Politische Partizipation in der digitalen Demokratie

Modelle, Chancen und Risiken


Bachelorarbeit, 2014

72 Seiten, Note: 1,6


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Politik - Definitionen, Zusammenhänge

3. Partizipation - Definitionen, Zusammenhänge
3.1 Dimensionen politischer Partizipation
3.1.1 Wahlbeteiligung
3.1.2 Plebiszite (Volksentscheide)
3.1.3 Parteimitgliedschaften
3.1.4 Legale Protestaktivitäten und ziviler Ungehorsam
3.2 Schlussfolgerungen

4. Demokratie - Definitionen, Zusammenhänge
4.1 Demokratiemodelle im Wandel der Zeit
4.2 Abwendung von Gefahren durch antidemokratische Kräfte
4.3 Mediendemokratie
4.3.1 Die Agenda-Setting-Theorie
4.3.2 Die Wissenskluft-Hypothese
4.3.3 Die Logik der Massenmedien und ihre politischen Konsequenzen
4.3.3.1 Die Logik des Mediensystems
4.3.3.2 Politische Konsequenzen

5. Politische Partizipation in der digitalen Demokratie
5.1 E-Demokratie, E-Government und E-Partizipation
5.2 Partizipation von unten
5.3 Regieren von oben
5.4 Open Government
5.5 Open Data

6. Details zu ausgewählten Modellen digitaler Demokratie
6.1 Social Media und politische Partizipation
6.2 Praxisbeispiel Twitter
6.3 E-Petitionen
6.4 Wahl-O-Mat

7. Aufgaben der Sozialen Arbeit
7.1 Sehen und Anerkennen
7.2 Jugendlichen eine Stimme geben
7.3 Demokratischen Konflikt ermöglichen
7.4 Politische Bildung und Medienkompetenz in der Sozialen Arbeit

8. Fazit

9. Literaturverzeichnis

10. Abbildungsverzeichnis

11. Nachwort

1. Einleitung

Seit Jahren scheint die Demokratie sich in einer Krise zu befinden, die Symptome dieses Krisenzustands sind vielfältig.1 Zum einen ist seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland über die Jahrzehnte die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen kontinuierlich gesunken, scheint sich aber mittlerweile bei 70 Prozent eingependelt zu haben.

Um das Phänomen der Politikverdrossenheit werden schon seit vielen Jahren Diskurse geführt. Zum anderen, fast paradox wirkend, gibt es ein gesteigertes Informations-, Transparenz- und Teilhabebedürfnis vieler Bürger. Indikatoren für diese Entwicklungen sind unter anderem anlassbezogene Bürger- und Protestbewegungen, beispielsweise gegen Großprojekte wie Stuttgart 21 oder den Ausbau von Flughäfen.2

Weiterhin zeigt sich dieses Bedürfnis am Erfolg des Wahl-O-Mat, einem OnlineTool der Bundeszentrale für politische Bildung, das zuerst anlässlich der Wahl zum Deutschen Bundestag 2002 und anschließend in verschiedenen Versionen für zahlreiche folgende Wahlen entwickelt und eingesetzt wurde.3

Die Sehnsucht der Bürger nach einer anderen Form der Politik aufgrund zunehmender Entfremdung zwischen politischen Eliten und der Bürgerschaft lässt sich auch an den spektakulären Erfolgen der Piratenpartei 2012 erkennen.4

Im Laufe dieser Arbeit sollen verschiedene Thesen untersucht werden:

Bildung und sozialer Status beeinflussen die Teilhabe an politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen.

Das Informationsbedürfnis gut gebildeter Menschen aus der Mittelklasse steigt, damit auch deren Bereitschaft zur Teilhabe an Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen.

E-Democracy bietet Chancen, Menschen besser an Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen teilhaben zu lassen.

Die Relevanz dieser Thematik für die Profession Soziale Arbeit liegt vor allem im ungleichen Zugang zu und der ungleichen Inanspruchnahme von Formen politischer Partizipation, die sich im digitalen Zeitalter zu verschärfen droht.

2. Politik - Definitionen, Zusammenhänge

Nach Bernauer et al.5 wird Politik wie folgt definiert:

„In sehr allgemeiner Form lässt sich Politik definieren als: Soziales Handeln, das auf die Entscheidungen und Steuerungsmechanismen ausgerichtet ist, die allgemein verbindlich sind und das Zusammenleben von Menschen regeln.“

Drei Dimensionen von Politik

Es ist in der angloamerikanischen „political science“ (Politikwissenschaft) schon lange üblich, den Politikbegriff sprachlich „[…] in die drei Dimensionen polity (Form), policy (Inhalt) und politics (Prozess) […]“ einzuteilen. In der deutschen Sprache existiert keine Entsprechung, daher sind diese Begriffe auch in die Politikwissenschaft im deutschen Sprachraum übernommen worden.6

Unter Polity werden politische Strukturen und Akteure verstanden. Der Begriff umfasst die politisch handelnden Institutionen bzw. Organisationen, die den Ordnungs- und Handlungsrahmen der Politik bilden, beispielsweise Parlament, Regierung und Justiz. Außerdem zählt die Struktur „[…] eines politischen Phänomens […]“, wie beispielsweise „[…] die Bezeichnung eines Landes als Demokratie […]“ dazu.

Der Begriff Policy bezeichnet die politischen Inhalte. Dazu gehören konkrete „[…] Aufgaben, Ziele und die Ausgestaltung politischer Programme.“

Als Politics gelten politische Prozesse. Dazu gehören Willensbildungsprozesse wie beispielsweise öffentliche Diskussionen oder Demonstrationen, Entscheidungen (Gesetzgebungsverfahren) sowie deren Umsetzung (Rechtsnormen, Kontrolle, Sanktionen).7

3. Partizipation - Definitionen, Zusammenhänge

Ein konstitutives Merkmal demokratischer bzw. republikanischer Gesellschaftsund Staatsformen ist Partizipation.8

Partizipation ist stark mit politischem Wettbewerb, als zweitem Merkmal demokratischer Politik, verbunden.

Partizipationsrechte bekommen für den politischen Prozess aber nur eine Bedeutung, „[…] wenn die Bevölkerung tatsächlich von ihren Rechten Gebrauch macht.“ In westlichen Demokratien trifft dies - derzeit - lediglich auf eine Minderheit der Bürger zu.

Seit der Wiederentdeckung des bürgerschaftlichen Engagements als wichtigem Bestandteil der Demokratie unterscheidet man politische und soziale Partizipation.

Eine solche Abgrenzung ist in modernen Gesellschaften allerdings zunehmend komplizierter, da der Staat in immer mehr gesellschaftliche Lebensbereiche eingreift.9

Besondere Aufmerksamkeit widmet diese Arbeit der politischen Partizipation.

Dabei geht es um die Frage, wie die Profession Soziale Arbeit dazu beitragen kann, dass Bürger von ihren Partizipationsrechten verstärkt Gebrauch machen, um dadurch die politische Bedeutung der Sozialen Arbeit im Allgemeinen und ihrer Adressaten als Mitglieder eines demokratischen Gemeinwesens im Besonderen zu erhöhen (s. Kap. 7).

3.1 Dimensionen politischer Partizipation

Die Partizipationsforschung unterscheidet verfasste bzw. nicht verfasste, direkte bzw. indirekte, legale bzw. illegale und legitime bzw. illegitime Formen politischer Partizipation.10

Die Political Action-Forscher Samuel Barnes und Max Kaase entwickelten 1979 die Unterscheidung zwischen konventionellen und unkonventionellen Formen politischer Partizipation. Die Konventionalität oder Unkonventionalität machten sie an den Merkmalen Legalität, Legitimität und Verfasstheit fest. Konventionell waren demnach legale, mittelbare und verfasste Verhaltensweisen, unkonventionell dagegen solche, die als illegitim galten.11

An dieser Unterscheidung orientiert sich auch die vorliegende Arbeit.

Kunz/Gabriel systematisieren konventionelle und unkonventionelle Aktivitäten wie folgt:

Die Wahlbeteiligung und kommunikative Handlungen (politischen Teil der Tageszeitung lesen; mit anderen über politische Themen diskutieren; andere von eigener Meinung zu überzeugen versuchen) sind konventionelle Standardaktivitäten.

Ein weiteres Teilsystem im konventionellen Bereich sind wahl- und parteibezogene Aktivitäten (Kandidaten oder Parteien im Wahlkampf unterstützen; politische Versammlungen besuchen; Mitwirkung an der Lösung lokaler Probleme; individuelle Politikerkontakte).

Im unkonventionellen Bereich unterscheidet man die drei Teilsysteme legaler Protest (sich an Unterschriftensammlungen beteiligen; in Bürgerinitiativen mitarbeiten; legale Demonstrationen), ziviler Ungehorsam (Hausbesetzungen; verschiede Formen des Streiks; Boykotte sowie Demonstrationen) und Anwendung politischer Gewalt.

Die gesellschaftliche Beurteilung von Aktivitäten als legitimes Mittel politischer Einflussnahme ändert sich im Laufe der Zeit, ebenso die Einstufung von Verhaltensweisen als konventionell oder unkonventionell.12

3.1.1 Wahlbeteiligung

Abbildung 1: Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen in Deutschland von 1949 bis 2013 in Prozent

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In den alten Bundesländern lassen sich bezüglich der Höhe der Wahlbeteiligung zwei Phasen voneinander unterscheiden, wobei die erste von 1949 bis 1976 reicht und die zweite 1976 beginnt.

Die Wahlbeteiligung bei der ersten Bundestagswahl 1949 lag mit 78,5 % stark unter dem Niveau bei der letzten Reichstagswahl (1933), wo 88,8 % erreicht wurden.

Die Partizipationsrate steigerte sich ab 1949 von Wahl zu Wahl bis 1972. An der Bundestagswahl 1972 beteiligten sich 91,1 Prozent der Wahlberechtigten. Auch 1976 war die Quote nicht wesentlich schlechter. Seitdem ist ein Rückgang der Wahlbeteiligung zu verzeichnen.13

Als 1990 die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl stattfand, gingen 77,8 % der Wahlberechtigten wählen und damit sank die Wahlbeteiligung sogar leicht unter das Niveau von 1949.

1994 gingen die Werte in den alten Bundesländern mit 79 % wieder leicht nach oben, ebenso nochmal 1998 mit 82,2 %. 2002 war aber mit 79,1 % auch fast schon wieder der Tiefstand von 1994 erreicht.

2005 gingen 77,7 % wählen und damit noch mal 0,1 % weniger als 1990. Die niedrigste Wahlbeteiligung wurde 2009 mit 70,8 % erreicht. 2013 machten 71,5 % der Wahlberechtigten von ihrem Stimmrecht Gebrauch.14

Wie bereits in der Einleitung dieser Arbeit erwähnt, hat sich die Wahlbeteiligung scheinbar mittlerweile auf einem Niveau von ca. 70 % eingependelt.

Es gibt allerdings ein starkes Ost-West-Gefälle:

Im Westen gab es bis 2005 keine dramatischen Schwankungen. Dagegen gab es im Osten alleine zwischen Volkskammerwahl im März 1990 (93,4 %) und Bundestagswahl 1990 (74,5 %) einen Rückgang der Wahlbeteiligung in Höhe von fast 20 %. Danach setzte sich der Trend noch mal leicht fort, bis er 1998 gestoppt wurde.

2002 gingen in Ostdeutschland wieder 7,2 % weniger zur Wahl, allerdings glich die Beteiligungsquote in West und Ost 2002 den Werten von 1994.15

Generell ist zu konstatieren, dass die Wahlbeteiligung im Osten bei allen Bundestagswahlen von 1990 bis 2013 schlechter als im Westen war, der Trend jedoch gleich.16

Die Wahlbeteiligung war 1998 überall in Deutschland höher als 1994 und von 1998 auf 2002 sowie 2002 auf 2005 sank sie überall, mit Ausnahme von Bayern.17

Die Beteiligung an Wahlen als Kernelement der Staatsbürgerrolle und politische Standardaktivität ist also im Vergleich zwischen Ost und West in Westdeutschland besser institutionalisiert und breiter akzeptiert.

Auch bei Landtags-, Kommunal- und Europawahlen verläuft der Trend ähnlich, wie im Bund: es gab einen Anstieg bis zur Mitte der siebziger Jahre, seitdem einen Rückgang der Wahlbeteiligung.

Außerdem ist die Beteiligung an diesen Wahlen generell schlechter gegenüber Bundestagswahlen. Und auch hier haben die neuen Bundesländer Entwicklungsbedarf.18

3.1.2 Plebiszite (Volksentscheide)

Über Formen politischer Mitwirkung jenseits der Auswahl politischen Führungspersonals, insbesondere, wenn es um die Teilnahme an verbindlichen Entscheidungen über Sachfragen geht, gibt es unterschiedliche Auffassungen.

Art. 20 Abs. 2 GG würde Volksabstimmungen über Sachfragen zulassen, trotzdem sieht das Grundgesetz sie nicht vor.19

Im Zuge der bereits beschriebenen ambivalenten Demokratieentwicklung, gekennzeichnet durch Politikabstinenz bzw. -verdruss und eine rückläufige Bedeutung konventioneller parlamentarischer Institutionen einerseits und unkonventionelle Formen kritischen Bürgerengagements andererseits, werden jedoch vermehrt direktdemokratische Verfahren in Form von Plebisziten verlangt.

Aus den Erfahrungen der Weimarer Republik resultieren die starken Vorbehalte des Grundgesetzes und damit der bundesrepublikanischen Gründergeneration dagegen.

Die Weimarer Verfassung beinhaltete die Volkswahl des Präsidenten, präsidiales Notverordnungs- und Parlamentsauflösungsrecht, präsidiale Befugnis zur Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers, Volksbegehren und Volksentscheid.

Der provisorische Charakter der Staatsgründung wurde in der Nachkriegszeit auch noch einmal durch den Verzicht auf eine Volksabstimmung zum Grundgesetz deutlich gemacht.

Bezüglich des Einflusses auf die politische Kultur und das Verfassungsgefüge müssen vor einer Einführung von Plebisziten verschiedene Fragen geklärt werden. Grundsätzlich wäre festzulegen, über was abgestimmt werden kann und welche Quoren nötig sein sollen. Weiterhin wäre zu bestimmen, ob vom Parlament beschlossene bzw. nicht beschlossene Gesetze oder eine originäre Volksgesetzgebung Gegenstand der Volksbefragung sein sollen.

Die Balance zwischen Volk, Parlament und Regierung wird durch Plebiszite verschoben. Abhängig von der Intensität ihrer Nutzung kann eine Monopolstellung von Parteien im politischen Wettbewerb erschüttert werden.

Letztere haben die Parteien aber schon jetzt kaum noch, weil zunehmend Medien und andere zivilgesellschaftliche Akteure politisches Agenda-Setting betreiben.

Sicherlich wäre eine Opposition durch Plebiszite stärker an Sachfragen orientiert, womit möglicherweise der wachsenden Personalisierung und Entpolitisierung politischer Berichterstattung entgegen gewirkt werden würde.

Zur Verhinderung eines gefährlichen Übergewichts aktivistischer Minderheiten ist ein hohes Quorum zur Zulassung eines Plebiszits erforderlich und für dessen Verbindlichkeit eine ebenso hohe Abstimmungsbeteiligung. Ansonsten würde sich der Einfluss privilegierter Minderheiten (aus der bürgerlichen Mittelschicht) auf die Demokratie, den es sowieso schon gibt, ausweiten, da auch die Organisations- und Finanzkraft der Initiatoren eine zentrale Rolle spielt.

Die Schweiz lässt im europäischen Vergleich auf nationaler Ebene weitreichende Möglichkeiten für Plebiszite zu.

Am Beispiel der Schweiz kann man sehen, dass es gerade bei Themen der Ausländer- und Zuwanderungspolitik, wo die Beteiligung auch immer hoch ist, problematisch werden kann.20

So gab es 2009 eine Verfassungsinitiative zum Verbot von Minaretten, 2014 zur Beschränkung der Zuwanderung von Ausländern in die Schweiz.

Die Konsequenz der Verfassungsinitiative 2014 ist, dass mehrere Verträge mit der Europäischen Union, unter anderem das Personenfreizügigkeitsabkommen, neu verhandelt werden müssen, da die Schweiz nun dagegen verstößt.21

Politischer Populismus ist also eine Gefahr, die von Plebisziten ausgehen kann.

Trotz des Gewinns an Transparenz und Partizipationschancen würden politische Legitimation und Steuerungskompetenz weiter verloren gehen. Die konstitutionellen Elemente der Demokratie würden schwächer als die außerkonstitutionellen Elemente werden. Im Zeitalter globalisierter Finanzmärkte wäre diese Entwicklung für die Demokratie insgesamt schädlich.22

3.1.3 Parteimitgliedschaften

In den ersten Nachkriegsjahren sowie in der Zeit von Ende der 1960er- bis Mitte der 1970er Jahre konnten die Parteien in der alten Bundesrepublik die meisten Mitglieder gewinnen.23

Ab 1983 sanken die Mitgliederzahlen der Parteien wieder, vor allem die SPD war davon stark betroffen. Auch mit der Erweiterung des Parteienspektrums durch die Grünen konnte der Abwärtstrend nicht gestoppt werden.

Die Integration der Mitglieder der DDR-Blockparteien nach der Wiedervereinigung unterbrach den Mitgliederschwund kurzfristig, führte aber zu keiner Trendwende.24

Einen gegenläufigen Trend erkennt man lediglich bei Grünen und Piraten.

Seit 1993 treten die Grünen als Bündnis90/Die Grünen auf, bedingt durch die Vereinigung der westdeutschen Grünen und der ostdeutschen Listenvereinigung Bündnis90/Grüne-Bürgerbewegung, welche beide aber zunächst nach der Wiedervereinigung getrennt blieben.

Den ersten Höchststand erreichte die Partei Bündnis90/Die Grünen 1998 mit 51.812 Mitgliedern. Danach folgte ein Rückgang, der 2003 stagnierte. Deutliche Zuwächse gab es wieder von 2009 bis 2011, wodurch die Mitgliedschaft insgesamt von 1990 bis Ende 2012 um über 44 % gesteigert werden konnte. Ende 2012 hatte die Partei 59.653 Mitglieder.

Seit 2006 existiert die Piratenpartei.25

Abbildung 2: Mitgliederentwicklung der Piratenpartei von 2006 bis 2014

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Während 2008 noch 804 Menschen Mitglied der Piratenpartei waren, stieg diese Zahl bis Ende 2009 rasant an auf 11.394 Mitglieder.

Ende 2011 verzeichnete die Partei 19.200 Mitglieder. Ende 2012 hatten die Piraten 34.322 Mitglieder, von 2012 bis aktuell 2014 gab es erstmalig seit Gründung der Partei einen Rückgang auf 28.498 Mitglieder.

Auch bei den Parteimitgliedschaften ist die Partizipationsrate in Westdeutschland etwas besser als in Ostdeutschland. Der Anteil der Mitglieder, die aktiv an Parteiaktivitäten partizipieren, ist in der Forschung umstritten. Die meisten Mitglieder beschränken ihre Mitgliedschaft auf eine passive Rolle oder mischen sich höchstens in besonderen Situationen wie Wahlkämpfen oder politischen Kampagnen aktiv in die Parteiarbeit ein.26

3.1.4 Legale Protestaktivitäten und ziviler Ungehorsam

Während konventionelle politische Aktivitäten auf institutionell verankerten Bürgerrechten basieren, ergibt sich eine andere Situation für unkonventionelle Aktivitäten, welche seit den 1960er Jahren das Partizipationsverhalten tiefgreifend verändert haben.

Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung trug maßgeblich zur Institutionalisierung der Protestpolitik bei. Seit Mitte der 1950er Jahre führten die Bürgerrechtler dort spontane und organisierte Massenproteste durch, um ihre Ziele zu erreichen. So etablierten sich nach und nach Demonstrationen, Sit-Ins, Verkehrsblockaden und Boykotte. Ein Jahrzehnt später wurde Westeuropa auch von dieser Protestwelle erfasst.27

Breit angelegte Protestaktionen entstanden erstmals in Deutschland aus der Studentenbewegung heraus „[…] im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Notstandsgesetze und das Engagement der USA in Vietnam.“.

Nach und nach wurden die Formen politischer Aktivitäten, die in der studentischen Protestbewegung praktiziert wurden, in das Handlungsrepertoire einer breiteren Öffentlichkeit aufgenommen.

Seit Mitte der 1970er Jahre entwickelte sich die Mitarbeit in Bürgerinitiativen als besondere Form des soziopolitischen Engagements.

Die Bürgerinitiativen verteilten sich im Laufe der Zeit auf mehrere Politikfelder und sind jeweils unterschiedlich organisiert.

Ziele sind entweder die Beeinflussung von Entscheidungen staatlicher bzw. kommunaler Organe oder Selbsthilfeaktionen. Es gibt Dauerorganisationen oder zeitlich befristete Zusammenschlüsse. Der Aktionsradius kann auf eine Kommune beschränkt oder überregional sein.

Für die Mitarbeit in Bürgerinitiativen gibt es in Deutschland ein sehr hohes Potential, ebenso für die Beteiligung an legalen Protestaktivitäten.28

Trotz der Popularisierung ist eine aktive und dauerhafte Beteiligung an politischem Protest selten, dies trifft auf alle Formen unkonventioneller politischer Partizipation außer Unterschriftensammlungen und friedliche Demonstrationen, zu.

Allerdings sind die inzwischen breite öffentliche Akzeptanz der neu aufgekommenen Formen politischer Aktivität sowie deren Fähigkeit der, zumindest vorübergehenden, Mobilisierung zur Mitarbeit einer großen Gruppe von Bürgern zu einem konkreten Ereignis oder für ein bestimmtes Ziel zwei schlagkräftige Merkmale. Was jedoch überschätzt wird, ist ihre Fähigkeit der Heranführung bisher inaktiver Gruppen an politische Partizipation.29

Im Bereich des zivilen Ungehorsams sind nur wenige Menschen in Deutschland bereit, über Boykotte hinaus weitere Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele zu gebrauchen, insbesondere in den neuen Bundesländern. Eine breite Mehrheit der Bürger stuft zivilen Ungehorsam generell als illegitim ein.30

3.2 Schlussfolgerungen

Das Bildungsniveau von Menschen beeinflusst ihr politisches Partizipationsverhalten. Außerdem „[…] ist die Einbindung in soziale Netzwerke in Deutschland gegenwärtig der weitaus wichtigste Bestimmungsfaktor politischer Beteiligung […]“ im Osten und im Westen.

Eine Beteiligung der Bürger an der kommunalen Selbstverwaltung begann in Deutschland bereits im Mittelalter mit der Einführung eines demokratischen Männerwahlrechts sowie der Entstehung eines Parteien- und Verbändesystems in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Das autoritär regierte deutsche Kaiserreich und die geringe Lebensdauer der Weimarer Republik verhinderten allerdings die anschließende Entwicklung einer politischen Kultur mit partizipatorischen Werten und Normen in Deutschland.

Die Etablierung einer Tradition partizipativer Politik war also erst nach Gründung der Bundesrepublik möglich.

Dabei gab es mehrere Entwicklungsabschnitte. Mit der Gründung der Bundesrepublik bis Mitte der 1970er Jahre stieg die Wahlbeteiligung stark an, ebenso Parteimitgliedschaften sowie andere Formen wahl- und parteibezogener Partizipation. Obwohl die Wahlbeteiligung seit Mitte der 1970er Jahre zurückging, ist das Niveau in Deutschland im internationalen Vergleich derzeit noch hoch.

Obwohl lediglich eine Minderheit der Bürger regelmäßig an anderen konventionellen Aktivitäten teilnimmt, ist die Zahl aktivierbarer bzw. gelegentlich aktiver Menschen relativ hoch.

Im Vergleich mit traditionsreichen Demokratien (USA, Griechenland) gibt es auch in dieser Hinsicht kaum Unterschiede in Deutschland.

Nachdem zunächst konventionelle politische Partizipation populär wurde, war es nach den Studentenunruhen der 1960er Jahre die unkonventionelle politische Partizipation. Zwar waren diese Aktivitäten nicht gänzlich unbekannt in Deutschland, erfreuten sich aber in dieser zweiten Entwicklungsphase politischer Partizipation größerer Beliebtheit. Legale Protestaktivitäten entwickelten sich im Laufe der Zeit zum normalen politischen Verhalten. Sehr wenige Menschen nutzen illegale Protestaktivitäten zur Durchsetzung ihrer Ziele.

Insgesamt ist zu konstatieren, dass Deutschland in den Nachkriegsjahren bezüglich gesellschaftlicher und politischer Aktivität den Anschluss an traditionsreiche Demokratien gewonnen hat. Obwohl einzelne Formen politischer Partizipation in den alten Bundesländern weniger populär sind, ändert sich an dieser Feststellung nichts.

Trotzdem gibt es eine anhaltende Diskussion über die Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements.

Ein weiterer Reformansatz ist der Ausbau von Instrumenten direkter Bürgerbeteiligung.

Einige Politiker und Wissenschaftler sehen in Plebisziten Möglichkeiten zur Überwindung der angeblichen Politikverdrossenheit sowie zur Belebung des politischen Prozesses.

Insbesondere auf kommunaler Ebene sind plebiszitäre Beteiligungsinstrumente seit der Wiedervereinigung ausgebaut worden (z.B. die Abwahl von Bürgermeistern und Landräten durch Bürgerbegehren). Allerdings konnte die erhoffte Wirkung bisher nicht erzielt werden. Nur zurückhaltend wird davon Gebrauch gemacht. Gescheitert ist auch der Versuch der Einbeziehung bisher inaktiver Bevölkerungsgruppen in den politischen Prozess.

Bereits aktive Bürger nutzen, wie bereits im Falle der unkonventionellen politischen Partizipation, diese neuen Beteiligungsinstrumente.

Man sollte also keine falschen Erwartungen an diese Reform der Demokratie haben.31

Eine Ausweitung dieser Beteiligungsinstrumente nach dem Schweizer Modell ist nicht nur unangebracht, sondern aufgrund der bereits beschriebenen möglichen Auswirkungen auch fahrlässig.

Den nächsten Entwicklungsabschnitt partizipativer Politik erleben wir jetzt. Die Austauschmöglichkeiten zwischen Regierenden und Regierten werden durch die Einführung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien über das bzw. im Medium Internet zunehmend ergänzt und teilweise auch ersetzt.

An der Nutzung digitaler Beteiligungsinstrumente ist, wie bei konventionellen Partizipationsformen, ebenfalls eine aktivistische Minderheit beteiligt.

Politische Partizipation ist also generell eine Aktivität von bzw. für Minderheiten. Die meisten Menschen werden sich jedoch anlassbezogen politisch engagieren, in Situationen, die sie selbst politisch (mit)gestalten wollen.

Eine ständige Beteiligung aller Menschen an der Politik ist in Demokratien nicht wichtig und dort auch nicht realistisch. Besonders bedeutend ist aber die - theoretische - Möglichkeit der Beteiligung aller.32

Hinsichtlich dieser Möglichkeit gibt es momentan Defizite, die es zu beseitigen gilt.

Im digitalen Zeitalter droht die soziale Spaltung in Deutschland durch die Zunahme von Beteiligungsinstrumenten im Internet zuzunehmen. In einigen Lebensbereichen verlieren Menschen mit einem niedrigen sozialen Status, einer schlechten Bildung sowie ohne Computer und Internet den Anschluss - im doppelten Sinne. Außerdem werden politische Prozesse immer komplexer. Dadurch entsteht insgesamt eine erneute Politikverdrossenheit und langfristig - Abstinenz in bestimmten Bevölkerungsschichten.

Im Rahmen ihres politischen Mandats ergibt sich hierdurch also ein Handlungsbedarf für die Profession Soziale Arbeit.

Bevor aktuelle Modelle sowie Chancen und Risiken der digitalen Demokratie vorgestellt werden, widme ich mich noch mal dem Begriff Demokratie.

[...]


1 vgl. Kleinert, 2012

2 vgl. Kleinert, 2012

3 vgl. Marschall, 2011

4 vgl. Kleinert, 2012

5 Bernauer et al., 2013, 24

6 vgl. Leimgruber, o.J.

7 vgl. Bernauer et al., 2013, 36

8 vgl. Schnurr in Otto; Thiersch, 2001, 1330

9 vgl. Gabriel; Völkl in Gabriel; Holtmann, 2005, 526f

10 vgl. u.a. von Alemann, 1975; Kaase, 1997, hier zit. n. Gabriel; Völkl in Gabriel; Holtmann, 2005, 531

11 vgl. Barnes; Kaase et al., 1979, hier zit. n. Gabriel; Völkl in Gabriel; Holtmann, 2005, 535

12 vgl. Kunz; Gabriel, 2000, hier zit. n. Gabriel; Völkl in Gabriel; Holtmann, 2005, 537

13 vgl. Gabriel; Völkl in Gabriel; Holtmann, 2005, 540

14 vgl. Bundeswahlleiter, 2013

15 vgl. Gabriel; Völkl in Gabriel; Holtmann, 2005, 540f

16 vgl. Bundeswahlleiter, 2013

17 vgl. Hartmann, 2009

18 vgl. Gabriel; Völkl in Gabriel; Holtmann, 2005, 541f

19 vgl. Gabriel; Völkl in Gabriel; Holtmann, 2005, 542

20 vgl. Kleinert, 2012

21 vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, 2014

22 vgl. Kleinert, 2012

23 vgl. Niedermayer, 2013a

24 vgl. Gabriel; Völkl in Gabriel; Holtmann, 2005, 549

25 vgl. Niedermayer, 2013b

26 vgl. Gabriel; Völkl in Gabriel; Holtmann, 2005, 550

27 vgl. Gabriel; Völkl in Gabriel; Holtmann, 2005, 545

28 vgl. Gabriel; Völkl in Gabriel; Holtmann, 2005, 556f

29 vgl. Gabriel; Völkl in Gabriel; Holtmann, 2005, 559

30 vgl. Gabriel; Völkl in Gabriel; Holtmann, 2005, 548

31 vgl. Gabriel; Völkl in Gabriel; Holtmann, 2005, 570-573

32 vgl. Gabriel; Völkl in Gabriel; Holtmann, 2005, 573

Ende der Leseprobe aus 72 Seiten

Details

Titel
Politische Partizipation in der digitalen Demokratie
Untertitel
Modelle, Chancen und Risiken
Hochschule
Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach
Note
1,6
Autor
Jahr
2014
Seiten
72
Katalognummer
V345629
ISBN (eBook)
9783668357655
ISBN (Buch)
9783668357662
Dateigröße
996 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Politik, Partizipation, Demokratie, Medien, Bildung
Arbeit zitieren
Martin Püschel (Autor:in), 2014, Politische Partizipation in der digitalen Demokratie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/345629

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