit fortgeschritten sei. Doch entlarvt er nur wenige Zeilen später diesen Glanz als Schein, da er darunter die tatsächliche Versklavung des Menschen entdeckt:

[L]es Sciences, les Lettres et les Arts, moins despotiques et plus puissants peut-être, étendent des guirlandes de fleurs sur les chaînes de fer dont ils sont chargés, étouffent en eux le sentiment de cette liberté originelle pour laquelle ils sembloient être nés, leur font aimer leur esclavage et en forment ce qu’on appelle des Peuples policés. Le besoin éleva les Trônes; les Sciences et les Arts les ont affermis.[55]

So bildet die These von der ursprünglichen Güte des Menschen,[56] die allein durch die sozialen Einrichtungen und die kulturellen Entwicklungen depraviert sei, Rousseaus eindeutige Antwort auf die von der Akademie gestellte Frage, die er im ersten Teil des Discours mit Beispielen aus der Geschichte belegt.[57] Die markantesten Punkte seiner historischen Illustration sind der Gegensatz zwischen Sparta und Athen sowie der Verfall Roms, von Rousseau kommentiert anhand der Rede des Fabricius.[58] Doch trotz dieser geschichtlichen Beispiele, die den ersten Teil des Discours füllen, handelt es sich nicht um eine historische Untersuchung im strengen Sinne. Rousseau bemerkt ausdrücklich, es bedürfe zur Beantwortung der gestellten Frage eigentlich keiner geschichtlichen Beweise, denn „nous avons sous nos yeux des témoignages subsistans.“[59]

So folgen im zweiten Teil des Discours systematische Überlegungen, in denen Rousseau nachzuweisen sucht, weshalb Kunst und Wissenschaft einen so verderblichen Einfluss auf die menschliche Moralität haben müssen. Da die Wissenschaften, wie Rousseau feststellt, „si peu d’utilité“[60] für den Menschen haben, können sie ihre Entstehung nur dem Müßigang[61] sowie anderen menschlichen Untugenden wie „la flatterie“, „[le] mensonge“ oder „l’orgueil humain“ verdanken.[62] Ihre verderblichen Folgen sieht Rousseau in der Zerstörung der Religion, in der Gefährdung der Tugend und des staatsbürgerlichen Bewusstseins sowie, daraus resultierend, in der politischen und militärischen Schwächung des Staates.[63] Die verderbliche Wirkung der Wissenschaften beobachtet Rousseau vor allem daran, dass sie den menschlichen Untugenden, aus denen sie entstehen, ein breites Betätigungsfeld geben.[64] Deutlicher jedoch als am Einfluss der Wissenschaften lässt sich der Entfremdungscharakter der gegebenen Verhältnisse an einem anderen Bereich des kulturellen Schaffens verdeutlichen: an der Kunst und insbesondere am Theater.[65] Auch Künstler werden von Ruhmsucht geleitet und passen sich den gesellschaftlichen Erwartungen an. Dies führt unter anderem zu einem allgemeinen Verfall des Geschmacks. Hinter dem Schein tugendhaften und aufrichtigen Verhaltens verbergen sich egoistische Antriebe, sich auf Kosten der anderen zu bereichern und gesellschaftliche Auszeichnungen zu erhalten. Doch will Rousseau nicht leugnen, dass es unter den Gelehrten große Denker gegeben habe.[66] Er formuliert keine absolute Zurückweisung von Kunst und Wissenschaft und erkennt deren konstitutive Rolle für die Entwicklung der menschlichen Existenz ausdrücklich an. So kritisiert er nicht die Gesellschaft an sich, sondern alle bisherigen, den Menschen korrumpierenden wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Fortschritte. Rousseau ist sich durchaus der Bedeutung des gesellschaftlichen Moments für die Entfaltung von Wissenschaft, Kultur und Philosophie bewusst.[67] Doch in den bisher gewonnenen Fortschritten ist eine positive Rückwirkung auf den menschlichen Charakter ausgeblieben. Besonders die Einflüsse der zeitgenössischen Philosophie, die für Rousseau „une troupe de charlatans“[68] ist, hält er für verderblich. So empfiehlt Rousseau eine Rückbindung der Wissenschaft an die staatsbürgerliche Tugend.[69] Wo aus einem solchen Interesse heraus geforscht und gestaltet werde, verlören Wissenschaft und Kunst ihren schädlichen Einfluss:

C’est alors seulement qu’on verra ce que peuvent la vertu, la science et l’autorité animées d’une noble émulation et travaillant de concert à la félicité du Genre-humain.[70]

Im Gegensatz zu einer verbreiteten Meinung[71] sind es nicht die Wissenschaft und die Kunst an sich, die Rousseau ablehnt, sondern der Modus ihrer faktischen Verwirklichung in dieser Gesellschaft. So läuft Rousseaus Kulturkritik darauf hinaus, dass Kunst und Wissenschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen eher einen Beitrag zur Selbstentfremdung als zur Selbstverwirklichung des Menschen leisten. Die Forschung in Wissenschaft und Philosophie wird nicht von dem Ziel der Wahrheitserkenntnis geleitet, sondern ihr Ursprung liegt im Ehrgeiz, in der Ruhmsucht der Menschen.[72] Das Gemeinwesen zerfällt in einen losen Verband konkurrierender Interessen, und das ebenso täuschende wie getäuschte Individuum läuft Gefahr, dass der falsche Schein seinen Persönlichkeitskern infiziert:

On n’ose plus paroître ce qu’on est; et dans cette contrainte perpétuelle, les hommes qui forment ce troupeau qu’on appelle société, placés dans les mêmes circonstances, feront tous les mêmes choses si des motifs plus puissans ne les en détourent. On ne saura donc jamais bien à qui l’on a affaire […]. Plus d’amitiés sinceres; plus d’estime réelle; plus de confiance fondée. Les soupçons, les ombrages, les craintes, la froideur, la reserve, la haine, la trahison se cacheront sans cesse sous ce voile uniforme et perfide de politesse, sous cette urbanité si vantée que nous devons aux lumieres de notre siécle.[73]

Oberstes Prinzip des vorfindlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens sei die „fureur de se distinguer“,[74] die sich mit einer Fassade der Gemeinnützigkeit und Bescheidenheit tarnt. Für Rousseau sind die Kultur und die Gemeinschaft, wie sie sich vor allem in der europäischen Geschichte herausgebildet haben, eine Welt des Scheins,[75] eine künstliche Welt und der gesellschaftliche Mensch ein „künstlich[es] Selbst“.[76]

Kunst und Wissenschaft veredeln den Menschen nicht,[77] denn die vermeintliche Vervollkommnung der gesellschaftlichen Formen ist nur äußerlich und verdeckt die beschädigte Moralität. Rousseau lehnt die Fortschritts- und Perfektibilitätstheorie seiner Zeitgenossen ab,[78] da er in der modernen Geschichte eine zunehmende Verderblichkeit feststellt.[79] Der Mensch wird durch gesellschaftliche Normen und Konventionen gezwungen, sich ständig zu verstellen und als etwas zu erscheinen, was er nicht ist. Beim gesellschaftlichen Menschen herrscht eine Diskrepanz von Sein und Schein,[80] „[ê]tre et paroître devinrent deux choses tout à fait différentes“.[81] Im Rahmen der gesellschaftlichen Existenz ist es nicht nur der Ehrgeiz, der den Schein provoziert, sondern auch der Hang zum Konformismus. Wer schon nicht überlegen wirken kann, versucht doch wenigstens, nicht anders als die anderen zu erscheinen.[82]

So steht die Beschaffenheit der faktisch vorzufindenden Gesellschaft im Widerspruch zu den wirklichen Bedürfnissen des Menschen. Es besteht in der Welt des Scheins die Gefahr, dass das Subjekt am Schluss selbst nicht mehr weiß, was es wirklich empfindet, denn

il régne dans nos mœurs une vile et trompeuse uniformité, et tous les esprits semblent avoir été jettés dans un même moule: sans cesse la politesse exige, la bienséance ordonne: sans cesse on suit des usages, jamais son propre génie.[83]

Die Selbstentfremdung zeigt sich als eine Auflösung des Selbst, der Einheit der Selbstverhältnisse.[84] Diesem individuell wahrnehmbaren Ausdruck der Entfremdung entspricht auf der gesellschaftlichen Ebene das Problem der Ungleichheit,[85] die ebenfalls Produkt des Vergleichens und des Mehr-Sein- oder Scheinen-Wollens ist:[86]

D’où naissent tous ces abus, si ce n’est de l’inégalité funeste introduite entre les hommes par la distinction des talens et par l’avilissement des vertus?[87]

Egoismus und Ungleichheit sind zwei aus verschiedenen Perspektiven sichtbar werdende Resultate ein und desselben Prozesses. Dieser gegenwärtige ‚Prozess der Vergesellschaftung’ bedeutet die Entfremdung des Menschen von seinem wahren Wesen. In seinem Werk versucht Rousseau jedoch darüber hinaus noch eine konstruktiv verstandene Form von ‚Vergesellschaftung’ aufzuzeigen, die vor allem im Contract Social entwickelt wird.

Zusammenfassend zeichnet sich bereits im ersten Discours eine Gegenüberstellung von zwei gegensätzlichen Lebensformen an: der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit. Unter den Leitbegriffen ‚vertu’ und ‚fureur de se distinguer’ skizziert Rousseau nicht nur eine historische Entwicklung von Zivilisations- und Bewusstseinsformen,[88] sondern auch den weiteren Verlauf der Entwicklung unter den gegenwärtigen Bedingungen, der gekennzeichnet ist durch die verhängnisvolle Dezentrierung des Bewusstseins. Erst der ‚Rückzug’[89] aus der gegenwärtigen, den Menschen verderbenden Gesellschaft im Sinne eines „rentrer en soi-même“, ermöglicht diesem die Umkehr in die ursprüngliche Eigentlichkeit, zu sich selbst:

A quoi bon chercher nôtre bonheur dans l’opinion d’autrui si nous pouvons le trouver en nous-mêmes? […] O vertu! Science sublime des ames simples, faut-il donc tant de peines et d’appareil pour te connoître? Tes principes ne sont-ils pas gravés dans tous les cœurs, et ne suffit-il pas pour apprendre tes Loix de rentrer en soi-même et d’écouter la voix de sa conscience dans le silence des passions?[90]

Diese ‚Umkehr in die ursprüngliche Eigentlichkeit‘ ist keine Abkehr von der Gesellschaft, sondern meint einen Rückzug aus der gegenwärtigen, den Menschen sich entfremdenden Gesellschaftsform zu seinem ‚wahren Selbst‘.[91]

Rousseaus Kritik im ersten Discours stellt die Doppelmoral und die dezentrierte Identität dem Ideal eines in sich ruhenden Bewusstseins gegenüber. Neben einer ersten Kennzeichnung der Entfremdung, die sich hier vor allem in den Begrifflichkeiten von Sein und Schein widerspiegelt, entwickelt Rousseau bereits im ersten Discours den Gedanken bzw. das Ideal ‚de rentrer en soi-même’, das zum Leitmotiv seines Werks wird. Sein Glück kann der Mensch nicht in den Meinungen anderer finden, sondern nur in seinen eigenen Prinzipien, ‚gravés dans tous les cœurs’. Wie im zweiten Discours nur das Gefühl den depravierten Menschen in eine neue Ordnung führen kann, tritt dieses schon hier in Form der Metapher des Herzens in der Kritik an Kunst und Wissenschaft zutage.[92]

III.2. Discours sur l’origine, et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes

Im zweiten Discours[93] geht es um den Ursprung der Ungleichheit, die Rousseau bereits zum Ende des ersten Discours zum Grundübel der Missbräuche von Wissenschaft und Kunst erklärt hatte. Auch der zweite Discours ist eine Antwort auf eine Preisfrage der Akademie von Dijon, und zwar auf die im November 1753 veröffentlichte Frage: „Quelle est l’origine de l’inégalité parmi les hommes, et si elle est autorisée par la Loy naturelle?”[94] Zu Beginn des zweiten Discours unterscheidet Rousseau zwei Arten von Ungleichheiten, die physische, von der Natur gesetzte und die politische, von der Gesellschaft eingerichtete Ungleichheit:

Je conçois dans l’Espece humaine deux sortes d’inégalité; l’une que j’appelle naturelle ou Phisique, parce qu’elle est établie par la Nature, et qui consiste dans la différence des âges, de la santé, des forces du Corps, et des qualités de l’Esprit, ou de l’Ame; L’autre qu’on peut appeler inégalité morale, ou politique, parce qu’elle dépend d’une sorte de convention, et qu’elle est établie, ou du moins autorisée par le consentement des Hommes.[95]

Die natürlichen Unterschiede zwischen den Menschen beziehen sich auf körperliche wie auch auf psychische Eigenschaften, nach deren Ursprung zu fragen unsinnig sei, da die Antwort im Begriff des Natürlichen selbst liege.[96] Rousseau weist jedoch entschieden den Versuch zurück, die gesellschaftliche Ungleichheit unmittelbar aus der natürlichen ableiten zu wollen, bzw. eine notwendige Beziehung zwischen der natürlichen und der politischen Ungleichheit herzustellen.[97] Rousseaus Kritik richtet sich hier insbesondere gegen Voltaire, für den sich Unterordnung und Abhängigkeit als quasi-natürliche gesellschaftliche[98] Beziehungen zwischen den Menschen entwickeln:

Le genre humain, tel qu’il est, ne peut substituer, à moins qu’il n’y ait une infinité d’hommes utiles qui ne possèdent rien du tout; car, certainement, un homme à son aise ne quittera pas sa terre pour venir labourer la vôtre; et, si vous avez besoin d’une paire de souliers, ce ne sera pas un maître des requêtes qui vous la fera.[99]

Rousseau hingegen sucht den Menschen in seiner ursprünglichen Verfassung zu erkennen, nicht um die Menschheitsgeschichte und die bestehenden politischen Institutionen nachträglich zu legitimieren, sondern um den Prozess der gegenwärtigen Vergesellschaftung grundsätzlich zu kritisieren. Er betont die positiven Möglichkeiten, die in den sozialen und rationalen Dimensionen menschlicher Existenz angelegt sind, auch wenn in der historischen Entwicklung fast durchweg die negativen Aspekte dominieren.

Wie bereits der erste Discours zeigt, haben sich Vernunft und Gesellschaft unter Preisgabe der menschlichen Autonomie entfaltet, und daraus resultieren soziale Unterschiede an Reichtum, Ansehen und Herkunft sowie auch Unterschiede im Bereich des Wissens. Im zweiten Discours hebt Rousseau nun hervor, dass durch den Vertrag, den die Reichen in ihrem Interesse vorschlagen und nur mit dem Schein der Gesetzlichkeit umhüllen, sich die Menschen nicht einmal mehr des Verlustes ihrer ursprünglichen Freiheit bewusst sind:

Telle fut, ou dut être l’origine de la Société et des Loix, qui donnérent de nouvelles entraves au foible et de nouvelles forces au riche, détruisirent sans retour la liberté naturelle, fixèrent pour jamais la Loi de la propriété et de l’inégalité, d’une adroite usurpation firent un droit irrévocable, et pour le profit de quelques ambitieux, assujétirent désormais tout le Genre-humain au travail, à la servitude et à la misére.[100]

Den ‚Weg in die Entfremdung’, die Depravierung des Menschen durch unangemessene Erziehung und Sitten sowie den falschen Verlauf der Vergesellschaftung, macht Rousseau kenntlich, indem er das im und am Menschen Ursprüngliche vom Künstlichen zu unterscheiden versucht, das die Zivilisation hinzugefügt hat.[101] Um darzustellen, was an der jetzigen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich ist, wählt Rousseau die Methode einer Rekonstruktion der Entwicklung des Menschen im historischen Prozess.[102] Die erste Stufe dieses Prozesses ist der Naturzustand, den man erkennt, wenn man von allem abstrahiert, was dem Menschen im Laufe seiner Geschichte zugewachsen ist:

En dépouillant cet Etre, ainsi constitué, de tous les dons surnaturels qu’il a pu recevoir, et de toutes les facultés artificielles, qu’il n’a pu acquerir que par de longs progrès; En le considerant, en un mot, tel qu’il a dû sortir des mains de la Nature, je vois un animal moins fort que les uns, moins agile que les autres, mais à tout prendre, organizé le plus avantageusement de tous[103].

Seine Bedeutung erhält der Naturzustand dadurch, dass er ursprüngliche Möglichkeiten und Fähigkeiten veranschaulicht, „das Ursprüngliche vom Künstlichen in der Natur des Menschen [unterscheidet]“.[104] Auch wenn der ursprüngliche, hypothetisch angenommene Zustand der menschlichen Gattung in weite

Ferne gerückt ist, führt er das von der Geschichte nicht Erfüllte vor Augen:

Il y a, je le sens, un âge auquel l’homme individuel voudroit s’arrêter; Tu chercheras l’âge auquel tu desirerois que ton Espece se fût arrêtée. Mécontent de ton état present, par des raisons qui annoncent à ta Postérité malheureuse de plus grands mécontentemens encore, peut-être voudrois tu pourvoir rétrogarder; Et ce sentiment doit faire l’Eloge de tes premiers ayeux, la critique de tes contemporains, et l’effroi de ceux, qui auront le malheur de vivre après toi.[105]

Der Naturzustand vermittelt dem Betrachter einen Standpunkt außerhalb der Gesellschaft, von dem aus die nach ihm entworfene ‚Wesensnatur’ eine retrospektive Utopie ist, mit der die Gegenwart und die zukünftige Entwicklung beurteilt werden können.

[...]


[1] Siehe Barth 1975, S. 3.

[2] Dass der Essai nach dem ersten Discours entstand, ist unstrittig. Strittig ist sein Verhältnis zum zweiten Discours. Rousseaus Analyse der menschlichen Selbstentfremdung vollzieht sich in den beiden Discours, vor allem im zweiten Discours, im Modus der Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Zuständen. Diese Kritik soll besonders im zweiten Discours am Menschen kennzeichnen, was an ihm künstlich ist, um in einer Rückführung das Natürliche, Ursprüngliche am Menschen aufdecken zu können. Der Entfremdungsprozess des Menschen ist für Rousseau auch an der Sprache erkennbar; siehe DII, S. 146ff. Dieser Aspekt wird von Rousseau im Essai eigens aufgegriffen und genauestens untersucht, so dass angenommen werden könnte, Rousseau habe Teile des Essai noch nach dem zweiten Discours überarbeitet oder ausgeführt; siehe Derrida 1967, S. 243ff. Mit Blick auf die inhaltlichen Schwerpunkte der hier untersuchten Texte nenne und bearbeite ich den Essai nach der Untersuchung der beiden Discours.

[3] Auf diese Ambiguität der ‚aliénation’ weist Pierre Burgelin hin und grenzt so den philosophischen Entwurf Rousseaus begrifflich ab; siehe Burgelin 1973, S. 532.

[4] Vgl. Burgelin 1973.

[5] Siehe zum Beispiel Wokler 1999, S. 37.

[6] Siehe DI, S. 35ff.

[7] Siehe DII, S. 122ff.

[8] Rousseau gibt die zitierten Passagen vor allem in den im Anhang beigefügten und erst nach Fertigstellung des Discours niedergeschriebenen ‚Notes’ zu erkennen, während sich im Text der Abhandlung selbst nur wenige Verweise finden; siehe DII, S. 195ff.

[9] Für seine Argumentation zieht Rousseau naturwissenschaftlich-anthropologisches Material heran und bezieht sich hier insbesondere auf die einflussreichen Arbeiten von Georges-Louis de Buffon; siehe DII, S. 195. Nach Jean Starobinski findet Rousseau zur Unterstützung seiner eigenen Theorien bei diesem nicht nur „tout un arsenal de faits et de preuves à l’appui de ses propres théories“, sondern darüber hinaus eine Darstellung des Menschen, die Rousseau zum größten Teil übernehmen kann (Starobinski 1971, S. 381). Siehe Cassirer 1973, S. 64 sowie Kohl 1986, S. 173ff.

[10] Siehe Barth 1961, S. 107.

[11] Siehe Vossler 1963, S. 58.

[12] Wie im Laufe der Arbeit gezeigt werden soll, distanziert sich Rousseau sowohl von dem von Hobbes postulierten Kriegszustand im Naturzustand wie auch von Lockes und Pufendorfs These, dass der Mensch im Naturzustand bereits zwischen gut und böse differenziere; siehe auch Derathé 1970, S. 131ff.

[13] Siehe Melzer 1990, S. 49f.

[14] So bemerkt auch Starobinski: „[L]e déclin social correspond à une dépravation linguistique.” (Starobinski 1967, S. 288)

[15] EOL, S. 381.

[16] Siehe Starobinski 1967, S. 298.

[17] Siehe Starobinski 1967, S. 298.

[18] Besonders im Vorwort aber vor allem in der zweiten Hälfte der Abhandlung finden sich Aussagen, die auf Rousseaus staatsrechtliches Konzept verweisen; siehe DII, S. 178ff.

[19] Siehe CS, S. 427.

[20] In den einschlägigen Übersichten zur französischen Literatur wie auch in der Pléiade-Ausgabe werden die Rêveries als Autobiographie gekennzeichnet; siehe exemplarisch Rössig 1996, S. 368 und vgl. den Titel des ersten Bandes der Œuvres complètes: „Les Confessions. Autres textes autobiographiques“ (1959). Diese Definition soll überprüft werden.

[21] Aufgrund zahlreicher Rousseau-Interpretationen, die, einen eigenen Zweck verfolgend, Rousseau ein ‚Zurück-zur-Natur’ oder eine Misslingen seines vermeintlichen Versuchs, das ‚Ich’ benennen zu wollen, unterstellen, habe ich mich in dieser Arbeit bemüht, am Originaltext der Pléiade-Ausgabe die hier gestellte Problematik zu untersuchen, um sie mit den Worten Rousseaus zu belegen. Diese aus den Originaltexten zitierten Belege und Titel der Werke weisen orthographische und grammatische Eigenheiten auf, die belassen wurden.

[22] Siehe Starobinski 1971, S. 415ff.

[23] Siehe Lypp 1996, S. 388. Die Begriffe des ‚Ich’ und des ‚Selbst‘ bezeichnen hier und im Folgenden keinen inneren Gegenstand oder Wesenskern einer Person, sondern beziehen sich auf die Selbstverhältnisse menschlicher Subjekte.

[24] Sturma 2001, S. 178.

[25] André Martinet zeigt in seinen Grundzügen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, dass etymologisch identische Termini keineswegs immer denselben Begriff bezeichnen oder vice versa ein synonymes Syntagma aus einem etymologisch völlig divergenten Wortstamm gebildet werden kann; siehe Martinet 1971, S. 19f.

[26] Siehe Robert 1995, ,étranger’. Siehe Hachette 1989, S. 426.

[27] Siehe Robert 1995, ,étranger’. Mehr noch als das ‚Nicht-Gewöhnliche’ bringt der Terminus ‚être étranger’, der vor allem in Rousseaus ‚autobiographischen Schriften’ sein Verhältnis zu seiner Umwelt, das er als einsam und andersartig, mithin als fremd empfindet, zum Ausdruck: „Tout ce qui m’est extérieur m’est étranger desormais.” (R, S. 999)

[28] Lecercle 1973, S. 73.

[29] Siehe Robert 1995, ,aliéner’. Siehe Hachette 1989, S. 29.

[30] CS, S. 355.

[31] Siehe CS, S. 360f.

[32] CS, S. 364.

[33] Siehe Kersting 2000, S. 59ff.

[34] CS, S. 375.

[35] H, S. 389.

[36] Von größter Bedeutung für Rousseau persönlich ist die Entfremdung von seinen Freunden unter den Pariser philosophes in den 50er Jahren des 17. Jahrhunderts und insbesondere das Zerwürfnis mit Denis Diderot im Jahre 1757. Der dadurch drohende ‚Verlust des Eigenen‘ spiegelt sich in den letzten Passagen der Confessions und besonders in den Dialogues; siehe Starobinski 1997, S. 398f.

[37] Siehe E, S. 826: „[I]l faudra qu’il ait le cœur bien aliené si je ne le raméne pas à elle.”

[38] Siehe CS, S. 360.

[39] Siehe etwa E, S. 313 und S. 438.

[40] Schon vor Rousseau, so etwa bei Racine und Voltaire, ist die im Folgenden ausgeführte Monemverbindung nachweisbar; siehe Larousse 1973, S. 2459 und Robert 1990, S. 255.

[41] Bei Burgelin verdichtet erstmals in der Geschichte der Rousseau-Forschung Begriffe wie ‚aliénation’ und ‚s’aliéner, ‚être étranger a soi’ und ‚devenir autre que soi’ zu einem Thema, welches das ganze Werk durchzieht. Sie bilden für Burgelin den Anlass, eine ‚existenziale Philosophie‘ Rousseaus zu rekonstruieren; vgl. Burgelin 1973.

[42] DII, S. 193. Während das Element der Distanz in dem oben genannten Zitat durch das Attribut oder die Präposition ausgedrückt wird, geschieht dies im Emile durch Negation in Verbindung mit dem Verb: „Nous n’existons plus où nous sommes, nous n’existons qu’où nous ne sommes pas.” (E, S. 308)

[43] C, S. 408.

[44] D, S. 806.

[45] Siehe Starobinski 1971, S. 421ff.

[46] Die ‚Entäußerung’ von der vordergründigen, vorfindlichen Wirklichkeit der Existenz hin zur eigentlichen bzw. wahren Existenz wird im zweiten Teil dieser Arbeit untersucht.

[47] R, S. 999.

[48] Siehe Kapitel III.4.2.

[49] Starobinski 1971, S. 427.

[50] Siehe Müller 1970, S. 23 und Starobinski 1971, S. 107.

[51] Diese Nomenklatur wählt auch E. Ritz bei der Darstellung Rousseaus in seinem Artikel ‚Entfremdung’. (Ritz 1972, S. 513)

[52] DI, S. 1.

[53] C, S. 351.

[54] DI, S. 7.

[55] DI, S. 6.

[56] Diese Güte des Naturmenschen wird hier nicht explizit genannt, lässt sich aber ex negativo aus der Beschreibung der gegenwärtigen Situation schließen; siehe DI, S. 8. Im zweiten Discours führt Rousseau diesen Gedanken genauer aus.

[57] Rousseau denkt dabei nicht nur an die neuzeitliche Entwicklung seit der Renaissance, sondern versucht seine These als ein generelles Strukturgesetz der Weltgeschichte auszuweisen; siehe DI, S. 10f.

[58] Siehe DI, S. 14f. Rousseaus Einschätzung der römischen Republik wird später ihren differenziertesten Ausdruck im Contract Social finden; siehe Cousin 2000.

[59] DI, S. 11.

[60] DI, S. 19.

[61] Siehe DI, S. 18.

[62] Siehe DI, S. 17.

[63] Siehe DI, S. 19ff.

[64] Siehe DI, S. 21f.

[65] Siehe DI, S. 21. Dichter und Schauspieler werden im ersten Discours nur am Rande erwähnt. Seine eigentliche Kritik am Schauspiel formuliert Rousseau erst in der Lettre à d’Alembert. Rousseau widerspricht d’Alemberts Forderung, für Genf das seit 1617 verbotene Theater wieder einzuführen, da dieses den Menschen der Wirklichkeit und sich selbst entfremdete: „Ainsi le Théatre purge les passions qu’on n’a pas, et fomente celles qu’on a.“ (A, S. 20) Siehe dazu Rang 1965, S. 149ff, Starobinski 1971, S. 119, Parry 1995, S. 112ff und Sturma 2001, S. 152. Statt der Aufführungen im Schauspielhaus schlägt Rousseau improvisierte, spontane Spiele im Rahmen eines Volksfeiertages vor. Rousseaus Ablehnung der herkömmlichen Schauspiel-Darstellung bedeutet letztlich eine Ablehnung dieser Gesellschaft.

[66] Siehe DI, S. 29f.

[67] Siehe Starobinski 1971, S. 62.

[68] E, S. 601.

[69] Siehe DI, S. 29f. Rousseau denkt dabei an die spartanischen Tugenden im Gegensatz zu den im antiken Athen verbreiteten.

[70] DI, S. 30.

[71] Siehe Vossler 1963, S. 53: „[I]n Wirklichkeit verläuft für ihn die Trennungslinie gar nicht zwischen Wissenschaft oder Kultur und Tugend […], sondern bedeutsam verlegt zwischen der falschen, der verlogenen, hohlen, eitlen und nur scheinbaren Wissenschaft auf der einen Seite und der echten, wahren, guten Wissenschaft samt der Tugend auf der anderen Seite.“ Siehe Sturma 2001, S. 67ff.

[72] Siehe Fetscher 1968, S. 3: „Das Bedürfnis nach individueller Auszeichnung auf Grund ‚natürlicher‘ […] Vorzüge führt nicht nur zu den gewaltigsten Kraftanstrengungen, sondern auch zu einem die Seele vergiftenden, die Gemeinschaft zerstörenden Konkurrenzkampf“.

[73] DI, S. 8f.

[74] DI, S. 19.

[75] Dieser künstlichen Gemeinschaft, der Gemeinschaft des Scheins, welche das wahre Selbst des Menschen depraviert, versucht Rousseau zu entkommen: „De quelque façon que les [hommes] veuillent me voir ils ne sauroient changer mon être, et malgré leur puissance et malgré toutes leurs sourdes intrigues, je continuerai quoi qu’ils fassent d’être en depit d’eux ce que je suis.” (R, S. 1080)

[76] Vossler 1963, S. 57. Siehe Sturma 2001, S. 66: „Angriffspunkt der Kulturkritik Rousseaus ist die Gesellschaft gekünstelter Menschen mit künstlichen Leidenschaften.”

[77] So besteht für Rousseau kein notwendiger Zusammenhang zwischen der Rechtschaffenheit des Menschen und seinem Wissen. Rousseau greift damit die in seiner Zeit wie selbstverständlich postulierte Voraussetzung an, dass nur der zivilisierte, der gebildete Mensch überhaupt als vollwertiger Mensch zu betrachten sei, während unzivilisierte Völker in Barbarei und im Elend lebten und wilden Tieren vergleichbar seien; siehe DI, S. 12. Siehe Taylor 1989, S. 358 sowie Spaemann 1992, S. 38.

[78] Siehe Sturma 2001, S. 81.

[79] Siehe DI, S. 28f. Die im ersten Discours konstatierte „corruption des mœurs“ deckt Rousseau im zweiten Discours in ihrem Ursprung auf: „Le premier qui ayant clos un terrain, s’avisa de dire,ceci est à moi, et trouva des gens assés simples pour le croire, fut le vrai fondateur de la société civile.” (DII, S. 164) Auch hier zeigt sich, dass der erste Discours als eine Hinführung zum zweiten verstanden werden kann.

[80] Siehe Starobinski 1971, S. 36f. und Sturma 2001, S. 65ff.

[81] DII, S. 174.

[82] Siehe DI, S. 8.

[83] DI, S. 8.

[84] Arthur M. Melzer spricht in diesem Zusammenhang von der „disunity of soul“; siehe Melzer 1990, S. 63ff.

[85] Diese Problematik versucht Rousseau nach einer Hinführung im ersten Discours im zweiten Discours in ihren Wurzeln zu erfassen.

[86] Siehe Starobinski 1971, S. 335: „L’inégalité est produite par le délire vaniteux du paraître”.

[87] DI, S. 25.

[88] Rousseau funktioniert ansatzweise die soziale Typologie Montesquieus in eine historische Phänomenologie um, wobei es unerheblich ist, ob dies wissentlich geschieht oder nicht. Montesquieu zeigt in seinem Werk De L’Esprit des Lois den Bedeutungswandel, dem die Leitbegriffe der Identitätsbildung unterliegen, und Ansätze zu einer Genealogie der Moral. Soziales und individuelles Bewusstsein trennen sich. Sein und Schein treten auseinander und Moralbegriffe entstehen. Doch Montesquieu bleibt in seiner Analyse hinter Rousseau zurück. ‚Vertu’ drückt bei ihm einen Zustand aus, in dem der Schwerpunkt der individuellen Identität noch in die Gemeinschaft fällt: „On peut définir cette vertu, l’amour des lois et de la patrie. Cet amour, demandant une préférence continuelle de l’intérêt public au sien propre, donne toutes les vertus particulières ; elles ne sont que cette préférence.” (Montesquieu 1966, S. 267)

[89] Ich verwende den Begriff ‚Rückzug’ hier im Sinne einer Rückkehr zu sich selbst. Es ist keine ‚Rückkehr zur Natur’ gemeint.

[90] DI, S. 30.

[91] Auch hier ist die ‚Umkehr‘ (oder ‚Rückkehr‘) nicht im Sinne einer Wiederherstellung historisch vergangener Zustände zu verstehen. Es soll vielmehr ein strukturelles Merkmal der individuellen und sozialen Lebensgestaltung wieder gewonnen werden, das mit Begriffen der Harmonie oder der Ganzheit bezeichnet wird. Laurence Cooper spricht in diesem Sinne von einer „return to wholeness“ bzw. von einer „restoration of human wholeness“, und zwar: „both internally and with respect to others“ (Cooper 1999, S. 186).

[92] Allerdings handelt es sich keinesfalls um beliebige selbstbezogene Gefühle und erst recht nicht um bloße Gefühlsintensitäten, wie im zweiten Teil dieser Arbeit aufgezeigt werden soll; siehe Sturma 2001, S. 110ff.

[93] Rousseau reicht seinen Beitrag bis zum Annahmeschluss am 1. April 1754 ein, der diesmal nicht preisgekrönt sein wird. Die Originalfassung ist verloren. Im April 1755 veröffentlicht Rousseau eine überarbeitete Fassung unter dem im Text genannten Titel.

[94] DII, S. 129.

[95] DII, S. 131.

[96] Siehe DII, S. 131.

[97] Siehe DII, S. 131f. Wie bereits im ersten Discours verweist Rousseau auch hier auf das Unrecht der Sklaverei.

[98] Siehe Voltaire 1967, S. 477: „L’inégalité est donc à la fois la chose la plus naturelle, et en même temps la plus chimérique.“

[99] Voltaire 1967, S. 476f. Voltaire nimmt an, dass eine Gesellschaftsordnung, die nicht grundsätzlich zwei Klassen aufweise, unmöglich sei, und diskutiert politische und ökonomische Probleme oder Reformen mit spürbarer Distanz gegenüber den Interessen der Mehrheit des dritten Standes. So sei auch eine große Anzahl besitzloser Arbeitskräfte für das Bestehen der Menschheit notwendig; siehe Voltaire 1967, S. 473f.

[100] DII, S. 178; siehe dazu Sturma 2001, S. 63ff.

[101] Siehe Starobinski 1967, S. 285: „Rousseau s’applique à formuler une anthropologie négative: l’homme naturel se définit par l’absence de tout ce qui appartient spécifiquement à la condition de l’homme civilisé. La méthode de Rousseau consiste à dépouiller l’homme de tous les attributs «artificiels» dont celui-ci a pu prendre possession au cours de l’histoire.”

[102] Siehe Melzer 1990, S. 49ff. und Sturma 2001, S. 54ff.

[103] DII, S. 134f.

[104] Sturma 2001, S. 55.

[105] DII, S. 133; siehe auch Rang 1965, S. 129.

Ende der Leseprobe aus 120 Seiten

Details

Titel
Entfremdung und Ausdruck in der Philosophie Jean-Jacques Rousseaus
Hochschule
Universität Duisburg-Essen  (Fachbereich Geisteswissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
120
Katalognummer
V35021
ISBN (eBook)
9783638350730
Dateigröße
928 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Entfremdung, Ausdruck, Philosophie, Jean-Jacques, Rousseaus
Arbeit zitieren
Karoline Borquez Gonzalez (Autor:in), 2003, Entfremdung und Ausdruck in der Philosophie Jean-Jacques Rousseaus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/35021

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