"Et in Arcadia ego". Das humanistische Erbe des Arkadien-Topos bei Iacopo Sannazaro


Masterarbeit, 2016

82 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Arkadien – Landschaft oder Zustand? Die Vorläufer des Iacopo Sannazaro
2.1 Arkadien – graue Lebensrealität oder literarisches Idyll?
2.2 Der antike Ursprung und die ‚Erfindung‘ durch Vergil
2.3 Boccaccio, die Bukolik des Trecento und andere (zeitgenössische) Vorläufer der-Arcadia Sannazaros

3. Das humanistische Erbe: die-Arcadia
3.1 Iacopo Sannazaro und das humanistische Neapel seiner Zeit
3.2 Gattungsspezifische, formale und editionsgeschichtliche Vorbemerkungen zur-Arcadia
3.2.1 Das-genus humile Die Bukolik
3.2.2 Das Prosimetrum
3.2.3 Die unterschiedlichen Fassungen
3.3 Die literarische Verarbeitung der Motive: die-Arcadia
3.3.1 Der Traum von Arkadien? Die Konzeption der Natur in der-Arcadia
3.3.2 Die Glorifizierung des Goldenen Zeitalters
3.3.3-Et in Arcadia ego: Autobiographie und Tragik im arkadischen Idyll
3.3.4 Politik und Zeitgeschehen in der-Arcadia

4.-A la sampogna, Fazit und Ausblick

5. Literaturverzeichnis
5.1 Primärquellen
5.2 Sekundärquellen
5.3 Weiterführende Literatur
5.4. Nachschlagewerke

6. Anhang

Nimmer, nimmer sollt ihr mir entschwinden,

immer wird mein Herz euch wiederfinden,

süße Träume, rein und zart und schön.

Nie wird euch mein Auge wiedersehen,

doch ein Hauch wird lispelnd zu euch wehen:

»Ich, auch ich war in Arkadien.«

(aus: Johann Gottfried Herder - Angedenken an Neapel)

1. Einleitung

Arkadien… Wer heute irgendwo diesem Begriff begegnet, mag damit vielleicht nicht viel anzufangen wissen. Einige Menschen kennen vielleicht die gleichnamige Landschaft in Griechenland, andere hingegen haben noch nie etwas davon gehört. Bei so manchem jedoch entsteht im Kopf ein subjektiv empfundenes Bild, eine Vorstellung, die so sehr vom ursprünglichen, geographischen Bezug abweicht, dass die Gründe dafür auf den ersten Blick als rätselhaft erscheinen.

Was also steckt hinter dem Begriff und wie konnte es passieren, dass eine Landschaft, die weder im ästhetischen noch im historischen oder sonst irgendeinem Sinne jemals von hervorstechender Bedeutung war, zu einem derart beliebten Topos der humanistischen Literatur wurde, dass er in den unmittelbar darauf folgenden Jahrhunderten immer wieder aufgegriffen und rezipiert wurde?

Eindeutige Antworten auf diese Fragen zu finden, ist ebenso reizvoll wie kompliziert. Denn obwohl der literarischen Umsetzung in ‚bukolischem Gewand‘ stets der Vorwurf der Banalität und Niedrigkeit gemacht wurde, ist der durchschlagende Erfolg der Arcadia von Iacopo Sannazaro und dessen Bedeutung sowohl für die europäische als auch im Besonderen für die italienische Literatur kaum ernsthaft von der Hand zu weisen.

Ziel dieser Arbeit wird es demzufolge sein, den Begriff Arkadien und alles, was damit einhergeht, als literarischen Topos zu dechiffrieren, seine Kraft und das sich daraus ergebende Potential ebenso wie seine Grenzen aufzuzeigen und den Geltungsbereich bzw. die Intention dieser poetischen Dimension herauszuarbeiten.

Daher ist es zu Beginn notwendig, die Grundzüge der literarischen Umgestaltung Arkadiens zu beschreiben und auf diese Weise den offenkundigen Gegensatz zu der geographischen Realität auf der Peloponnes sichtbar zu machen. Dabei wird beabsichtigt, eine möglichst konkrete Vorstellung dieses ursprünglichen Szenarios zu evozieren, um die in der Folge bisweilen auftretenden, andersgearteten Implikationen als solche identifizieren und die dahinter sich verbergende Absicht erkennen zu können. All diese Aspekte sollen vornehmlich im Kontext von Sannazaros Arcadia beleuchtet werden.

Um dieses Werk in seiner Bedeutung und Aussage wirklich verstehen und einschätzen zu können, ist es jedoch unabdingbar, sich zunächst kurz und prägnant mit den Vorbildern der antiken und zeitgenössischen Dichtung auseinander zu setzen und deren Einflüsse als solche anzuerkennen. Gerade die klassischen Vorbilder – und von denen am augenscheinlichsten die Eklogen von Vergil – sind im Zeitalter des Humanismus von großer Relevanz, da sie die Grundpfeiler der sannazarianischen Ausrichtung prägen und für diesen auch dauerhaft als Fix- und Bezugspunkte fungieren.

Theokrit, mit seinen Idyllen der erste bedeutende Vorläufer des neapolitanischen Autors, wird allerdings nur insoweit für diese Arbeit relevant sein, wie sein bukolisches Grundsetting Eingang in die Arcadia findet. Prägender für Sannazaro ist gewiss der augusteische Dichter Vergil, der die Idee Theokrits aufnimmt, ihr zusätzliche Facetten verleiht und sie erstmals in die arkadische Landschaft Griechenlands implementiert. Aus humanistischer Perspektive konstituiert sich in Vergil ein Ideal, dem es, obwohl es unwiederbringlich verloren scheint, in den nachfolgenden Jahrhunderten dennoch nachzueifern galt. Im Anschluss an die vergilische Schaffensphase verschwindet das literarische Arkadien erstaunlicherweise jedoch für lange Zeit von der Bildfläche.

Wie auch kaum anders möglich, nehmen im Italien des Trecento zwar einige Werke der tre corone Dante Alighieri, Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio ebenso Einfluss auf das Wirken Sannazaros wie einige zeitgenössische Bukoliker aus Siena, aber die wahrhaftige Wiederbelebung des Arkadien-Topos erfolgt mit dem neapolitanischen Dichter erst ca. 1500 Jahre nach seiner ‚Erfindung‘ durch Vergil. Dennoch soll besonders die Funktion und Wichtigkeit Boccaccios herausgestellt werden, der mit seinem allegorischen Prosimetrum Comedia delle ninfe fiorentine [1] in vielerlei Hinsicht einen Fundus sprachlicher, inhaltlicher und gattungsspezifischer Art für Sannazaro darstellt. Da die Anspielungen zum Teil aber so zahlreich und eindeutig sind, soll im Rahmen dieser Arbeit bei der Analyse der Arcadia nur dann auf sie eingegangen werden, wenn der Hinweis stark bedeutungstragend und zielführend für die genannten Absichten dieser Erarbeitung sind.

Nachdem auf diese Weise also der Boden für das Thema bereitet wurde, soll im Mittelteil der Untersuchung endgültig das Werk des neapolitanischen Dichters in den Fokus rücken: mit seinem am Ende des Quattrocento verfassten Schäferroman Arcadia tritt er also das humanistische ‚Erbe‘ Vergils an und schafft ein auf diversen Vorläufern beruhendes und mit zeitgenössischen (und) politischen Anspielungen gespicktes, weiterentwickeltes Arkadienbild, das in der Folge eine weitreichende internationale Rezeption findet.

Damit die Gründe dafür nachvollziehbar werden, ist es wichtig, einige Rahmenbedingungen und kurze Vorüberlegungen der Arbeit am Text selbst voranzustellen. Wie sich im Fortlauf noch zeigen wird, spielt die zeitgenössische, realpolitische Situation im Neapel des ausgehenden Quattrocento eine derart wichtige Rolle für das Verständnis des Wirkens von Sannazaro, dass eine Abbildung der dort vorherrschenden und sie bedingenden Zustände in 3.1. die Bearbeitung des Werkes einleiten wird.

Außerdem soll die Darstellung daraufhin untersucht werden, inwiefern sowohl die Natur der bukolischen Gattung an sich als auch die Form des Prosimetrums zum – aus heutiger Sicht vielleicht überraschenden – Erfolg der Arcadia beigetragen haben bzw. ob und inwieweit sich diese Art der literarischen Betätigung für die Ausarbeitung der Intentionen seines Autors eignet.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Arcadia unterschiedliche Stadien der Abfassung und der Veröffentlichung durchlaufen hat, soll in 3.2.3 auf die Ursachen und Folgen dessen eingegangen und geprüft werden, welche Unterschiede zwischen den Fassungen sowohl in sprachlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht auszumachen sind. Dennoch sei darauf hingewiesen, dass für die Analyse einzelner Passagen, falls es nicht explizit anders angegeben ist, stets die von Carlo Vecce 2013 kommentierte und edierte Version, die der zweiten Fassung von 1504 entspricht, zugrunde liegt.

Da zwischen der Entstehung der ersten Ekloge und dem abschließenden Epilog A la sampogna ein Zeitraum von ungefähr zwei Dekaden liegt, ist es zudem durchaus interessant, die Entwicklung des Autors selbst diachron zu beleuchten.

Im Anschluss daran rückt schließlich das Setting der Arcadia und die Dimension der Natur ins Zentrum des Interesses. Dabei soll untersucht werden, auf welche Weise und mit Hilfe welcher Vorbilder oder Topoi Sannazaro den Leser in die arkadische Landschaft einführt bzw. welche Rückschlüsse für den weiteren Handlungsverlauf sich möglicherweise aus dem locus amoenus und der sich daraus ergebenden Art der Darstellung herausfiltern lassen.

Als im Kontext des Humanismus entstandenes Werk wohnt allem Arkadischen bei Sannazaro freilich noch ein Bezug zu seinen antiken Vorbildern inne. Obschon das fiktive Arkadien an sich einer festen zeitlichen Einbindung enthoben ist, spielen im gesamten Werk besonders Retrospektiven, aber auch bisweilen Vorausdeutungen durchaus eine wichtige Rolle. Dieser Dimension wird an keiner anderen Stelle so offensichtlich Rechnung getragen wie in der noch zu analysierenden Ekloge VI, in der das Goldene Zeitalter eine immense Glorifizierung erfährt und es den gesellschaftlichen und politischen Strukturen zum Zeitpunkt der Abfassung eindeutig kontrastiv gegenübergestellt wird.

Jene Verbindung zur zeitgenössischen Situation in Neapel wird auch im weiteren Verlauf der Arcadia ein wiederkehrendes und wichtiges Element sein, weshalb die Funktion und Identität des Erzählers, die in der ersten Hälfte des Werks relativ unklar bleibt, einer dringenden Klärung bedarf. Dessen ist sich wohl auch Sannazaro selbst bewusst und fügt daher mit der Prosa VII eine stark autobiographisch gefärbte und die Zeitumstände reflektierende Einlage hinzu. In der Analyse dieser Ausführungen sollen die Andeutungen des Erzählers Sincero mit der Person des Autors in Verbindung gebracht und die daraus resultierende Motivik dekodiert werden.

Da sich der Leser spätestens an dieser Stelle bewusst macht, dass auch elegische und tragische Momente unabwendbare Bestandteile der arkadischen Welt sind, soll im Fortlauf auf die auch aus anderen kulturellen Bereichen bekannte Et in Arcadia ego -Thematik eingegangen sowie beurteilt werden, welche Dimensionen dem humanistischen Arkadien zugrunde liegen und wie diese auf die arkadischen Hirten wirken.

Der letzte Aspekt, der im Rahmen dieser Arbeit von Interesse sein wird, sind die zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Einflüsse im Text. Anhand einer Analyse diverser Textstellen und symbolischer Darstellungen aus der Arcadia (u.a. die Ekloge X oder Prosa XI) soll versucht werden, etwaige tatsächlich existierende Entsprechungen zwischen realer und fiktiver Welt zu identifizieren und sie für eine Interpretation der Absicht, die hinter solchen Verknüpfungen steckt, nutzbar zu machen.

Mit abschließenden Überlegungen in Bezug auf den Epilog A la sampogna, der einen Abschied Sannazaros von seinem Werk und der bukolischen Gattung darstellt, wird auch diese Arbeit zum Ende kommen und im Schlussteil die bedeutendsten Erkenntnisse der Erarbeitung nochmals aufgreifen und beurteilen.

Allgemein sei noch angemerkt, dass die linguistischen Errungenschaften und der Beitrag der Arcadia zur Formung einer einheitlichen Schriftsprache hier allenfalls am Rande behandelt werden können, da eine Beschäftigung mit sprachhistorischen Aspekten ganze Monographien füllen könnte (siehe auch Folena [1952]) und sie für die Forschungsfrage eine untergeordnete Rolle spielt.

2. Arkadien – Landschaft oder Zustand? Die Vorläufer des Iacopo Sannazaro

Im zweiten Kapitel dieser Arbeit werden die Rahmenbedingungen, die Sannazaro bei der Verarbeitung der Thematik zur Verfügung standen, dargelegt. Deshalb soll das literarische Arkadien kurz dem realen entgegengestellt und in der Folge die Vorläufer bukolischer Dichtung und die Ursprünge dieses Topos beleuchtet werden, derer der Autor sich dann in seiner Umsetzung der Arcadia bedient.

2.1 Arkadien – graue Lebensrealität oder literarisches Idyll?

Dass der Begriff ‚Arkadien‘ auch heute noch bei vielen Literatur- oder Kunstinteressierten ein mehr oder weniger konkretes Bild im Kopf erzeugt, liegt wie bereits angedeutet weniger an der real existierenden gebirgigen, kargen Landschaft auf der Peleponnes[2], als vielmehr am literarischen Arkadien, das im Jahre 42 v. Chr. als solches von Vergil ‚entdeckt‘, von Iacopo Sannazaro über 1500 Jahre später erneut aufgegriffen und in den darauf folgenden Jahrhunderten (auch in der Kunst) weiterentwickelt wurde. Um eine möglichst objektive bzw. einheitliche Vorstellung dieses Bildes gewährleisten zu können, sei auf die Definition eines arkadischen locus amoenus von Dagmar Korbacher hingewiesen, die schon einige Facetten des Szenarios in der Arcadia antizipiert:

„In seiner Schönheit ist Arkadien ein sehr reizvoller Ort, an dem alle Sinne des Menschen auf angenehme Weise angesprochen werden. Schöngewachsene Bäume, grüne Wiesen und bunte Blumen erfreuen das Auge, murmelnde Bäche und Vogelgezwitscher das Ohr. Blüten, Früchte und Blätter duften süß, der weiche Rasen, eine klare Quelle und der Schatten unter den Bäumen laden ein zur Rast in der Mittagshitze und bieten Erfrischung für Körper und Geist. Nicht nur Sinnliches, auch das Übersinnliche, Numinose ist hier präsent, vornehmlich in Gestalt von Naturgottheiten wie Pan oder den Nymphen. Die eigentlichen Bewohner Arkadiens sind jedoch die Hirten, die ein ursprüngliches Leben mit und in der Natur führen. Ihr Alltag ist weniger von harter körperlicher Arbeit geprägt als vielmehr von Muße und dem Lagern im Schatten der Bäume. Dementsprechend sind sie kaum mit dem Wohlergehen ihrer Herde beschäftigt, sondern eher damit, eine unglückliche Liebe durch Musik und Gesang zum Ausdruck zu bringen und sich darin in musikalischen Wettkämpfen zu messen.“[3]

Dabei hat die geographische Realität Arkadiens, dieser graue und durchaus lebensunfreundliche Landstrich, mit dem Mythos, der sich wie ein roter Faden durch die europäische Literatur der post-humanistischen Jahrzehnte und Jahrhunderte zieht, rein gar nichts gemein. Warum also wurde gerade das ursprüngliche Arkadien „als ideales Reich vollendeter Seligkeit und Schönheit, als verwirklichter Traum unbeschreiblichen Glücks […], das dennoch vom Schein ‚süß-trauriger‘ Melancholie umgeben blieb“[4] derart idealisiert und welche Verbindung ließe sich zwischen dem fantastischen Bild und der vorhandenen landschaftlichen Realität herstellen? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden.

2.2 Der antike Ursprung und die ‚Erfindung‘ durch Vergil

Wie bereits angedeutet, geht diese „merkwürdige Verklärung“[5] Arkadiens zurück auf Vergil. Dieser hatte bei dem aus Arkadien stammenden und stark heimatverbundenen Polybios (Historiae IV, 20) gelesen, dass sich die Arkadier von früher Jugend an stetig im Singen übten und musikalische Wettkämpfe veranstalteten, was der augusteische Dichter daraufhin unmittelbar auf die dortigen Schäfer bezog, zumal Arkadien als Hirtenland die Heimat des Hirtengottes Pan war. Jenem schreibt Vergil die Erfindung der Flöte, die fortan symbolisch für die Bukolik insgesamt stehen und dessen Namen tragen sollte, ebenso zu wie die Schutzherrschaft über die dortigen Hirten[6]. Ovids Metamorphosen (1, 689-712) beschreiben mit der Geschichte von Pan und der Nymphe Syrinx den mythologischen Hintergrund der Entstehung der Panflöte. Dort wird die Metamorphose der vor der Liebe des Pan fliehenden Syrinx in Schilfrohre (calamos), welche mit Wachs verbunden sind, erklärt. Als der Wind durch die Rohre pfeift und schöne Klänge erzeugt, wird erstmals eine Komponente des Panflötenspiels herausgestellt, die für die Arcadia charakteristisch werden sollte: die lautliche Nähe zum Klang einer Klage[7].

Auf dieser Vorstellung begründet sich also das Bild der singenden Arkadier[8], welches den Landstrich überhaupt erst dazu legitimierte, zur Heimat der bukolischen Traumwelt zu werden.

Die Wahrnehmung Arkadiens divergiert bei anderen Autoren der Antike jedoch stark. Manche betonen die Kargheit und Schlichtheit der Heimat des Polybios, die nämlich ebenso aus dessen Schilderungen hervorgeht: während Juvenal etwa in Sat. VII, 160 einen besonders langweiligen Redner als Arcadic[us] iuueni[s] bezeichnet, entwirft Ovid in den Fasti ein Bild der Arkadier als rüdes, animalisches und unzivilisiertes Volk[9]. Indem letzterer den – für Vergil entscheidenden – Aspekt der Musikalität unerwähnt lässt, stellt er „das Arkadien des Polybios noch schlimmer hin als es war“[10].

So überrascht es kaum, dass weder griechische noch lateinische Dichter bis Vergil ihre Hirten in Arkadien auftreten lassen. Theokrit beispielsweise siedelt seine Idyllen auf Sizilien an, sodass Pan den Weg von Arkadien nach Sizilien auf sich nehmen muss, als der sterbende Daphnis dem Gott seine Hirtenflöte zurückgeben will.

Vergil aber idealisiert die Heimat des Polybios derart, dass er nicht nur die tatsächlich arkadischen Tugenden (z.B. die Musikalität) preist, sondern ihr auch Reize wie eine reiche Vegetation, den ewigen Frühling oder elegische Komponenten zuteilwerden lässt, die im realen Arkadien nicht vorzufinden sind. Im Grunde transferiert Vergil die Hirtendichtung Theokrits in ein „Arkadien seiner Vorstellung“, in dem sogar Arethusa, die Quellnymphe von Syrakus, den entgegengesetzten Weg im Vergleich zum Pan der Idyllen einschlägt[11]. Dadurch gelingt ihm die Synthese zweier unterschiedlicher Realitäten (die Tugend Arkadiens und die sinnliche Lieblichkeit Siziliens) zu einem fiktiven Bild, das durch seine beträchtliche Entfernung vom römischen Alltagsleben eigentlich dazu legitimiert ist, sich realistischer Interpretationen widersetzen zu können[12].

Vergil, der weit davon entfernt ist Theokrit als Vorgänger in der bukolischen Dichtung zu verkennen (Sicelides Musae), nimmt dessen Ideen auf und erweitert sie um Elemente, die auch für Sannazaros Arcadia von Belang sein werden: den Zusammenhang zwischen poetischer und politischer Welt (Ecl. IV, 1: Sicelides Musae, paulo maiora canamus!) sowie “la presenza di un prevalente interesse autobiografico”[13].

Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese Rückwendung auf und gleichzeitige Abwendung von Theokrit in Vers 1 der vierten Ekloge erfolgt. Vergil will dort maiora besingen, also Dinge, die über das rein Bukolische oder Mythische hinausgehen und mit dem Bereich des Wirklichen verlinkt sind[14]. Wenn er in der Folge die Geburt eines Erlösers prophezeit, der die Missstände beseitigen und alles verbessern werde, bildet alles Bukolische nur noch den Rahmen, sodass die Anspielung auf Oktavian gewissermaßen die Öffnung zum politischen Geschehen der Zeit manifestiert[15].

Dieses Phänomen ist somit ein vergilisches und bei Theokrit nicht zu finden. Zwar haben die Hirten in den Idyllen auch eher andere Dinge im Sinn als das Versorgen ihrer Herden, aber sie erscheinen nie „als unwirkliche Gestalten, denn der Zusammenhang mit dem Arbeitsalltag geht nie verloren“[16]. Obwohl die Dichtung Theokrits also um vieles wirklichkeitsnäher ist, spielt der zeitgenössische Bezug nur bei Vergil eine Rolle. Dennoch bleibt festzuhalten, dass auch bei ihm weder ein normativ motiviertes Eingreifen ins Tagesgeschehen noch eine aktive Mitgestaltung beabsichtigt oder in irgendeiner Weise realistisch ist; es zeigt vielmehr das „Nebeneinander und Ineinander von Wirklichem und Mythischem [auf], das so charakteristisch ist für alles Arkadische“[17].

Am stärksten tritt das arkadische Milieu in der zehnten und letzten vergilischen Ekloge zutage, die nicht nur in Arkadien verortet ist und in der die Arkadier direkt angerufen werden (s.o. Ecl. X, 31-33a), sondern die auch das Liebesklagen des Gallus zum Thema hat und das gleichzeitige Auftreten von Mensch, Tier und Göttern ermöglicht[18]. Der Topos der unglücklichen Liebe und elegische Elemente im Allgemeinen sind spätestens seit Vergil für das Verständnis von Bukolik so zentral, dass die Grenzen der Gattungen häufig zu verwässern scheinen[19]. Exemplarisch dafür stehen das aphoristisch anmutende und so berühmt gewordene O mnia vincit Amor: et nos cedamus Amori (Ecl. X, 69) und die darin angedeuteten Motive des servitium amoris und der dura puella. Weit mehr noch als bei Theokrit geht es also um das „Dichterisch-Träumende, das Umfassend-Liebende und das Empfindsam-Leidende“[20] in einer Landschaft, die „im goldenen Dunst der Ferne verschwamm“[21] und für Vergil selbst, der eine Ausflucht aus der trüben Zeit und einer Welt, die ihm allzu roh erscheint, sucht, „zum Spiegel seiner Persönlichkeit, zur Seelenheimat“[22] wird.

Das bei Theokrit noch bemühte Element des Komischen und Humorvollen verschwindet in den Eklogen komplett und weicht dem Sentimentalen, der Sehnsucht nach Liebe, Frieden und Heimat, der „Ruhe des Feierabends“. Die Hirten werden besonders in den späteren Eklogen feine, die Welt und sich selbst reflektierende Menschen „im Schimmer des Gefühls“[23].

Damit war die literarische Umsetzung im Grunde von Vergil an nicht nur dem eigentlichen Arkadien, sondern auch der bisweilen von Leid geprägten Alltagswelt des Autors, der Gesellschaft und Ordnung seiner Zeit entgegengesetzt[24]. Aufgrund der Distanz konnte aber alles Heidnisch-Antike Bestand haben, ohne mit irgendeiner Instanz in Konflikt zu geraten[25]. Arkadien wird somit eine Funktion zuteil, die besonders nach der Wiederentdeckung durch Sannazaro in verschiedensten Wunsch- und Traumbildern, in einer “irrequieta malinconia”[26], ihren Ausdruck findet und die stets die Vorstellung von einem „der Lebensnot entrückten Dasein“[27] evoziert.

Dabei darf allerdings nicht vernachlässigt werden, dass auch bei Vergil die Thematik des Todes – dargestellt durch das Grab des Daphnis in der fünften Ekloge – präsent ist und in der späteren Bukolik und bildenden Kunst (siehe das später thematisierte Et in Arcadia ego -Motiv) ein fast unentbehrlicher Bestandteil Arkadiens werden wird[28].

Diese Gestaltung des augusteischen Dichters bildet also den Anfangs- und Ausgangspunkt für den literarischen Topos Arkadiens, gewissermaßen als eine „funktionalisierte Landschaft, die in einen real existierenden Raum projiziert wurde“[29].

Somit hat Vergil der Hirtendichtung nicht nur eine neue Heimat, sondern mit der Verknüpfung von Traum und Realität, dem Zusammenhang von Kummer und Sehnsucht, der poetischen und politischen Welt auch eine neue Dimension verliehen, die dann eine „hinreichende substantielle Attraktivität [bot], um zu einer der maßgeblichen Formen der europäischen Literatur ausgebaut und als flexibles literarisches Organ auf wechselnde geschichtliche Situationen bezogen werden zu können“[30].

2.3 Boccaccio, die Bukolik des Trecento und andere (zeitgenössische) Vorläufer der Arcadia Sannazaros

Dennoch, und das mag vielleicht überraschen, bleibt die Bukolik und der Arkadien-Topos (bis auf einige für unseren Kontext eher unbedeutende Ausnahmen) in den folgenden Jahrhunderten weitestgehend unbeachtet. Das liegt einerseits an der Tendenz der spätantiken und mittelalterlichen Autoren, sich vorrangig mit scheinbar bedeutenderen und größeren Gattungsformen beschäftigen zu wollen, aber vor allem am verstärkten Aufkommen des Christentums, das aufgrund der Inkompatibilität mit allem Arkadischen bricht und stattdessen den Garten Eden und die Vorstellung des christlichen Paradieses etabliert und propagiert. Dadurch verschwindet die pagane Götterwelt – und mit ihr auch ihr bukolischer Vertreter Pan – für Jahrhunderte komplett von der Bildfläche.

Erst zu Beginn der 1340er-Jahre taucht Arkadien in Giovanni Boccaccios Ninfale dAmeto (13,5) – zumindest als Name und somit in indirekter Form – wieder auf: es wird verkörpert durch einen Hirten namens Alcesto di Arcadia, der als Abgesandter des griechischen Landstrichs „das Ideal einer rauhen und gesunden Müßigkeit, wie wir es von Polybios und Ovid her kennen, gegenüber Reizen von Reichtum und Luxus“[31] verteidigt. Der Schauplatz selbst bleibt jedoch die Toskana. Immerhin evozieren Boccaccios Landschaftsbeschreibungen, die Mythologisches mit der Einfachheit des Hirtenlebens und eine amoene Natur mit der Liebesthematik verbinden, die Vorstellung proto-arkadischer Elemente und ein noch verschwommenes Bild, das Sannazaro dann aufnehmen, schärfen und vervollständigen wird. Davon abgesehen ist die wiedererweckte Pan-Symbolik im Kreis um Lorenzo de’ Medici aber die einzig erkennbare und nennenswerte Vorstufe zum neapolitanischen Autor in Bezug auf das literarische Arkadien[32].

[1] Das Werk wird bisweilen Ninfale d'Ameto genannt und als solches fortan auch bezeichnet.

[2] Snell (1976) 14 nennt es das „banale Arkadien“.

[3] Korbacher (2007) 13-14.

[4] Panofsky (1976) 273.

[5] Bloch (1968) 41.

[6] Verg. Ecl. 2, 32-33: Pan primum calamos cera coniungere pluris / instituit, Pan curat ovis oviumque magistros;.

[7] Ov. Met. 1, 707-708: Panaque cum prensam sibi iam Syringa putaret, / corpore pro nymphae calamos tenuisse palustres, / dumque ibi suspirat, motos in harundine ventos / effecisse sonum tenuem similemque querenti. Sannazaro erzählt die Geschichte in Prosa X, 13-14 nach.

[8] Vergil, Ecl. 10, 31-33a: Tristis at ille: "Tamen cantabitis, Arcades, inquit, / montibus haec uestris, soli cantare periti / Arcades".

[9] Ovid, Fast. II, 289-292: Ante Jovem genitum terras habuisse feruntur / Arcades, et luna gens prior illa fuit. / Vita ferae similis, nullos agitata per usus; / Artis adhuc expers et rude volgus erat.

[10] Panofsky (1976) 276.

[11] Vgl. ebd.

[12] Vgl. die Ausführungen von Panofsky (1976) 276-277: ihm zufolge vermitteln schon die griechischen Worte und Namen von Pflanzen, Tieren, etc, im Kontext lateinischer Verse diese Atmosphäre des Unwirklichen. Dennoch entstehe eine visuelle Eindringlichkeit, die „jeden Leser in seiner inneren Erfahrung unmittelbar [anspreche]“.

[13] Paratore (1961) 8.

[14] Geradezu als Rechtfertigung fügt er hinzu: non omnis arbusta iuvant humilesque myricae; / si canimus silvas, silvae sint consule dignae. (Ecl. IV, 2-3)

[15] Der bereits in der Spätantike angestrengte Versuch, den Erlöser mit der Figur von Jesus Christus gleichzusetzen, was Vergils Popularität im Mittelalter tatsächlich mitbegründete, scheitert nicht zuletzt am Vorkommen anderer Götter und an den historischen Anspielungen (z.B. das Konsulat von Pollio). Garber (2009) 35-36 verweist zudem auf ein weiteres Eingreifen eines ‚Gottes‘, hinter dem erneut Oktavian vermutet wird: im Kontext der Landverteilung in Cremona und Mantua (Ekloge I). Eindeutig wird der Bezug jedoch, wenn Anchises im Unterweltsbuch VI der Aeneis die Rückkehr des Goldenen Zeitalters mit der Person des Oktavian verknüpft: hic vir, hic est, tibi quem promitti saepius audis, / Augustus Caesar, divi genus, aurea condet / saecula qui rursus Latio regnata per arva / Saturno quondam, super et Garamantas et Indos / proferet imperium; (Verg. Aen. VI, 791-795a).

[16] Reinhardt (1988) 25.

[17] Snell (1976) 25.

[18] Snell (1976) 17: „Niemand […] vor Vergil lässt Menschen der Gegenwart sich ernsthaft zwischen göttlichen Wesen bewegen.“.

[19] Unglücklich verliebte Hirten gibt es allerdings schon vorher: um 600 v. Chr. erzählt Stesichoros die Geschichte von Daphnis; auch die Musikalität von Hirten wird bereits lange vorher thematisiert und z.B. auf dem Schild des Achill (Ilias 18, 525) in einer Szene, in der sich Hirten am Spiel der Syrinx erfreuen, festgehalten (Snell [1976] 18-19).

[20] Snell (1945) 37.

[21] Snell (1976) 15.

[22] Stracke (1981) 5. Eine kurze Anmerkung verdient sicherlich die Figur des Dichters, die in Vergils Eklogen mit dem Hirten gleichgesetzt wird. Der pastorale Raum wird zum Raum des Gesangs, zur Dichtung selbst, vgl. Garber (2009) 37.

[23] Für beide Zitate siehe Snell (1976) 22; Meyers Großes Konversationslexikon (Bd. 1, Leipzig/Wien 61904, S. 770) erklärt: „Die alte unverdorbene Sitte und mit ihr Kraft, Wohlsein und Frohsinn erhielten sich noch in Arkadien, als das übrige Griechenland bereits moralisch untergegangen war. So kam es, daß [sic!] die Dichter Arkadien als das Land der Unschuld und des stillen Friedens priesen.“.

[24] Vgl. etwa Strosetzki (2008) 17; Wehle (2008) 42 verweist zwar auf die Unmöglichkeit eines Realtitätsbezuges, da das literarische Arkadien sich stets unverhohlen „zu seinem Irrealis bekannt“ habe (Wehle [2008] 55). Inwiefern aber doch Bezüge zur Realität in Sannazaros Arcadia zu finden sind, wird im Folgenden noch thematisiert werden.

[25] Vgl. Snell (1976) 43.

[26] Altamura (1951) 36.

[27] Petricioni (1976) 182. Auch Maria Corti, eine profunde Kennerin des sannazarianischen Werkes, stellt – auf Snell bezugnehmend – die Komponente des Traumes im Kontext der arkadischen Welt heraus, wenn sie sagt: “la vita dei pastori […] è più sognata che vissuta“ (Corti [1969a] 286).

[28] vgl. Panofsly (1976) 279, der auch auf das Mittelalter Bezug nimmt, in dem man die Seligkeit im Paradies und „nie in einem irdischen Bereich, so vollkommen er auch sein mochte“ suchte.

[29] Korbacher (2007) 13.

[30] Garber (1976) VIII.

[31] Panofsky (1976) 280.

[32] Vgl. Schmidt (1975) 52: das bloße ‚Wiederbeleben‘ des arkadischen Gottes spielt dabei aber eine nicht unwichtige Rolle, da es den Blick und das Gedächtnis des Lesers auf Vergils Arkadien zurückgelenkt haben könnte.

Ende der Leseprobe aus 82 Seiten

Details

Titel
"Et in Arcadia ego". Das humanistische Erbe des Arkadien-Topos bei Iacopo Sannazaro
Hochschule
Universität Münster  (Romanische Philologie)
Note
1,5
Autor
Jahr
2016
Seiten
82
Katalognummer
V345489
ISBN (eBook)
9783668352261
ISBN (Buch)
9783668352278
Dateigröße
1164 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Arkadien, Goldenes Zeitalter, Humanismus, Neapel, Sannazaro, Bukolik
Arbeit zitieren
André Markmann (Autor:in), 2016, "Et in Arcadia ego". Das humanistische Erbe des Arkadien-Topos bei Iacopo Sannazaro, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/345489

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: "Et in Arcadia ego". Das humanistische Erbe des Arkadien-Topos bei Iacopo Sannazaro



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden