Holocaust-Forschung zwischen Medien und Moral. Die Goldhagen-Debatte in Deutschland 1996/97

Inhalt und Wirkungsgrad eines öffentlichen Geschichtsdiskurses


Bachelorarbeit, 2013

35 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hitlers willige Vollstrecker
2.1 Goldhagens Thesen
2.2 Untersuchungsrahmen und methodischer Ansatz

3. Die fachwissenschaftliche Kritik an Goldhagens Studie

4. Die Goldhagen-Debatte in Deutschland

5. Meinungsmacher: die ZEIT
5.1 Die Wirkungsmacht der ZEIT

6. Fazit

7. Quellen

8. Literatur

9. Anhang

1. Einleitung

Im Jahr 1996, gut ein Jahr nach den feierlichen Gedenkveranstaltungen zum 50. Jahrestag der Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945, erschien das Buch „ Hitlers willige Vollstrecker “ auf dem deutschen Buchmarkt. Sein Autor, Daniel Jonah Goldhagen[1] kündigte darin an, er wolle erklären „ wie es zum Holocaust kommen konnte.“[2] An dem Buch und um das darin behandelte Thema sollte sich eine Kontroverse entfachen, die unter massivem Einsatz medialer Vermittlung und einer emotionalen Vehemenz geführt wurde wie keine geschichtswissenschaftliche Debatte in der Geschichte der Bundesrepublik zuvor. Dabei waren es weniger die Thesen selbst, die die Grundlage der in der Öffentlichkeit stattfindenden Debatte bildeten. Vielmehr war es die „ Radikalität[3], mit welcher der Autor eine totale Revision der bestehenden Holocaust-Forschung anstrebte. Dieser Anspruch lenkte besonders das Interesse von Vertretern der Medien auf das Buch und brachte dem Autor zudem oftmals eine ablehnende Haltung durch die Vertreter der historischen Zunft ein.

Geschichtswissenschaftliche Debatten stellten zu dem Zeitpunkt kein Novum in der Bundesrepublik dar. Zu Beginn der 1960er Jahre hatte der Historiker Fritz Fischer mit seinem Buch „Griff nach der Weltmacht“ eine solche ausgelöst. Fischer behauptete damals nicht weniger als die deutsche Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Mit dieser seiner Behauptung hatte Fischer in der damaligen Zeit ein Tabu gebrochen. Es war die Zeit der Auschwitz-Prozesse, die eigene Existenz stand noch direkt im Schatten der NS-Vergangenheit. In der damals herrschenden Vorstellung der deutschen Geschichte bildete die konservative Vorstellung, dass Deutschland nicht die Alleinschuld am ersten Weltkrieg traf, einen wichtigen Faktor, der es erlaubte, über die schrecklichen Erinnerungen an das „Dritte Reich“ hinweg eine Kontinuität der eigenen Identität mit einer unbelasteten Geschichte des deutschen Volkes herzustellen. Damit, dass er diese Vorstellung zu zerstören anhob, stieß Fischer auf heftigen Widerstand bei vielen seiner Kollegen, in der Öffentlichkeit und bei Politikern. Die Fischer-Kontroverse weitete sich in ihrem Verlauf zu einem Politikum aus. Bundeskanzler Ludwig Erhard verwarf die Thesen Fischers öffentlich. Bundespräsident Eugen Gerstenmaier warnte gar vor einem „ Verlust des Nationalbewußtseins “.[4]

Gut zwanzig Jahre später stritten die Historiker in Deutschland erneut. Im Zentrum stand diesmal eine Behauptung Ernst Noltes. Dieser versuchte den Holocaust zu erklären, indem er ihn als eine Reaktion des NS-Regimes auf die stalinistische Verfolgungspraxis in der Sowjetunion darstellte. An dieser These erregte sich der Unmut von Historikern und Publizisten, die den Holocaust als ein singuläres Phänomen ansahen. Daher verboten sich in ihren Augen jedwede Versuche einer Relativierung dieses integralen Teils der deutschen Geschichte. Die Befürworter Noltes sahen durch eine solche Tabuisierung die freiheitliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte gefährdet.[5] Beide Kontroversen können als Marksteine der Geschichtswissenschaft und besonders der Geschichtspolitik innerhalb der deutschen Nachkriegsgeschichte angesehen werden. In ihrer Folge kam es jeweils zu einem Umdenken im wissenschaftlichen Umgang mit der Zeitgeschichte. In der Folge des Historikerstreits von 1986/87 begannen sich die deutschen Historiker dem Phänomen Holocaust verstärkt zuzuwenden.[6] Wie ist nun die Debatte um das Buch von Daniel Jonah Goldhagen in dieser Streitkultur in Deutschland zu verorten? In der publizistischen Darstellung von Buch und Autor wurden 1996 schon früh Parallelen zu den beiden oben genannten Debatten gezogen. Aber waren diese auch gerechtfertigt?

In den folgenden zwei Kapiteln soll zunächst ein Überblick über die von Goldhagen in „Hitlers willige Vollstrecker“ präsentierten Kernaussagen gegeben werden. Bei diesem Überblick werde ich mich auf den Anteil beschränken, der mir für das Verständnis der Debatte um das Buch und der in ihr vertretenen Positionen wichtig erscheint. Welches waren die von Goldhagen präsentierten Thesen? Welchen Untersuchungsrahmen wählte er und welcher methodischen Zugänge bediente sich der Autor, um seine Thesen im gewählten Rahmen zu beweisen? Daran anschließend werde ich die Stimmen der Kritiker zusammenfassend darstellen. Dabei wird auf die Beiträge von Nicht-Historikern, von denen im Verlauf der Debatte in den deutschen Medien zahlreiche zu hören und zu lesen waren, bewusst verzichtet werden. Denn zunächst soll eine Einschätzung des wissenschaftlichen Gehalts von Goldhagens Buch mittels der fachwissenschaftlichen Kritikerstimmen angestrebt werden. Nachdem der Inhalt des Buches und die von Goldhagen darin präsentierten Ergebnisse einer solchen Überprüfung unterzogen worden sind, wende ich mich der eigentlichen Debatte um das Buch zu. Hier werden dann auch die Nicht-Historiker zu Wort kommen. Immerhin machten deren Stimmen einen gewichtigen Teil der in Deutschland zu diesem Thema veröffentlichten Artikel aus. Mehr noch, der publizistische Tenor war ausschlaggebend für Verlauf und Wirkung der gesamten Debatte. An dieser Stelle wird zudem deutlich werden, wie sich die Stimmen von Historikern einerseits und Publizisten/Journalisten andererseits, die im Verlauf der Debatte zu hören waren, in ihrem Ton unterschieden. Während erstere sich in einer Situation wiederfanden, die ihrer Kontrolle vollkommen entzogen war, bewegten sich letztere ganz in ihrem Element. Obwohl rückbetrachtend als zeitgeschichtliche Kontroverse eingeordnet, lässt sich an der Debatte um Goldhagen und sein Buch zeigen, dass sie mit den o. g. Geschichtsdebatten nicht direkt zu vergleichen ist. Allein die Wirkungsmacht der Medien stellte eine bedeutende Zäsur dar, die eine neue Qualität solcher Auseinandersetzungen um die Geschichte aufzeigte. Daher soll in diesem Teil der Arbeit danach gefragt werden, welche Rolle insbesondere die Wochenzeitschrift Die ZEIT bei der Vermittlung der Inhalte der Goldhagen-Debatte spielte. War sie nur ein Sprachrohr der Wissenschaft oder konnte sie Einfluss auf Themen und Diskutanten nehmen? Als Grundlage der Untersuchung dienen besonders die Artikel Volker Ullrichs, Ressortleiter „Politisches Buch“ der ZEIT. An dessen Veröffentlichungen lässt sich ablesen, wie sehr diese Debatte den darin gegebenen Impulsen folgte. Zur Darstellung der öffentlichen Wirkung der Diskussion um Goldhagen wird zudem das Fernsehen als Medium mit in die Betrachtung einbezogen. Zum Schluss soll eine Einschätzung dahingehend versucht werden, was von der Debatte blieb. Hatte die Kontroverse Auswirkungen auf die wissenschaftliche Landschaft?

2. Hitlers willige Vollstrecker

Zunächst einmal sollte festgehalten werden, dass[7] eine Studie zum Gegenstand der Beteiligung „normaler Deutscher“ am Holocaust kurz vor dem Jahrtausendwechsel durchaus zu erwarten gewesen war. Im „Kielwasser“ des Historikerstreits der Jahre 1986/87 wurde sich von der Unantastbarkeit des singulären Ereignisses Holocaust verabschiedet. Neue Ansätze der historischen Forschung brachen sich Bahn. So entwickelten Götz Aly und Susanne Heim in ihrem 1991 erschienenen Buch „ Vordenker der Vernichtung[8] das Bild eines kausalen Zusammenhangs zwischen den Siedlungsplänen im deutschen Reich und der später folgenden Massenvernichtung jüdischen Lebens. Die darin als Tätergruppe identifizierten Vordenker waren hier Wissenschaftler und Ingenieure verschiedenster Fachrichtungen, welche diese Pläne entwarfen, ihre Umsetzung begleiteten und sie auch ausführten. Sie fungierten quasi als mittelbare Täter des Holocaust. Ein in andere Richtung zielendes Projekt, das ich als Indikator der Forschungstrends Anfang/Mitte der 1990er Jahre anführen möchte, ist ein von Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann 1995 vorgelegter Band über die Handlungsmöglichkeiten und -wirklichkeit der Gestapo.[9] Hierin, wie schon in einem Aufsatz zwei Jahre zuvor[10], warfen die Autoren die Frage auf, wie es um die „Allmacht“ der Gestapo im „Dritten Reich“ bestellt gewesen war. Dabei kommen die Beiträge zu einem erstaunlichen Ergebnis. Die Untersuchungen vermochten zu zeigen, dass die Personaldecke der politischen Polizei im NS-Regime über weite Strecken derartig dünn war, dass eine flächendeckende polizeiliche Überwachung der deutschen Gesellschaft gar nicht zu leisten gewesen wäre. Es entsteht der überzeugende Eindruck einer sich selbst überwachenden Gesellschaft. Die Arbeit der Gestapo konnte ihren Grad an Effizienz – gemeint ist die durch sie ausgeübte Kontrollfunktion innerhalb der Bevölkerung – nur erreichen, weil deutsche „Volksgenossen“ den Überwachungsorganen bereitwillig Informationen über angebliches Fehlverhalten und Agitation wider den nationalsozialistischen Normen zuspielten. Denunziation war ein weit verbreitetes Phänomen in der Gesellschaft „Hitler-Deutschlands“. Den Anzeigen aus der Bevölkerung lag dabei, so konnten die von Paul und Mallmann präsentierten Forschungsergebnisse zeigen, ein äußerst breites Spektrum an Motivationen zugrunde. Nationalsozialistischer Ordnungswahn trat dabei als Ursache oftmals weit hinter die eigentliche Interessenlage, aufgrund der etwas zur Anzeige gebracht wurde, zurück. Den Vertretern der historischen Zunft, zumal denjenigen, deren Forschungsfeld das nationalsozialistische Deutschland war und ist, kann man getrost zumuten, dass sie 1996 Kenntnis von diesem Stand der Forschung hatten. Hier zeichnete sich gerade ein Forschungstrend ab, in dem die Verstrickungen „ganz normaler Deutscher“ in die Funktionsweise des nationalsozialistischen Herrschaftsapparats im Mittelpunkt standen, und nicht nur die Beteiligung fanatischer, ideologisch gedrillter SS-Eliten oder blutstreuer „alter Kämpfer“. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis auch nach der Motivation einzelner Akteure, die bereit waren für das NS-Regime und dessen Ziele zu töten, gesucht werden würde; besonders nach der Motivation an Massentötungen teilzuhaben.

Von daher mag es nicht verwundern, wenn die Studie Goldhagens inhaltlich bei den Historikern in Deutschland wenig Aufregung provozierte. Vom größten Teil des deutschen Publikums mögen die von Goldhagen vorgebrachten Ergebnisse als neuartig und zugleich erschreckend empfunden worden sein.[11] Für jemanden, der sich innerhalb des Elfenbeinturms der (historischen) Wissenschaft bewegt, waren dagegen einzig die Art und Weise wie diese „Erkenntnisse“ präsentiert wurden, schockierend. Erschwerend kam im Fall Goldhagen zudem der Umstand hinzu, dass eine Studie zum Reservepolizeibataillon 101 – diese Einheit bildete einen Kern von Goldhagens Untersuchung – seit Jahren vorlag und allenthalben als große Forschungsleistung anerkannt war.[12] Jedwede gespannte Erwartungshaltung, generiert durch die Ankündigung, da käme jetzt etwas absolut Neues, was alle bisherigen Forschungsleistungen in dieser Richtung zu überragen in der Lage wäre, musste aufgrund der historisch-wissenschaftlichen Insuffizienz von Goldhagens Studie zwangsläufig verpuffen. Bestenfalls. Denn die großspurigen Ankündigungen, die Autor und Verlag von HWV im Vorfeld des Erscheinens verlauten ließen, zogen harsche Kritik für das Buch nach sich, das dem (eigenen) Anspruch schlicht nicht gerecht wurde. Das Buch war eine Kampfansage an die Zunft. Goldhagens Umgang mit ihr und der mangelnde Respekt vor den Leistungen der Historiker waren derart provokativ, dass diese sich durchaus zu Recht in ihrer wissenschaftlichen Ehre gekränkt fühlen konnten. Dass einige der Versuchung erlagen, ihrem Ärger darüber auf publizistische Weise Luft zu verschaffen, ist verständlich.[13] Denn gerade die o. g. Veröffentlichungen und die ihr nachfolgenden, sehr differenzierten Forschungen zu Wissenschaft und Denunziation im Nationalsozialismus, zum Wechselspiel zwischen Bevölkerung und NS-Regime, zeigen doch, dass die Geschichtswissenschaft sich Mitte der 1990er keiner Themenfelder verschloss. Dass sich Historiker keineswegs damit begnügten, nur einzelne Aspekte des „Dritten Reiches“ zu erforschen und historiographisch aufzuarbeiten, dass die Holocaust- und NS-Forschung zum damaligen Zeitpunkt eben nicht in traditionellen Mustern streng verhaftet gewesen ist, wie zum Teil behauptet wurde.[14]

2.1 Goldhagens Thesen

Der eigentliche Kern von Goldhagens gesamter Argumentation findet sich bereits im ausgewählten Titel seines Buches: „ Hitlers willige Vollstrecker “. Die Freiwilligkeit „ der Deutschen “, als Täter am Holocaust beteiligt zu sein, dient Goldhagen als Ausgangspunkt, um die gesamte bisherige Forschung auf diesem Gebiet und ihre Ergebnisse zu falsifizieren. Er benennt fünf Interpretationsansätze von Tätermotivationen, die bis dato die gesamte Holocaust-Forschung dominiert hätten: normativer und sozialpsychologischer Zwang, Gehorsam, Eigennutz und „ bürokratische Kurzsichtigkeit “.[15] Goldhagen gesteht diesen Mustern eine gewisse Relevanz zu, klassifiziert sie aber als im Grunde falsch. Er unterstellt, dass alle Ansätze davon ausgingen, die Täter hätten innerhalb dieser Muster immer zuerst persönliche Skrupel überwinden müssen um zu töten oder Entscheidungen zu treffen, die für andere Menschen den Tod bedeuteten. Zudem sprächen die ersten drei Erklärungen den Tätern ihre Handlungsfreiheit ab. Goldhagen dagegen behauptet, die Täter der Shoah hätten all ihre Taten – Demütigungen, Erniedrigungen, Gewalt, Mord – aus freien Stücken und willentlich begangen.[16] Laut Goldhagen hätte sich ihr Hass zudem ausschließlich gegen jüdische Opfer gerichtet.[17] Als Grundlage seiner Behauptung entwickelt er im ersten Teil seines Buches die drei Kapitel einnehmende Theorie des „ eleminatorischen Antisemitismus “. Dieser sei in der deutschen Gesellschaft seit alters her herangereift und stets latent vorhanden gewesen.[18] Zwar wird eingeräumt, dass Antisemitismus ein Phänomen ist, welches auch in anderen Gesellschaften vorkomme, aber in Deutschland zwischen 1933-1945 traf der kulturell verwurzelte Hass auf das Judentum auf besondere Bedingungen.[19] Der latente Antisemitismus wurde durch das Einwirken der nationalsozialistischen Führung – personifiziert durch Adolf Hitler – aus seinem Schlummer geweckt. Die ideologische Richtungsvorgabe des NS-Regimes kanalisierte dann den Wunsch „der Deutschen“ und lenkte ihr Bestreben, indem sie die infrastrukturellen Rahmenbedingungen schuf, so dass sich der kollektive Hass auf Juden zu einem „ exterminatorischen Antisemitismus “ ausweiten konnte. Gemeinsam ging man dann an die nationale Aufgabe, die da war: die Vernichtung der Juden in Europa. Die Täter legten dabei von sich aus ein besonderes Maß an Entschlossenheit an den Tag, welches sich in willkürlicher Grausamkeit gegen ihre Opfer manifestierte.[20] Am Ende seiner Ausführungen konstatiert der Autor schließlich, dass wohl jeder „Deutsche“ bereitwillig den Platz der Exekutoren eingenommen hätte.[21] Eine Behauptung, die Goldhagen im Verlauf der Debatte um sein Buch den Vorwurf einbringen sollte, er sei ein Verfechter der „Kollektivschuldthese“. Essentiell an den Thesen Goldhagen war einerseits die Bestimmung des Täterkreises als „normal“, d. h. nicht wesentlich zu unterscheiden vom Gros der Bevölkerung. Demnach gab es keine speziell definierte Gruppe innerhalb der deutschen Gesellschaft, die dem Täterprofil besonders zuzuordnen gewesen sei. Zum anderen war es die individuelle Entscheidung für jede Tat, jedes Wort, jeden Schlag, jeden Mord, die die Täter auszeichnete. Quer durch die Gesellschaftsschichten und von der höchsten Führungsebene bis hin zum Handlanger niedrigsten Ranges, bestand hinsichtlich des nationalen Projekts zur Auslöschung der Juden einhellige Übereinstimmung bei „den Deutschen“.[22] In Bezug auf die Täter der Shoah war für Goldhagen der „ eleminatorische Antisemitismus, […] in so hohem Maß motivbildend, daß der Einfluß anderer »Stukturen« und Faktoren auf ihr Handeln sich nicht durchsetzen konnte.[23] Ein deutliches Bekenntnis zum Intentionalismus an dieser Stelle. Dieser monokausale Ansatz war in den Augen Goldhagens als hinreichende Erklärung vollkommen ausreichend, um zu verstehen, warum die Vollstrecker des NS-Regimes ihre Taten begangen und auch, warum sie diese auf bisweilen grausame Art und Weise verübten.

2.2 Untersuchungsrahmen und methodischer Ansatz

Die Beweisführung für seine These der kulturellen Übereinkunft aller am Holocaust beteiligten „ganz gewöhnlichen Deutschen“ strebte Goldhagen per Zusammenführung von „ mikro-, meso- und makrologische[n] Untersuchungen[24] an. Für seine Analyse wählte er drei Institutionen aus, denen im Rahmen der nationalsozialistischen Massenvernichtungen gewichtige Rollen zukamen. Im dritten Teil seines Buches untersuchte Goldhagen dafür die „Aktionen“ von Polizeibataillonen, Einheiten der Ordnungspolizei, die im Rücken der Wehrmacht zum Kampf gegen Partisanen und zur Durchführung von Massenexekutionen eingesetzt waren. Hauptsächlich stützte er sich in diesem Bereich bei seinen Darstellungen auf Vernehmungsprotokolle, die im Rahmen der Ermittlungen gegen Angehörige des Reservepolizeibataillons 101 in den Jahren 1962-1972 von der Staatsanwaltschaft Hamburg angefertigt worden waren. Diese Akten aus dem Bestand der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg (ZStL) dienten auch Christopher Browning für seine 1992 erschienene Studie über dieselbe Einheit der Ordnungspolizei. Für Browning wie für Goldhagen war diese Einheit von Interesse, weil sie sich aus „ normalen Männern/Deutschen “ zusammensetzte.

[...]


[1] Daniel Jonah Goldhagen (*1959), Politologe und Autor, war bis 2003 Assistenzprofessor am Government and Social Studies Departement der Universität Havard in Camebridge/MA, Mitarbeiter am Minda de Gunzburg Center for European Studies, Forschungsschwerpunkte: Holocaust und Genozidforschung, Veröffentlichungen (Auswahl): Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust (Berlin 1997), Die katholische Kirche und der Holocaust (Berlin 2002), Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist (München 2009).

[2] Goldhagen, Daniel Jonah: Hitlers willige Vollstrecker, Berlin 1996, S. 17.

[3] Ullrich, Volker: Hitlers willige Mordgesellen, in: Schoeps, Julius H. (Hg.): Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur Goldhagen-Kontroverse um die Rolle der Deutschen im Holocaust, Hamburg 1996, S.89-92, hier S. 92.

[4] Jarausch, Konrad H.: Der nationale Tabubruch. Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik in der Fischer-Kontroverse, in: Sabrow, Martin; Jessen, Ralph; Große Kracht, Klaus (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Grosse Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 20-40, hier S. 32.

[5] Große Kracht, Klaus: Der Historikerstreit, online in: http://docupedia.de/zg/Historikerstreit, 11.01.2010 (Stand: 18.09.2013).

[6] Pohl, Dieter: Die Holocaustforschung und Goldhagens Thesen, in: VfZ 45 (1997) Heft 1, S. 1-48, hier S. 7.

[7] Zur Vereinfachung im Folgenden mit HWV abgekürzt.

[8] Aly, Götz; Heim, Susanne: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991.

[9] Paul, Gerhard; Mallmann, Klaus-Michael (Hg.): Die Gestapo. Mythos und Realität, Darmstadt 1995.

[10] Paul, Gerhard; Mallmann, Klaus-Michael: Allwissend, allmächtig, allgegenwärtig?, in: ZfG 41 (1993), S. 984-999.

[11] Vgl. „ die alte Verlegerweisheit, wonach Holocaust-Bücher in Deutschland zwar breit rezensiert, aber kaum verkauft werden. “ Frei, Norbert: Goldhagen, die Deutschen und die Historiker. Über die Repräsentation des Holocaust im Zeitalter der Visualisierung, in: Sabrow, Martin; Jessen, Ralph; Große Kracht, Klaus (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Grosse Kontroversen seit 1945, München 2003, S. 138-151, hier S.145.

[12] Browning, Christopher Robert: Ordinary Men. Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland, New York 1992. Wenn im Folgenden auf die Arbeit Brownings verwiesen wird, beziehe ich mich in meinen Ausführungen auf die 2011 bei Rowohlt erschienene 6. Auflage in deutscher Übersetzung, wie in der Literaturliste angegeben.

[13] Beispielhaft steht hierfür der Kommentar von Jäckel, Eberhard: Einfach ein schlechtes Buch, in: Schoeps, Julius H. (Hg.): Ein Volk von Mördern? Die Dokumentation zur Goldhagen-Kontroverse um die Rolle der Deutschen im Holocaust, Hamburg 1996, S. 187-192.

[14] Riemer, Jeremiah M.: Der Menschlichkeit gerecht werden, in: taz vom 29.08.1996.

[15] Goldhagen, HWV, S. 25 f.

[16] Die Feststellung erübrigt sich insofern, als Mord aus kriminologischer Sicht den Willen zur Tat schließlich per Definition impliziert.

[17] Goldhagen, HWV, S. 472.

[18] Goldhagen scheut sich nicht davor, den Antisemitismus „der Deutschen“ in einer Linie mit den antisemitischen Überlieferungen Martin Luthers in Verbindung zu bringen. Goldhagen, HWV, S. 642, Anm. 11.

[19] Goldhagen, HWV, S. 522 f.

[20] Goldhagen, HWV, S. 529.

[21] Goldhagen, HWV, S. 471, 531.

[22] Goldhagen, HWV, S. 531.

[23] Goldhagen, HWV, S. 469

[24] Goldhagen, HWV, S. 40.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Holocaust-Forschung zwischen Medien und Moral. Die Goldhagen-Debatte in Deutschland 1996/97
Untertitel
Inhalt und Wirkungsgrad eines öffentlichen Geschichtsdiskurses
Hochschule
Universität Bremen  (Institut für Geschichtswissenschaft)
Autor
Jahr
2013
Seiten
35
Katalognummer
V346611
ISBN (eBook)
9783668359574
ISBN (Buch)
9783668359581
Dateigröße
706 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
holocaust-forschung, medien, moral, goldhagen-debatte, deutschland, inhalt, wirkungsgrad, geschichtsdiskurses
Arbeit zitieren
Jürgen Bartels (Autor:in), 2013, Holocaust-Forschung zwischen Medien und Moral. Die Goldhagen-Debatte in Deutschland 1996/97, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/346611

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