Machtverhältnisse in der Pflege

Eine Analyse


Diplomarbeit, 2004

72 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Aspekte von Macht
2.1 Klassische Machtauffassung
2.2 Macht als Austauschprozess
2.3 Machtdispositive bei Foucault
2.4 Die Konstitution des Selbst
2.5 Die Konstruktion von «Mütterlichkeit»

3 Machtkonstellationen im Gesundheitssektor
3.1 Zur Vorgeschichte der Pflege
3.2 Totale Institutionen
3.2.1 Insassen
3.2.2 Personal
3.3 Die kontrollierte Gesellschaft

4 Der medizinische Code und die Pflege
4.1 Das System der Krankenbehandlung als Funktionssystem
4.2 Expertokratie
4.3 Pflegerischer Professionalismus
4.4 Pflegetheoriebildung

5 Machtdiskurse in der Pflege am Beispiel der Demenz
5.1 Medizinische Aspekte der Demenz
5.2 Psychosoziale Faktoren der Demenz
5.3 Pflegerische Konzepte im Umgang mit Demenz
5.4 Kitwoods personenzentrierter Ansatz
5.4.1 Die Kultur der Depersonalisierung
5.4.2 Standardparadigma
5.4.3 Organisationsform
5.4.4 Personenzentrierte Pflege
5.4.5 Dementia Care Mapping (DCM)
5.4.6 Kritische Bewertung des personenzentrierten Ansatzes bei Demenz

6 Zusammenfassung und Ausblick

7 Literatur

1 Einleitung

Die Geschichte der neuzeitlichen Krankenpflege kann verstanden werden im Rahmen eines gesamteuropäischen Transformationsprozesses, der sich über mehrere Jahrhunderte erstreckte und im allgemeinen bezeichnet wird als Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit. Zwischen Renaissance und 19. Jahrhundert entwickelten sich in Europa die Institutionen, Diskurse und Machtpraktiken, die auch heute noch mitbestimmend für die Strukturen moderner Gesellschaften sind. Die Geschichte der Pflege, Pflegeinstitutionen und Pflegediskurse ist Teil dieser Differenzierungsprozesse westlicher Gesellschaften und kann auch nur vor diesem Hintergrund angemessen aufgearbeitet werden. Diese Entstehungsgeschichte, die Einbettung der Pflege in ein spezifisches historisch–institutionelles Machtgefüge, ist für den Pflegeberuf inzwischen selbst zum Problem geworden. Die Herkunft aus einem christlich-caritativen Menschenbild steht oftmals in Konflikt zu den Anforderungen an eine professionelle Pflege, seine Subalternität gegenüber dominanten Metadiskursen (z.B. medizinischen und staatlichen Diskursen) verhinderte lange Zeit die Ausbildung von tragfähigen Theorien, die es dem Pflegebereich erlauben würden sich als relativ autonomer Bereich zu konstituieren und damit bei der Verteilung bestimmter Ressourcen im Feld des Sozialen größeren Einfluß zu gewinnen.

Es haben sich allerdings inzwischen Pflegekonzepte entwickelt, die beanspruchen auf der Basis einer ganzheitlichen Pflege einen Bruch mit der traditionellen Pflege zu verwirklichen. Aus dieser Problematik ergibt sich die Notwendigkeit, dass die Pflegewissenschaft ihre Ursprünge und ihr Verhältnis zur Macht selbstkritisch reflektiert.

Anhand der kritischen Analyse verschiedener Texte aus den Bereichen der Philosophie, Soziologie und Pflegewissenschaft soll versucht werden diese Problemstellung aufzuarbeiten.

Für die folgende Arbeit ergeben sich hieraus eine Reihe von Fragestellungen.

1. Gibt es Machtheorien, die angemessen die oben erwähnten Veränderungen erklären können?
2. Liefern Machttheorien tragfähige Erklärungen um die Machtverhältnisse im Pflegebereich überzeugend darstellen zu können?
3. Wie ist der institutionelle Rahmen pflegerischer Tätigkeiten definiert?
4. Welchen Einfluss haben pflegerische Metadiskurse auf die Arbeit von Pflegekräften?

Dabei verfolgt diese Arbeit zwei übergeordnete Ziele. Zum einen soll analysiert werden, inwieweit Macht sich auf den Pflegealltag auswirkt und zum andern ob sich Autonomie im Pflegeberuf, die durch die Etablierung der Pflegewissenschaft auch angestrebt wird, selbst zu einem Machtinstrument entwickelt.

Ausgehend von diesen Zielstellungen ergibt sich der folgende methodische Aufbau dieser Arbeit. Es werden zuerst verschiedene Machtheorien untersucht, um die historische Eingebundenheit des Pflegeberufs erklären zu können und um die verschiedenen Konfliksituationen, die sich für Pflegekräfte herausbilden, einsehbar zu machen. Im nächsten Schritt soll anhand der Begrifflichkeit von totaler Institution und Kontrollgesellschaft das Arbeitsfeld der pflegerischen Tätigkeit dargestellt werden. Anschließend werden der medizinische Code und der pflegewissenschaftliche Diskurs vorgestellt, die beide Leitlinien für pflegerisches Handeln formulieren. Zum Abschluß soll an spezifischen Konzepten für die Arbeit mit Menschen mit Demenz gezeigt werden, wie Machtpraktiken und Machtdiskurse das Feld pflegerischer Tätigkeit konstituieren.

2 Aspekte der Macht

In diesem Kapitel werden die gängigsten Machttheorien dargestellt, die sowohl im Sektor der angewandten Pflege sowie in den Pflegewissenschaften aktuell diskutiert werden. (vgl. Pillen 1997, Schöniger 1998, Powers 2002)

2.1 Klassische Machtauffassung

Eine inzwischen klassisch gewordene Definition der Macht hat Weber formuliert.„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel woraus diese Chance besteht.“ (Weber, 1972, S.28) Beim Machttypus von Weber haben wir es mit dem Durchsetzen von Macht gegen einen Willen zu tun, also der repressiven Form von Machtausübung. Diese Art von Macht ist leicht durchschaubar und findet sich heute noch in vielen Institutionen und Bürokratien. Sie kann charismatisch oder wissenschaftlich legitimiert sein, beruht aber immer auf einer radikalen Asymmetrie der Verhältnisse von Herrschenden und Untergebenen. Macht äußert sich bei Weber durch Subsumtion, Repression oder Herrschaft, also jenen Beziehungsweisen fundamentaler Dualität zwischen Unterdrückern und Unterdrückten. Bei diesen Interessenskollissionen bleiben dialektische Aspekte der Macht unberücksichtigt. Macht wäre wenig lernfähig und würde somit Entwicklungen, wenn nicht verhindern so doch stark behindern. Diese Machtkonstellationen treffen wir heute vor allem noch in staatlichen Bürokratien und administrativen Institutionen, wie Krankenhäusern und öffentlichen Verwaltungen, aber auch diese Institutionen sind lernfähig und tendieren zur Anwendung von immer undurchsichtigeren Machtmethoden.

Pillen versucht anhand der Machtdefinition von Weber verschiedene Machtkonstellationen im Krankenhaus zu erläutern. Hierzu arbeitet sie vier Aspekte dieser Definition heraus:

1. den Möglichkeitscharakter der Macht
2. den Aspekt des Konfliktbezugs der Macht
3. den Asymmetrieaspekt der Macht und
4. den der Grundlagen von Macht. (vgl.Pillen, 1997)

Pillen macht darauf aufmerksam, dass die Möglichkeit der Durchsetzung von Macht nicht gleichbedeutend ist mit der tatsächlichen Nutzung dieser Möglichkeit. In Konfliktfällen kann Macht die Durchsetzung ermöglichen. Asymmetrisch ist Macht deswegen verteilt, weil es in Interaktionen eine soziale Ungleichheit gibt. Macht verfügt über unterschiedliche Grundlagen, wie Ressourcen und zugeordnete Wirkungsweisen, die sehr vielfältig sein können. Die negative Seite der Macht kann aus Kontrollen oder Sanktionen bestehen, positive Elemente der Macht können Belohnung, Hervorrufen von Identifikation mit den Machthabern, oder der Glaube an die Legitimität der Macht sein. Macht kann aber auch durch Sachkenntnisse, Wissen oder Information gerechtfertigt erscheinen. Da Menschen in sozialen Kontexten leben, müssen sie mehr oder weniger miteinander interagieren. Je nach Form und Intensität der Organisationsstufe treten hierbei Konflikte auf. Die zwischen diesen Konflikten bestehenden Konfrontationslinien bestehen aus Willen und Widerstand. Macht wird nach Weber als der Faktor gesehen diesen Willen durchzusetzen. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass Macht durch Widerstand erhebliche Energiepotentiale bindet und Machtausübende deshalb daran interessiert sind ein Einverständnis bei den Beherrschten herzustellen.

Weber begreift Machtkonstellationen als personenbezogene. Zu diesen personenbezogenen Machtkonstellationen gehört die Gestalt der ärztlichen Persönlichkeit. Die ärztliche Persönlichkeit wirkt durch Charisma und erwartet Unterwerfung. Diese autoritäre Persönlichkeit wirkt heutzutage zunehmend anachronistisch. Ein weiterer Typus der personal gebundenen Macht, der die mangelnde Bereitschaft sich einem autoritären Diktat zu unterwerfen übergeht, könnte man als fürsorglichen Professionalismus bezeichnen. Bei diesem Machttyp werden von vornherein die Entscheidungsalternativen eingeschränkt, so dass die Betroffenen nur noch die Illusion von Wahlmöglichkeiten haben.

„Die Macht motiviert den Betroffenen dazu, sich mit einem Ziel zu identifizieren, das sie vorgibt. Dem Subjekt erscheint es so, als ob es mit seinen Ambitionen eigene Ziele verfolge. In Wirklichkeit realisiert es in den ihm als eigene Ziele erscheinenden Vorstellungen und Wünschen jedoch die Interessen der Macht Allerdings kommt es immer noch häufig genug zu Konflikten, sobald der Betroffene die Einschränkung, die ihm auferlegt. wird, durchschaut.“ (Pillen, 1997, S. 115)

Pillen sieht diese Form der Machtausübung im Verhältnis Arzt-Patient aber auch im Verhältnis Pflegekraft-Patient als gegeben an.(vgl. Pillen, 1997, S. 115) Hinter besorgter Fürsorge steckt eine bevormundende und die Autonomie einschränkende Attitüde.

Was ermöglicht es dem Mächtigen seinen Willen durchzusetzen? In der Nachfolge von Weber lassen sich vier Positionen zu diesem Thema ausmachen. Vierkant nennt angeborene Triebe (vgl. Vierkant, 1927), Mannheim „gesellschaftlich-politisch begründete Erzwingungschancen (vgl. Mannheim, 1967), Lasswell betont die Fähigkeit, anderen zu schaden oder ihnen Schaden anzudrohen (Lasswell, 1950). (Christie 1970) wiederum betont den Aspekt der Möglichkeit zur Manipulation anderer. Exemplarisch für diese Form von Macht ist die Werbung, die uns als notorischen Mängelwesen statuiert. Die Medizin erzeugt gerade über ihre Definitionsmacht, was dem Menschen zum Wohlbefinden fehlt, so gibt es Produkte gegen Altern, Fettsucht, Müdigkeit und vieles mehr, diese Mittel lösen aber nicht die Probleme der Kunden, sondern nur die der Produzenten.

„Macht wird in den Arbeiten dieser und anderer Autoren letztlich immer entweder als eine Eigenschaft, oder als ein Gut angesehen, über das einige Menschen in größerem Maße verfügen als andere.“ (Schaefer-Hegel, 2002, S.383)

Webers Typologie von Macht entspricht noch einem sehr traditionellen, autoritären und personenbezogenen Stil von Macht, sie ist intentional und erweckt den Eindruck, dass ein Individuum über einen originären und eigenen Willen verfügt. In diesem Denken wird allzuleicht die Eingebundenheit des Individuums in Strukturen und Systemprozesse vernachlässigt.

2.2 Macht als Austauschprozess

Einen weiteren Theorieansatz stellt Popitz in seiner Schrift «Prozesse der Machtbildung» vor. Er versteht Macht als einen Austauschprozess, in dem sowohl Aspekte subjektiven Handelns, als auch organisatorische Strukturen von Machtprozessen zum Tragen kommen.

Popitz begreift Macht als ein durch ein Machtzentrum organisiertes System von Geben und Nehmen. In diesem System werden Ressourcen und Machtvorteile ausgetauscht, ständig um­getauscht und neu verteilt. Über ein solches System reproduziert sich das Machtzentrum immer wieder neu, gleichzeitig wird aber auch die gesellschaftliche Ordnung ständig erneuert und immer wieder stabilisiert. Dadurch, dass den Machtunterlegenen nicht nur etwas genommen, sondern auch etwas gegeben wird, entsteht also auch eine Form von Komplizenschaft des Einzelnen mit dem Machtsystem. Der Einzelne oder die Gruppe können sich nie als totale Opposition begreifen, weil sie in diesem System tendenziell als Profiteure in Erscheinung treten können.

Macht ist nach dieser Definition immer ein Beziehungsgeschehen, das nie dinglich oder objektivierbar oder als zuschreibbare Eigenschaft erscheint. Die Macht ist allerdings auf Zustimmung oder zumindest Duldung angewiesen. Popitz Vorstellung von Macht gründet sich also auf einen relativen Utilitarismus, in dem ein reger Austausch von Mitteln herrscht. Popitz Modell der planvollen Umverteilung von Macht lässt allerdings die Frage offen, was der einzelne als planvoll ansieht und wie diese Macht mit Disparitäten umgeht. Wer bei den gegenseitigen Umverteilungen wie stark vom System profitiert und ab wann ein solcher Prozess nicht mehr funktioniert bleibt bei Popitz ungeklärt. Festzuhalten bleibt, dass Gruppen unterschiedlichen Einfluss haben, je nach Organisationsgrad und Lobbyismus. Die Pflege hat weder eine einflußreiche Lobby noch ist ihr Organisationsgrad nennenswert entwickelt, das, was sie anbietet, scheint in den westlichen Industriestaaten keinen sonderlichen Wert zu besitzen.

Die im nächsten Abschnitt vorgestellte Machttheorie befaßt sich mit Strukturen, ist also apersonal. Die Macht „agiert zwar in den konkreten Handlungen der Subjekte, ohne doch von deren Intentionen motiviert zu sein. Die Subjekte sind vielmehr Vollzugsorgane einer subjektlosen Strategie.“ (Pillen, 1997, S. 115)

2.3 Machtdispositive bei Foucault

Mit Foucaults Machttheorie haben wir einen Punkt erreicht an dem nicht mehr nach einem überzeitlichem Wesen der Macht gefragt wird, sondern an dem Macht, ihre Strukturen und Wirkungsweisen an konkreten Gesellschaften untersucht wird. Foucaults Machttheorie ist historisch.

In einer Reihe beeindruckender Einzelstudien über den Wahnsinn, die Klinik, die Humanwissenschaften, das Gefängnis und die Sexualität zeichnet Foucault die Veränderungen von Diskursen und Institutionen, die Entstehung neuer Diskurse und Institutionen in den modernen westlichen Gesellschaften nach. Diese Analysen aus historischer Sicht sollen zeigen, wie aus Offensiven und Gegenoffensiven, Wirkungen und Gegenwirkungen die heutigen komplexen Kräfteverhältnisse entstehen konnten. In einer «Archäologie der Humanwissenschaften» zeigt Foucault die Machtmechanismen, die Körper, Gesten und Verhaltensweisen besetzen. Die Bedingungen für das Entstehen der Humanwissenschaften sind zugleich auch deren Zweck: die Diziplinierung und Normalisierung, um Menschen, die in früheren Epochen weggeschlossen oder Almosenempfänger wurden, handhabbarer zu machen. Foucault analysiert, wie sich in den Anfängen der industriellen Gesellschaften ein Strafapparat etabliert, der als Sortiermaschine zwischen Normalen und Anormalen funktioniert. Am Beispiel der aufkommenden Philanthropie Anfang des 19. Jahrhunderts zeigt Foucault, wie Menschen sich um die Gesundheit, Erziehung und Wohnung anderer kümmern, folglich um deren Leben. Aus diesen unklaren Funktionen entwickelten sich dann

„Institutionen, Wissen... eine öffentliche Hygiene, Inspektoren, Sozialfürsorge, Psychologen Die Medizin spielt natürlich eine fundamentale Rolle. Ihr Diskurs ging von einem zum anderen. Im Namen der Medizin sah man sich Häuser und deren Ausstattungen an, aber in ihrem Namen katalogisierte man auch Irre, Kriminelle und Kranke.“ (Foucault, 1976, S.111-113)

Wie läßt sich nun Foucaults Machttheorie genauer fassen? Es ist schwierig und auch methodisch fragwürdig aus verschiedenen konkreten Untersuchungen eine Machttheorie zu destillieren. Deshalb sollen hier anhand eines Vortrages von 1976, in dem Foucault sein Projekt einer Analyse von Machttechnologien vorstellt, Kernpunkte seiner Theorie dargestellt werden.

„Ich will versuchen, eine Analyse der Macht zu entwickeln oder besser: die Richtung zu zeigen, in der man eine Analyse der Macht versuchen könnte, die nicht einfach eine juristische negative Auffassung der Macht wäre sondern die Macht als Technologie begreift.“ (Foucault, 1998, S. 277)

Foucault bestreitet nicht, dass die Macht repressiv und negativ sein kann, dass sie mit dem Verbot, dem Gesetz, dem «du sollst nicht» arbeitet, er bestreitet nur, dass sie dies ausschließlich ist, dass sie keine positiven Effekte produziert.

„Bei den Psychoanalytikern, Psychologen und Soziologen findet sich diese Auffassung häufig, derzufolge die Macht wesentlich die Regel, das Gesetz, das Verbot ist, das, was die Grenze setzt zwischen dem, was erlaubt, und dem, was verboten ist.“ (Foucault, 1998, S. 277)

Diese Einstellung zur Macht scheint Foucault unzureichend, zu juridisch und formal. Foucault versucht aufzuzeigen, dass Macht als eine Technologie begriffen werden kann, die von simplifizierten, negativen und juristischen Interpretationen von Macht abzugrenzen ist.

Foucault fragt sich, warum in der westlichen Gesellschaft diese negative und restriktive Vorstellung der Macht, das «du sollst nicht», so dominant wurde. „Warum begreifen wir die Macht bevorzugt als Gesetz und Verbot?“(Foucault, 1998, S. 278) Die westlichen Systeme entwickelten sich seit dem Ende des Mittelalters in der Konfrontation zwischen Monarchie und Feudalmacht. Eine wichtige Waffe der Monarchie in dieser Auseinandersetzung war dabei das Recht. Die monarchische Ausbildung war gegen die feudalen Sitten und Gewohnheiten gerichtet. In diesem Kampf war das Recht immer das Instrument der Könige sich gegen „die Institutionen, Sitten und Vereinbarungen... .“ (Foucault, 1998, S.278) durchzusetzen: Dieses Rechtssystem, das sich aus dem römischen Recht entwickelte und zum Niedergang des Feudalsystems beitrug, konnte dann später vom Bürgertum profitabel genutzt werden. Die westlichen Gesellschaften hatten also nie ein anderes Repräsentationssystem als das Recht gehabt, mit seinen fundamentalen Begriffen „Gesetz, Regel, Souverän, Übertragung der Macht u.s.w.“ (Foucault, 1998, S. 280) Von diesen Repräsentationsformen der Macht muss man sich laut Foucault befreien, um das tatsächliche Funktionieren von Macht zu begreifen.

Foucault möchte demgegenüber die Macht in ihren positiven Elementen analysieren. Hierzu arbeitet er 4 Aspekte der Macht heraus:

1) Es gibt nicht nur eine Macht sondern es gibt immer viele Mächte.

„Eine Gesellschaft ist kein einheitlicher Körper, indem eine und nur eine Macht ausgeübt würde, sondern in Wirklichkeit eine Aneinanderreihung, eine Verbindung, eine Zusammenfügung, auch eine Hierarchie von verschiedenen Mächten, die jedoch ihre Spezifität behalten.“ (Foucault, 1998, S. 281)

Hier unterscheidet Foucault lokale Funktionsweisen der Mächte, die historische und geographische Eigenheiten aufweisen. Da Gesellschaften nicht homogen sind wirken in ihnen auch heterogene Machtmechanismen.

2) Macht konstituiert sich weder als eine Ableitung von einer Zentralmacht, noch taucht plötzlich eine Gesellschaft auf, um die sich Macht formiert. Mächte bildeten sich aus kleinen Machtregionen „der Sklavenwirtschaft, der Werkstatt und der Armeen“ (Foucault, 1998, S.282) heraus und hieraus entstanden die großen Staatsapparate. In der Relation zu den regionalen und spezifischen Mächten ist die Staatsmacht sekundär.

3) Die Funktion dieser spezifischen und regionalen Mächte besteht nicht im Verbot,

sie ist nicht negativ.

„Die ursprüngliche, wesentliche und dauernde Aufgabe dieser lokalen und regionalen Mächte ist in Wirklichkeit, Produzenten einer Effizienz, einer Fähigkeit zu sein, Produzenten eines Produkts.“ (Foucault, 1998, S. 282)

Foucault zeichnet die Funktionsweisen der Macht am Beispiel der Disziplinierung der Armee nach. Bei dieser Disziplinierung geht es nicht mehr um das «du sollst nicht», wesentliches Ziel ist die Verbesserung von Leistung und Produktion. Dieselbe Machttechnik lässt sich für die Werkstätten des 18. und 19. Jahrhunderts ausmachen.

„Ohne diese Werkstattdisziplin, d.h. ohne die Hierarchie, die Überwachung, ohne das Auftauchen der Vorarbeiter, ohne die chronometrische Kontrolle der Gesten wäre es nicht möglich gewesen die Arbeitsteilung zu erreichen.“ (Foucault, 1998, S. 283)

4) Diese Praktiken der Macht müssen als Technologien verstanden werden. „Diese

Machtmechanismen, diese Machtverfahren sind als Techniken zu sehen, d.h. als Verfahren, die erfunden worden sind und sich unaufhörlich weiterentwickeln.“ (Foucault, 1998, S. 283 f.)

Foucault arbeitet zwei Gruppen von Machttechnologien heraus, die er Anatomopolitik und Biopolitik nennt.

a) Anatomopolitik

Die mittelalterliche Form der Machtausübung hatte zwei Schwachpunkte. Erstens war das Netz der alten Macht zu grob, zuviel entzog sich ihrer Kontrolle. Zweitens war die Macht im wesentlichen auf Beute aus (Steuern). Sie mußte ein System erfinden, dass die Person bis in die kleinste Einzelheit kontrollierte und seinem Wesen nach nicht «räuberisch» wirkte und im ökonomischen Prozess selbst ausgeübt wurde. Dieses Kontrollsystem fand seinen Höhepunkt in den «militärischen Dressurtechniken», tauchte dann aber auch sehr früh als Disziplin-Technologie in der Erziehung auf, um dort die Überwachung aller Gesten minutiös quantitativ und qualitativ zu kontrollieren. Diese Technologie nennt Foucault eine «individualisierende» Technologie der Macht. Es ist eine Macht, die auf die Anatomie der Individuen wirkt.

b) Bio-politik

Zielt erstere Machtform noch auf die Individuen so geht es in der Bio-politik um den Gesellschaftskörper, die Bevölkerung. In der Bio-politik geht es nicht mehr um den repressiven Charakter der Macht, hier wird erkannt, dass sich die Bevölkerung als Produktionsmaschine nutzen läßt. Mit den Fragen der Bevölkerungspolitik tauchen auch die der Kontrolltechniken auf: wie können Wanderungsbewegungen, Wachstumsrate und Bevölkerungsfluß reguliert werden. Disziplinierungs- und Regulationstechnik macht das Leben zu einem Objekt der Macht.

Für Foucault ist Macht nicht nur ein Instrument der Repression. Wenn Macht nur ausschließen, zensieren, absperren und verdrängen würde, wäre sie sehr zerbrechlich. Macht ist für Foucault deshalb stark, weil sie auf der Ebene des Begehrens und des Wissens eine positive Effekte produziert. Macht ist weit davon entfernt Wissen zu verhindern, sie bringt es hervor. Über militärische und schulische Diziplinierung, die die Körper parzellieren, entsteht ein physiologisches und organisches Wissen über ihn (vgl., Foucault, 1976, S.109). Bei Foucault funktioniert Macht anonym, sie ist allgegenwärtig, erzeugt sich über jede lokale Konfrontation, ist monistisches Prinzip, welches unendlich vielgestaltige Kräfteverhältnisse beinhaltet. Sie ist nicht nur lernfähig sondern sie produziert Wissen und in den Wissensdiskurs der Humanwissenschaften sieht Foucault den Ort, an dem das neuzeitliche Subjekt konstituiert wird.

2.4 Die Konstitution des Selbst

In dem Augenblick, in dem die der rationalistischen Philosophie entspringenden modernen wissenschaftlichen Disziplinen unter der Überschrift der Humanwissenschaften sich des Menschen als Grund und Gegenstand ihrer Erkenntnis zu bemächtigen suchen - in jenem Moment droht zugleich der Mensch als jenes „Lebendige, das eine besondere Form hat (eine ziemlich spezielle Physiologie und eine fast einzigartige Autonomie)“ (Foucault; 1995, S. 422), zu entschwinden. Ein erkenntnistheoretisches Bewußtsein vom Menschen gab es vor dem Ende des 18. Jahrhunderts nicht. Es gab eine Art naturgeschichtliches Wissen über den Menschen. Der epochale Umbruch vom 18. zum 19. Jahrhundert macht den Menschen „zum Gegenstand und Produkt diskurskonstituierender Leistungen eines selbstbezüglichen Subjekts.“ (Remmers, 2000, S. 70)

Im ersten Band von „Sexualität und Wahrheit“ untersucht Foucault das Ensemble von Sozial­kontrollen, auf dem „sich die Diziplinartechniken – jenseits äußerer Gewalt- und Zwangseingriffe – als normierende Techniken wissenschaftlicher Diskurse und einer diesen Diskurslogiken eigentümlichen «inneren Einschließung» von Individuen identifizieren lassen.“ (Fink-Eitel, 1992, S. 73)

Die am Ende des 19. Jahrhunderts explosionsartig zunehmenden klinischen Wissenschaften (Medizin, Psychologie) „nehmen die Gestalt von Ordnungsdispositiven an, bei denen es sich gleichsam um machtstrategische Verknüpfungen von Diskursen und Praktiken, Wissen und Macht handelt.“ (Fink-Eitel, 1992, S. 80) Diese Verschmelzung des «Willens zur Macht» und eines «Willens zum Wissen» wird als der Grund für die durchgreifende Wirkung der humanwissenschaftlichen Diziplinarmächte angesehen. Indem beispielsweise die Sexualität zum Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse gemacht wird, werden sich Menschen überhaupt erst ihrer Sexualität durch fortlaufende «(Selbst-) Prüfungen» bewußt. So entsteht ein

„sei’s pädagogisches, sei’s ein medizinisch-psychologisches, auf Geständniszwängen be­ruhendes Kontrollwissen sowie ein kategorialer Rahmen der «Normalisierung», der es erlaubt, das spontane körperliche Ausdrucksverhalten der Menschen heteronomen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata zu unterwerfen.“ (Foucault, 1986, zit. n. Remmers 2000, S. 73)

Hier setzt Foucaults Fundamentalkritik an den modernen Humanwissenschaften an. Verwissenschaftlichung produziert und formt Sexualität um in ein wissenschaftlich denaturiertes Produkt und schafft somit eine Machtstrategie zur Diziplinierung des Körpers und des Lebens. Hinter dem Rücken handelnder Subjekte setzt sich eine regelnde Vorschrift, eine «Bio-Macht», durch. Daraus folgt für Foucault: Macht ist ontologischer Grund erkenntnistheoretischer Strukturen des Wissens, sowie praktischer Techniken. Macht nimmt in Gestalt von „institutionalisierter Diskursstrategie und sozialer Diziplinierungs- und Kontrollprozeduren“ (Remmers, 2000, S.77) formative Merkmale „einer modernen Subjektivität an, die sich gleichsam lautlos in den Mikrostrukturen sowohl des sozialen Lebens als auch der staatlichen Apparate reproduziert.“ (Remmers, 2000, S.77)

Das hat Konsequenzen für jede Form von Widerstand: „Jede Gegenmacht bewegt sich schon im Horizont der Macht, die sie bekämpft, und verwandelt sich, sobald sie siegreich ist, in einem Machtkomplex, der eine andere Gegenmacht provoziert.“ (Habermas, 1985, S.330)

In Foucaults Vorstellung vom Subjekt kann dieses nicht mehr als orginär, authentisch oder mit einem natürlichen Wesenskern versehen aufgefaßt werden.

„Man soll sich den Instinkt also nicht als eine Naturgegebenheit denken, sondern schon als etwas Ausgearbeitetes, als ein komplexes Spiel zwischen Körper und Gesetz, zwi­schen dem Körper und den kulturellen Mechanismen, die die Kontrolle über das Volk sichern.“ (Foucault, 1998, S. 276)

Das Subjekt konstituiert sich als solches erst im Gefüge von Machttechnologien und Machtpraktiken; diese produzieren erst so etwas wie ein Subjekt. Das Subjekt ist ein positiver Effekt der Macht.

2.5 Die Konstruktion von «Mütterlichkeit»

Foucaults Überlegungen zu Macht und Subjekt sind im vorhergehenden Abschnitt recht allgemein dargelegt worden. Ihre eigentliche Stoßkraft gewinnen sie, wenn man sie auf konkrete Untersuchungsgegenstände bezieht. Genau hier setzt Arnold in ihrem Aufsatz über den Zusammenhang von Krankenpflege und Macht an. Sie versucht die Verbindung des «Frauenberufes» Krankenpflege mit dem Konstrukt von Weiblichkeit und Mütterlichkeit aufzuhellen.

„Es geht mir vielmehr darum, den Zusammenhang zwischen Krankenpflege, ihrer «Weiblichkeit» und Macht von einer anderen theoretischen Perspektive zu beleuchten. Dazu werde ich auf den Begriff der Macht in bezug auf den des «Diskurses» im Zusammenhang mit Pflege eingehen; auf die «Herstellung» der modernen Krankenpflege als einem «weiblichen» Beruf;“ (Arnold, 1996, S.73)

Arnold bezieht die machttheoretischen Diskursstrategien Foucaults auf die pflegerische Problematik, die sich in der Konzeptualisierung der Krankenpflege als bürgerlicher Frauenberuf manifestiert. Sie zeigt über die Machtanalyse Foucaults den Zusammenhang von Diskurs und Macht mit dem weiblichen Aspekt der modernen Krankenpflege. Arnold beschreibt anhand der Untersuchungen von Bischoff und Gamarnikov, wie über diskursive Prozesse, «Weiblichkeitsideologien» (Bischoff) und «ideologische Operationen» (Gamarnikov) herausgebildet wurden. In den Institutionen der Krankenpflege sind die Individuen positioniert in einem Netz von Machtbeziehungen, hier wird Macht erfahren und ausgeübt, keiner ist jedoch bewußtes Ziel dieser Macht, sondern nur deren Verbindungselement. Diese Macht dehnt sich über die Körper hinaus auf die Gesten, Gefühle und Diskurse aus und konstituiert die Individuen. Der Diskurs, der im 18. und 19. Jahrhundert über den Geschlechtscharakter der bürgerlichen Frau geführt wurde, produziert gewissermaßen eine neue weibliche Realität.

[...]

Ende der Leseprobe aus 72 Seiten

Details

Titel
Machtverhältnisse in der Pflege
Untertitel
Eine Analyse
Hochschule
Alice-Salomon Hochschule Berlin  (Pflege/Pflegemanagement)
Veranstaltung
Beratungsprozesse im Pflege- und Gesundheitswesen
Note
1,7
Autor
Jahr
2004
Seiten
72
Katalognummer
V34958
ISBN (eBook)
9783638350280
ISBN (Buch)
9783638727723
Dateigröße
736 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kritische Auseinandersetzung mit konstituierender Wissenschaft in Bezug auf Menschen mit Demenz, hier vor allem mit dem personenzentierten Ansatz nach Kitwood.
Schlagworte
Analyse, Machtverhältnissen, Pflege, Beratungsprozesse, Pflege-, Gesundheitswesen
Arbeit zitieren
Henry Borchers (Autor:in), 2004, Machtverhältnisse in der Pflege, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34958

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Machtverhältnisse in der Pflege



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden