Psychodrama in der Schule. Innovative Lernprozesse für alle


Ausarbeitung, 2016

47 Seiten


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Bedingungen und Ziele psychodramatischer Bildungs- und Erziehungsarbeit
2.1 Ursprung und Kernideen des Verfahrens
2.2 Pädagogisches Psychodrama
2.2.1 Menschenbild
2.2.2 Morenos Rollentheorie
2.2.3 Theorie der Rollenentwicklung
2.3 Theorie und Ziele psychodramatischer Erziehung und Bildung
2.3.1 Spontaneität
2.3.2 Kreativität
2.4 Weitere psychodramatische Werkzeuge
2.5 Legitimation des Einsatzes psychodramatischer Handlungstechniken in der Schule
2.5.1 Institutionelle Voraussetzungen für den Einsatz psychodramatischer Methoden in der Schule
2.5.2 Die psychodramatische Lehrerinnenrolle
2.6 Vier inhaltliche Dimensionen der Szene
2.6.1 Psychodrama
2.6.2 Soziodrama
2.6.3 Soziometrie
2.6.4 Stegreifspiel
2.7 Die Instrumente des Psychodramas
2.7.1 Die Bühne
2.7.2 Der Protagonist
2.7.3 Die Gruppe
2.7.4 Das Hilfs-Ich
2.7.5 Die Leitung
2.8 Der psychodramatische Prozess
2.8.1 Erwärmung
2.8.2 Aktionsphase
2.8.3 Integrationsphase
2.8.4 Evaluation

3 Praktische Beispiele aus dem Unterricht
3.1 Persönliche Voraussetzungen bezogen auf meine Lehrtätigkeit
3.1.1 Einsatz von Aktionssoziometrie im Unterricht
3.1.2 Beispiel Spektogramm
3.1.3 Zweidimensionale Aktionssoziometrie
3.1.4 Linear unipolar
3.1.5 Linear bipolar
3.1.6 Nichtlinear
3.2 Schüler lehren Schüler - ein Rollenwechsel
3.2.1 Neues Schuljahr, neue Lerngruppe
3.2.2 Ein neuer Schüler
3.2.3 Der „Doppelgänger"
3.2.4 Rollentausch als Vorbereitung auf den Elternsprechabend
3.2.5 Gestalterin von Methodentagen - „Der innere Schweinehund“
3.3 Einsatz psychodramatischer Handlungstechniken im Fremdsprachenunterricht.
3.4 Soziodramatisches Gruppenspiel zum Geschichts-Thema: Römische Republik.
3.5 Psychodramatische Arrangements im Vertretungsunterricht

4 Fazit

5 Literatur- und Quellenverzeichnis

1 Einleitung

„Manche wollen nur den Kopf in die Schule schicken, aber immer kommt das ganze Kind!“1

Pestalozzis Aussage, welche die Forderung nach handlungsorientierten Bildungskonzepten impliziert, besitzt auch heute noch Aktualität, weil ihr an Schulen nur teilweise genüge getan wird: In den gesetzlich bestimmten Lernzielen von Bildung und Erziehung der Schule wird diese Ganzheitlichkeit zwar postuliert2, mit der Durchführung zentraler Abschlussprüfungen, in denen rein kognitives Wissen abgefragt wird, stellt der Gesetzgeber jedoch ganzheitliche Bildungsziele in Frage: Welche Rolle spielen ganzheitliche Lernprozesse, wenn während und am Ende der Schulzeit vorrangig kognitive Kompetenzen Bewertung finden? Handlungsorientierte Lehrmethoden haben - zumindest in der Schule in der ich arbeite und in denen, die ich kenne - nur unzureichend Einzug gehalten. Unterricht findet überwiegend im 45 oder 90-Minuten Takt statt, dabei wechseln - abhängig vom Fach- täglich mehrfach Lehrer und Lerngruppe. Beziehung spielt bei der Organisation von Lernprozessen einen untergeordneten Stellenwert, d.h. die Schule bietet Schülern und Lehrern wenig Zeit und wenig Raum um Beziehungen zu entwickeln.3

Das Schulklima an „meiner“ Schule ist häufig von Zeitnot und Beziehungslosigkeit geprägt, dies erschwert respektvollen Umgang, fördert Disziplinlosigkeit und Gewaltbereitschaft (vgl. heute-sendung, 16.11.2016). Die Zunahme seelischer Erkrankungen auf beiden Seiten4 zeigt, wie stark Schüler und Lehrer betroffen sind: Schüler entwickeln Verhaltensauffälligkeiten oder verweigern den Schulbesuch, Lehrer werden krank oder lassen sich früh pensionieren - die Zunahme an Burn-Out-Erkrankungen unter Lehrern in den letzten Jahren ist erschreckend.5 Meine Ausführungen werden den innovativen Beitrag darstellen, welchen das Psychodrama in der gegenwärtigen Lehr- und Lernsituation an Regelschulen leisten kann. Ich behaupte, dass Morenos Kombination aus Beziehungs- und Handlungskonzept sehr geeignet ist, Schülerinnen und Schülern von heute sowohl selbsttätige als auch nachhaltige Lehr- und Lernprozesse zu ermöglichen. An Beispielen aus dem Unterricht möchte ich verdeutlichen, wo und wie psychodramatische Handlungstechniken in der Schule konkret Anwendung finden können. Ich verdeutliche anhand von Beispielen, welchen Schatz das Vermächtnis J.L. Morenos für Schülerinnen und Schüler und für Lehrer darstellen kann und hoffe, dass zukünftig mehr Pädagogen diesen Schatz heben werden. Hervorheben möchte ich, dass meine psychodramatische Identität mich im selbstreflexiven Prozess über meine unterrichtende Tätigkeit hinaus unterstützt und mir hilft, den Alltag und die vielfältigen Rollenanforderungen, die an mich als Lehrerin gestellt werden, so zu gestalten, dass ich meinen Beruf gerne ausübe und dass ich meinem professionellen Anspruch gerecht werden kann. Im Zentrum meiner Betrachtungen stehen die schulischen Formate Unterricht, Beratung und soziales Lernen. Im ersten Kapitel stelle ich den Ursprung und die Kernideen des Psychodramas vor, welche das Verständnis der sich anschließend beschriebenen pädagogischen Haltung Morenos vor entlasten sollen. Hier wird deutlich, dass das Psychodrama einen handlungsorientierten Ansatz darstellt, wobei Moreno die Bedeutung von Beziehung für das Lernen hervorhebt. Sein Beziehungs- und Handlungskonzept rekurrieren auf dessen Menschenbild, welches im nächsten Kapitel erörtert wird. Für das Verständnis seiner Haltung ist die von ihm entwickelte Rollentheorie (Empathiefähigkeit und Perspektivenübernahme) von entscheidender Bedeutung, auch weil sie zentrales Element für den praktischen Einsatz des Verfahrens darstellt. Einzelne psychodramatische Techniken möchte ich im 2. Kapitel auf deren Bedeutung für die Entwicklungspsychologie untersuchen. Diese Beispiele werden verdeutlichen, auf welche Weise der Einsatz psychodramatischer Methoden in der Schule nachhaltige Lernprozesse anbahnen und Selbstwirksamkeit bei Schülern entwickeln hilft. Deren theoretische Basis bilden die vorab beschriebenen Prozesse und Werkzeuge sowie die Wirkfaktoren des Psychodramas. Ich reflektiere deren Bedeutung darüber hinaus im Rahmen der curricularen Erziehungs- und Bildungsziele, als auch auf dem Hintergrund von neuesten Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie und der Gehirnforschung. Eine besondere Bedeutung misst Moreno der Entwicklung von Empathie- und der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel bei.

Seine theoretischen Konzepte bilden die Grundlage für meine -vom Psychodrama geprägte- Haltung als Lehrerin. Dies an dieser Stelle hervorzuheben ist mir besonders wichtig, weil der Einsatz psychodramatischer Techniken losgelöst von dem tieferen Verständnis der Methode auch Gefahren und Grenzen der Anwendung birgt, auf die ich abschließend hinweisen werde.

2 Bedingungen und Ziele psychodramatischer Bildungs- und Erziehungsarbeit

2.1 Ursprung und Kernideen des Verfahrens

Das Psychodrama wurde von dem Arzt, Psychiater und Philosoph J.L. Moreno (1889 - 1974) in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts entwickelt und ist Bestandteil der Trias Psychodrama, Gruppenpsychotherapie und Soziometrie (vgl. Ameln u.a., 2007, S. 5). Für ihn war das Psychodrama nicht nur therapeutisches Handwerkszeug, sondern Teil eines übergreifenden Systems zur Analyse und Veränderung von Individuen und sozialen Systemen (vgl. Ameln u.a., 2004, S. 31). Sein Denken und Handeln beginnt stets mit der Wahrnehmung von Szenen, welche für ihn die Bezugsgrößen darstellen, in denen alle relevanten Stränge zusammenlaufen (vgl. Hutter/Schwehm, 2009, S. 23).

Moreno sieht den Menschen als grundlegend soziales Wesen, das nicht unabhängig von seinen Beziehungen betrachtet werden kann. Für ihn ist „nicht das Individuum, sondern das soziale Atom die kleinste Einheit“ (Moreno, 1981, S. 93, zit. nach Ameln u.a., 2004, S. 34), das bedeutet im Sinne der Systemtheorie, dass der Mensch nicht unabhängig von seiner Sozialität betrachtet werden kann (vgl. Ameln u.a., 2005, S. 213). Das Psychodrama als humanistisches Verfahren glaubt an die Fähigkeit des Menschen zu einer selbstbestimmten Weiterentwicklung seiner selbst (vgl. Anzieu, 1984, S. 19). Zentral für die psychodramatische Arbeit ist Morenos Rollentheorie, welche menschliches Handeln immer an Rollen gebunden versteht (vgl. Yablonsky, 1976, 126ff.). Für ihn ist der Rollenbegriff ein sozialer, da Rollen immer Bestandteile und Analyseeinheiten eines ineinander verschränkten Interaktionszusammenhangs sind (vgl. Ameln,u.a., 2005, S.217). Das Psychodrama betont die spontan kreativ-gestalterischen und sozialen Potenziale des Menschen sowie die Möglichkeit zu einer bewussten, verantwortungsvolleren und menschlicheren Gestaltung des Gemeinwesens (vgl. Yablonsky, 1976, 215ff.).

Ziel psychodramatischer Arbeit ist immer die Aktivierung und Integration von Spontaneität und Kreativität, die daran sichtbar wird, dass Menschen für neue oder bereits bekannte Situationen angemessene Reaktionen finden (vgl. Schacht, 2010, S. 67 f.). Das psychodramatische Grundprinzip ist die szenische Umsetzung der immateriellen Bedeutung tragenden Sinngehalte des Teilnehmers (-systems) Erwartungen, Emotionen, Beziehungen) in ein materielles Bühnenarrangement mit Hilfe dramaturgischer Mittel (z.b. Bühne, Requisiten, Mitspieler). Die symbolischen Elemente des entstehenden Erlebensraumes, der sogenannten „Surplus reality“, können von den Teilnehmern - unterstützt durch bestimmte psychodramatische Techniken - auf handelnde Weise exploriert und umgestaltet werden, so dass neue Bedeutungsgehalte konstruiert, neue Handlungsimpulse entwickelt und neue Handlungsweisen erprobt werden können (vgl. Hutter/Schwehm, 2009, S. 135). Der psychodramatische Prozess gestaltet sich in fünf Phasen (vgl. Kap. 2.8).

2.2 Pädagogisches Psychodrama

In Abgrenzung zum Psychodrama im therapeutischen Kontext, wird die Anwendung psychodramatischer Techniken in den Formaten der Bildung und Erziehung stets auf dem Hintergrund des jeweiligen Erziehungs- und Bildungsauftrages verstanden. Dies bedeutet, dass in der Schule eine psychotherapeutisch verstandene Psychodrama-Konzeption keine Anwendung findet, weil es keinen Auftrag hierfür gibt. Biografische Erfahrungen werden in der Schule weder im Unterricht - noch in anderen schulischen Formaten aufgearbeitet (vgl. Petzold, 1972, S. 242 ff).

2.2.1 Menschenbild

Moreno sieht den Menschen von Anfang an als soziales Wesen (vgl. Ameln u.a. 2005, S. 124) und Kreator (vgl. Hutter 2011, S. 7). Beziehungen sind der Antrieb und Motor für seine persönlichen Entwicklungen. Morenos Blick auf den Menschen ist von Optimismus und Respekt geprägt (vgl. ebd.) und er nimmt ihn in seiner Ganzheit wahr: in seiner leiblichen, psychischen, seelisch-geistigen sowie körperlich-emotionalen Erscheinung. Der Mensch verfügt über das Potenzial, seine persönliche Entwicklung zu steuern und Selbstheilungskräfte zu aktivieren, weil er den Schlüssel für die Lösung seiner Probleme „in sich“ trägt (vgl. Ameln 2005, S. 125). Im Mittelpunkt der Anthropologie Morenos steht, dass der Mensch von Geburt an beziehungs- und lebenshungrig ist (vgl. Hutter, 2011, S. 7). Der Mensch kann nur lebendig sein, wenn er der „einsamen Nacht“ reale Beziehungen gegenüberstellen kann, sonst droht ihm der soziale Tod (vgl. Moreno, 1947a, S. 94ff.). Der Mensch lebt, handelt und erfährt sich stets in vielfältigen Rollenkonstellationen (vgl. Kap.1.2.2).

Dabei ist die Matrix des Lebens eine Handlungsmatrix, denn die Handlung ist jener Modus, in dem das Kind mit der Welt in Austausch treten kann (Hutter, 2011, S. 8). Diese menschliche Grunddisposition bleibt ein Leben lang bestimmend (vgl. Hutter, 2000, S. 52). Bindung und Wachstum sind zwei Grundbedürfnisse des Menschen (Grossmann, 2001, S.33). Sie sind getrennte, aber eng aufeinander verwiesene Verhaltensysteme (vgl. Grossmann, 2001, S.34f.).

2.2.2 Morenos Rollentheorie

Für Moreno ist die soziale Natur des Menschen konstitutiv für dessen Existenz, sein Wesen und sein Handeln müssen daher vornehmlich in sozialen Kategorien beschrieben werden (vgl. Ameln, u.a., 2005, S. 216). Alles psychodramatische Handeln ist an Rollen gebunden (vgl. ebd). Menschliches Handeln lässt sich aus der Wechselwirkung der jeweils individuell gereiften psychosomatischen, psychodramatischen und soziodramatischen Rollenebenen verstehen (vgl. Schacht, 2010, S. 28). Jede menschliche Verhaltensweise ergibt sich aus dem simultanen -mehr oder weniger integrierten- Wechselspiel aller Ebenen (ebd.).6

„Rollen entstehen nicht aus dem Selbst, sondern das Selbst kann sich aus den Rollen entwickeln.“ (Moreno 1982b, S. 280)

Dies bedeutet, dass die verschiedenen, jeweils individuell ausgestalteten Rollen, die ein Mensch spielt (Bürgermeister, Vater, Bruder, etc…), zusammen fließen und gemeinsam das Selbst der Person bilden (vgl. Zeintlinger-Hochreiter, 1996, S. 131). Wenn das Individuum mit anderen in Kontakt tritt, geschieht dies immer über eine in der jeweiligen Situation aktualisierte Rolle, d.h. der Rollenbegriff ist kein individualistischer sondern immer sozial (vgl. von Ameln u.a., 2005, S. 217). An jede Rolle knüpfen sich kollektive Erwartungen, welche Normen für Handlungen zu sein scheinen. Rollen haben somit mehr oder weniger starke Handlungsvorschriften. Je weniger genormt eine Rolle ist, umso größer der Gestaltungsspielraum, welcher dem Individuum zur Verfügung steht (vgl. von Ameln u.a. 2005, S. 217). Menschen nehmen immer Rollen bzw. Komplementärrollen ein (Mutter-Kind, Lehrer-Schüler, Täter-Opfer, Vorgesetzte-Untergebene, etc.). Wird die Komplementärrolle nicht eingenommen, d.h. reagiert ein Beteiligter im Rahmen der Interaktion nicht gemäß der ihm zugehörigen Rolle, entsteht Konfusion (z.b. wenn im Rahmen einer Verkaufsaktion ein Beteiligter die Arztrolle übernähme). Adäquates soziales Handeln setzt somit die Kenntnis und Beherrschung der betreffenden Rollen und Komplementärrollen voraus, was bedeutet, dass jeder Mensch eine bestimmte Anzahl von Rollen und Gesichtern und eine Anzahl von Gegenrollen hat (vgl. von Ameln u.a. 2005, S. 217). Die Entfaltung der Persönlichkeit gelingt über das Handeln. Dabei kann die Rolle als Manifestation der Persönlichkeit in der Handlung gesehen werden (vgl. Zeintlinger-Hochreiter 1992, S. 128).

Moreno beschreibt in diesem Sinne das Selbst als ein System aus über-, und untergeordneten, dominanten und weniger dominanten Rollen (vgl. Zeintlinger-Hochreither, 1996, S. 131). Diese sind eng mit der Persönlichkeit eines Menschen verbunden und entstehen biografisch aus der Beziehung zu anderen (soziales Atom7 ), weil er in bestimmten Situationen gezwungen war (ist) in bestimmter Weise (bewusst oder unbewusst) zu handeln. Rollenmuster sind in diesem Sinne eine Fusion privater und kollektiver Elemente (Moreno, 1982, S. 298). Für Moreno ist wichtig zu sagen, dass der Mensch seine Rollen gestalten kann. Das Psychodrama regt den Menschen an, mit diesen Rollen zu spielen, zu schauen wie groß der persönliche Gestaltungsspielraum ist: Dabei bewegt sich das Spiel zwischen den beiden folgenden Polen:

Role Taking: Ich nehme an, was die/der Andere mir an Erwartungen entgegenbringt

Role Creating: Ich tue das, was und wie ich selber möchte (Hutter & Schwehm, 2009, S. 309f.). Handlungsmuster, die der Mensch im Laufe seines Lebens erwirbt, sind dafür verantwortlich, dass Handlungen sich wiederholen. Moreno spricht von Rollenkonserven: Handlungen, die in einer bestimmten Situation erfolgreich und sinnvoll waren, um Herausforderungen zu meistern, die jedoch nicht auf alle Situationen des Lebens übertragbar sind. Diese sollten entwickelt werden, um adäquates Handeln zu ermöglichen (vgl. Fürst, 2016).

2.2.3 Theorie der Rollenentwicklung

Moreno betrachtet die kindliche Entwicklung als aufeinander aufbauende Entwicklung verschiedener Rollenkategorien. Er konzipiert seine Entwicklungstheorie der Persönlichkeit als Theorie der Rollenentwicklung über drei Stufen hinweg, wobei Schacht die soziodramatische Entwicklungsstufe in drei Niveaus differenziert (vgl. Schacht, 2010, S. 32). Aus der im Folgenden erläuterten Rollenentwicklungstheorie leiten sich die zentralen psychodramatischen Handlungstechniken (Doppel, Rollentausch, Spiegel) ab (vgl. Ameln u.a., 2005, S. 216). Schacht erläutert drei Ebenen der Rollenentwicklung und entwirft das Bild einer entwicklungspsychologischen Schichttorte, welche die drei menschlichen Entwicklungsstufen / Rollenebenen (vgl. Abb.1, S. 10) zwar aufeinander folgend, jedoch für die Identität des Menschen lebenslang miteinander verbunden und voneinander abhängig darstellt (vgl. Schacht, 2010, S. 28). Er stellt fest, dass alle Handlungskompetenzen, die im Verlauf der Entwicklung erworben wurden, lebenslang bedeutsam bleiben (vgl. ebd., S. 37). Auf der psychosomatischen Ebene8 (bis 15./18. Lebensmonat) ist es dem Kind nicht möglich einen Rollenwechsel oder Rollentausch zu vollziehen, aber in dieser Phase wird die Kompetenz entwickelt, sich affektiv auf das Erleben des Anderen einzuschwingen. Außerdem entwickelt der Mensch in dieser Zeit Kompetenzen zur Emotions- und Spannungsregulation (vgl. ebd., S. 29). Nur wenn der Mensch die Affekte, die das Erleben des Anderen im eigenen Selbst auslöst, aushalten und regulieren kann, wird er zu einem späteren Zeitpunkt mit diesem fühlen können (sympathetic distress) (vgl. ebd.). Auf der psychodramatischen Rollenebene (bis 4./6. Jahre) kann sich das Kind mit Hilfe kognitiver Perspektivenübernahme in die Lage einer anderen Person versetzen, aber in dieser Phase ist es noch auf Bezugspersonen angewiesen, die ihm das Erleben anderer vermitteln (vgl. Schacht, 2010, S. 30). Den Möglichkeiten zum Rollenwechsel sind auf der psychodramatischen Ebene durch „copy theory of mind“9 Grenzen gesetzt, Rollentausch ist noch nicht möglich (vgl. ebd.). Diese zentrale Kompetenz entwickelt das Kind im Allgemeinen erst auf der soziodramatischen Rollenebene, im Alter von ca. 5-10 Jahren. Schacht differenziert diese Ebene noch einmal in drei Entwicklungsniveaus, wobei das Kind auf dem ersten Entwicklungsniveau dieser Phase begreift, dass eigene Ansichten und Gefühle subjektiv sind (vgl. ebd.). Im Verbund mit dem erweiterten Wissenskonzept verbessern sich dadurch die Kompetenzen zur Durchführung des inneren Rollenwechsels. In dieser Phase bleibt jedoch das Verständnis von Konflikten einseitig: Eine einzige Perspektive bestimmt das Erleben (vgl. Schacht, 2010, S. 31). Auf der zweiten Stufe des Entwicklungsniveaus, die 10-15 Jahre alte Menschen beschreibt, gelingt im Allgemeinen die selbstreflexive reziproke Perspektivübernahme („ich“ sehe „mich“ durch „deine“ Augen). Im Wissen, dass „wir uns“ wechselseitig in die Lage des Anderen versetzen, führen „wir“ einen inneren Rollentausch durch (vgl. Schacht, 2010, S. 31). Mit dieser Fähigkeit wird Intimität möglich (ebd., S. 32). Menschen, die das dritte soziodramatische Niveau (15-20 Jahre) erreichen, sind in der Lage sich selbst und andere aus der Sicht eines unparteiischen Dritten, einer „neutralen“ Perspektive zu sehen. Nicht alle Menschen erreichen dieses Entwicklungsniveau (vgl. Schacht, 2010, S. 32).

2.2.3.1 Förderung von Empathie und Perspektivenübernahme durch psychodramatische Handlungstechniken

Mit den Rollenebenen sind zentrale Psychodramatechniken verbunden (vgl. Schwinger 1999a, S. 6). Diese fördern die Fähigkeit zur Empathie und Perspektivübernahme (vgl. ebd., S. 7). Die im Folgenden dargestellten wichtigsten Techniken dienen als Werkzeuge zur Entwicklung kompetenter Interaktion und Selbstentwicklung (vgl. ebd.). Als Kernpunkt von reflexiver Interaktion und reflexivem Selbst wird die Fähigkeit des Individuums zum Rollentausch gesehen. Alle anderen Techniken unterstützen diese Entwicklung und bilden das Fundament für o.g. Handlungskompetenzen (vgl. Schwinger 1999a, s. 7), demzufolge kann ein Mensch -falls er (noch) nicht zu einem bestimmten Entwicklungsschritt fähig ist, zu einem früheren Schritt zurückkehren um die hier zu entwickelnden Fähigkeiten zu trainieren (vgl. ebd., S. 8).

2.2.3.2 Die Technik des Doppelns

Die Technik des Doppelns verweist auf die erste Phase der frühkindlichen Rollenentwicklung, in der sich das Kind noch nicht von der Umwelt und der Mutter unterschieden erlebt (vgl. Ameln u.a., 2005, S. 75). Die Doppeltechnik hilft dem Protagonisten die Beziehung zu sich selbst wieder herzustellen (Krüger 1997, zit. nach Ameln 2005, S. 75) und bei der Verbalisierung präverbaler Erlebnisse und Emotionen (vgl. Lousada 1998, S. 222). Die Anwendung der Doppeltechnik ist bei Ich-schwachen Personen zu vermeiden, da die Doppeltechnik in der kindlichen Entwicklung mit der All-Identität korresponsiert (vgl. Binswanger 1977, S. 46f.).

Die Doppeltechnik wird im Psychodrama eingesetzt, um

- die Protagonistin emotional zu stützen und ihr zu vermitteln, dass andere Verständnis für ihre Situation haben,
- die Protagonistin zur Selbstexploration anzuregen und ihre Wahrnehmung auf „blinde Flecken“ zu richten,
- verschiedene Persönlichkeitsanteile der Protagonistin herauszuarbeiten,
- Menschen mit schweren strukturellen Defiziten zu stützen,
- Patienten mit Kontaktstörungen den Zugang zum therapeutischen Raum der Gruppe zu eröffnen,
- Widerstände und Abwehrhaltungen aufzulösen (vgl. Ameln u.a. 2005, S. 75).

Abb. 1: Überblick über die Rollenebenen (vgl. Schacht 2010, S. 24)und Techniken (vgl Schwinger 1999b, S. 8)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.2.3.3 Die Spiegeltechnik

Die psychodramatische Spiegeltechnik nutzt den Erkenntnisgewinn, der durch die Fähigkeit ermöglicht wird, welche auf das Ende der psychosomatischen Rollenebene rekurriert. Hier beginnt das Kind seine Wahrnehmung von sich im Gegensatz zur Umwelt auszudifferenzieren, es beginnt sich nun im Spiegel zu erkennen (vgl. Leutz 1974, zit. nach Ameln u.a. 2005, S. 81).

Die Spiegeltechnik dient als Mittel zur Aufhebung von Abwehr durch Verleugnung:

„Das Spiegeln im Rollentausch und das szenische Spiegeln heben spezifisch die Verleugnung auf und führen zur Realitätserkenntnis über sich selbst, in dem sie den Protagonisten die Diskrepanz zwischen seinem inneren Selbstbild und seinem realen Verhalten wahrnehmen lassen.“ (Krüger 1997, S. 157f.)

Mithilfe der Spiegeltechnik kann der Protagonist erkennen, dass Schwierigkeiten in der Interaktion, die er anderen Personen zugeschrieben hat, auch auf sein eigenes Verhalten zurückzuführen sind (vgl. Ameln u.a. 2005, S. 81).

2.2.3.4 Die Technik des Rollenwechsels/ Rollentauschs

Dies ist die wichtigste Technik des Psychodramas (vgl. Ameln u.a. 2005, S.65).

Der Rollentausch erlaubt dem Menschen die - nach Morenos Rollenentwicklungstheorie- in einer früheren Phase stattgefundene Spaltung von seiner Mutter, zu überwinden (vgl. Ameln u.a. 2005, s. 70). Als psychodramatische Handlungstechnik vollzieht der Rollentausch auf reiferem Niveau diese Funktion nach. Für die Anwendung im psychodramatischen Setting bedeutsam sind folgende Ziele des Rollentauschs:

- dem Hilfs-Ich, der Gruppe und dem Leiter die Einfühlung in eine neu eingeführte Rolle zu ermöglichen,
- dem Hilfs-Ich im Handlungsverlauf Informationen zu geben, die es für das Ausfüllen der Rolle braucht,
- Empathie und Verständnis der Protagonistin für ihre Interaktionspartner zu erhöhen,
- der Protagonistin ein Feedback über ihr eigenes Verhalten zu geben,
- die Bedeutung von Symbolen, inneren Anteilen und anderen symbolischen Rollen zu erforschen,
- Abwehrhaltungen der Protagonistin und festgefahrene Situationen durch einen Perspektivenwechsel aufzulockern und
- das Zusammenspiel im Rollenverhalten der Beteiligten zu erkennen und neu zu gestalten (vgl. Ameln u.a. 2005, S. 70).

Die Grenzen der Anwendung sind mit seiner Wirkung verbunden. Da sein Einsatz zu tiefem Erleben führt, was in bestimmten Formaten nicht dem Auftrag entspricht, sollte die Verwendung stets abgewogen werden (ebd., S. 71).

2.3 Theorie und Ziele psychodramatischer Erziehung und Bildung

Den Kern der Moreno’schen Pädagogik bildet das Konzept der Begegnung (vgl. Hutter 2000, S. 87f.). Er geht davon aus, dass es sinnlos ist, den Menschen losgelöst von seinen Bindungen zu sehen, weil kathartische Lernprozesse aus der Interaktion zwischen Mitgliedern einer Gruppe resultieren (vgl. Moreno 1959, S. 57). Lernen ist für Moreno ein gemeinsam hervorgebrachter Prozess, gerade in der Verschiedenheit der Gruppenmitglieder liegt deren Potenzial (vgl. Hutter, 2011, S. 18). Beziehungserfahrungen sind notwendig, damit Erziehung stattfinden kann. Sie sind das Fluidum, das benötigt wird, damit Erziehung sich abspielen kann (vgl. Hutter, 2011, S.8). Die in der Beziehung wirksame Interaktion vollzieht sich vor allem im Handeln. Handeln ist für die menschliche Entwicklung konstitutiv (vgl. Ameln u.a., 2005, S. 377) und findet stets als Rollenhandeln statt (vgl. Kap. 2.2). Erfahrungen sind eng mit Handlungen verbunden, sie sind körperlich und werden körperlich gespeichert. Am meisten lernen wir über das Handeln, über das Tun.10 Der Handlungswille wird als menschliche Grunddisposition angesehen: Moreno spricht in diesem Zusammenhang vom „Aktionshunger“, der jedem Menschen zu Eigen ist und der die Bestrebung menschlicher Individuen bezeichnet, ins Handeln kommen zu wollen und zu gestalten (vgl. Hutter/Schwehm, 2009, S. 115f.). Der Mensch will spontan und kreativ handelnd wirksam werden (vgl. Schacht 2010, S. 44). Diese Bedürfnisse zu wecken und zu steigern, sieht Moreno als Hauptaufgabe von Erziehung und Lehre (vgl. Moreno, 1974, S.

[...]


1 Pestalozzi, 1819, S. 64

2 Vgl. Konzeption der kmk zur Nutzung der Bildungsstandards, 2009, S. 10

3 Vgl. Ruedi, 2008, S. 104

4 Vgl. Deutsches Ärzteblatt, 2015

5 Vgl. Kühnel, 2007

6 Siehe Kapitel „Theorie der Rollenentwicklung“

7 Beziehungsnetz eines Menschen: Die kleinste Einheit an Menschen, die das Individuum umgeben, und zu denen es in emotionaler Verbindung steht, die es gesteltet und von denen es gestaltet wird (vgl. Fürst 2016).

8 Wie bei allen anderen hier erläuterten Rollenebenen, variiert das Alter des Eintritts in eine Phase individuell.

9 Bezeichnet die Fähigkeit, eine Annahme über Bewusstseinsvorgänge in anderen Personen vorzunehmen und diese in der eigenen Person zu erkennen, also Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, Absichten, Erwartungen und Meinungen zu vermuten (vgl. Resch 1999).

10 Vgl. Spitzer 2002, S. 171, Hentig 2010, S. 14, Hüther 2009, S. 19

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Details

Titel
Psychodrama in der Schule. Innovative Lernprozesse für alle
Veranstaltung
Abschlussarbeit im Rahmen der Weiterbildung Psychodrama Leitung
Autor
Jahr
2016
Seiten
47
Katalognummer
V346901
ISBN (eBook)
9783668377042
ISBN (Buch)
9783668377059
Dateigröße
728 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lebendiges Lernen, Beziehung im Unterricht, Psychodrama in der Schule, Handlungsorientierung, Innovatives Lernen, Lernen durch Szenen, Lernende Schule, Moreno'sche Pädagogik, Skulptur, darstellendes Spiel und Schule, Rollentausch
Arbeit zitieren
Bettina Haus (Autor:in), 2016, Psychodrama in der Schule. Innovative Lernprozesse für alle, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/346901

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