Der Flaneur in Paul Leppins "Severins Gang in die Finsternis"


Hausarbeit, 2014

14 Seiten, Note: 1,0

Philipp Zeidler (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Definitionen des Flaneurs

3. Der Protagonist Severin

4. Die Nebenfiguren und Severins Beziehungen zu ihnen

5. Die Rolle der Stadt Prag

6. Die Finsternis

7. Fazit

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Der deutsch-tschechische Schriftsteller Paul Leppin veröffentlichte seinen Roman „Severins Gang in die Finsternis. Ein Prager Gespensterroman“ im Jahr 1914. Das Werk lässt sich thematisch zwei Bereichen zuordnen. Sowohl jener Literatur, welche sich mit dem Flaneur bzw. dem Flanieren als Tätigkeit beschäftigen oder davon handeln. „Severins Gang in die Finsternis“ ist jedoch ebenso ein Werk des „Prager Textes“. Ein „Prager Text“ ist prinzipiell jeder Text jedweder Epoche, welcher sich mit Prag befasst und „[…] eine spezifische Aussage über diese Stadt treffen.“[1] Wie viele andere Werke aus der Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts verarbeitet auch Leppins Roman das Motiv eines geheimnisumwobenen und mythischen Prags. Es wird jedoch auch ein Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Stadt zur damaligen Zeit gezeichnet. Die Beziehung zwischen dem deutschstämmigen Severin und der tschechischen Zdenka nimmt eine wesentliche Rolle in der Handlung ein. Auch Minderheiten wie Juden (in Gestalt Lazarus Kains und seiner Tochter Susanna) und Russen (Nathan Meyer) nehmen Rollen in dem Geschilderten ein.

Im Folgenden soll zunächst der Begriff „Flaneur“ eingehender betrachtet werden. Mithilfe der Schriften Walter Benjamins, welcher den Begriff begründete, jedoch nicht ausschließlich aus dessen Ausführungen heraus, soll eine Klärung des Begriffes erfolgen. Des Weiteren erfolgt dann eine Analyse und Interpretation des Romans. Die einzelnen Aspekte dabei sind Severin als der Protagonist der Handlung, die Nebenfiguren und seine Beziehungen zu ihnen, die Rolle der Stadt Prag als Handlungsort und Protagonist für sich sowie die Begrifflichkeiten der Finsternis und des Gespenstischen. All das berücksichtigend sollen die Fragen geklärt werden, ob Severin ein „klassischer“ Flaneur im Sinne der Definitionen vom Anfang ist; worin sein Antrieb liegt, immer wieder durch die Stadt zu „flanieren“ und was das Werk zu einem „Gespensterroman“ machen bzw. worin das „Gespenstische“ in der Handlung liegen soll.

2. Definitionen des Flaneurs

Walter Benjamins „Passagen-Werk“ stellt eine Analyse der Stadt Paris dar. Er betrachtete die europäische Metropole dabei als Beschreibung einer „[…] modernen Gedächtnis- und Erinnerungskultur“, in welcher sich ihre Vergangenheit und Geschichte in Form bruchstückhaft vorkommender Anlehnung an vergangene Kulturstile, als ein „mythologisches Echo“ oder als Nachahmung „fremdkultureller Bilder“ äußert.[2] Für Benjamin sind Gebäude, Straßen, Plätze und ähnliche materielle Manifestationen des Stadtbildes Spuren des Vergangenen. Er sieht darin nicht die Manifestation von Sinn oder Tradition, sondern zweideutige Zeichen der Geschichte der Stadt. An dieser Stelle kommt der Flaneur ins Spiel. Denn nur Passanten und Bewohner der Stadt sind in Lage, diese Spuren und Zeichen zu entdecken und zu deuten.

Die Übertragung der Gedanken und Texte Benjamins aus dem Paris der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in eine andere Zeit – wie beispielsweise das Prag Paul Leppins um 1914 - mag zunächst nicht ohne weiteres möglich sein. Doch allgemein betrachtet tat auch Walter Benjamin nichts anderes, als (Vergangenheits-)Texte aus ihrer Geschichte herauszulösen und sie in eine andere Zeit einzuschreiben.[3]

Benjamin stellt den Flaneur nun eng in Zusammenhang mit einer kollektiven Erinnerung. Er meint, Erinnerung sei ein Akt des Kollektivs der Bewohner der Stadt „auf die medial vermittelten Effekte materieller Signifikanten.“[4] Doch erst der Flaneur in der Großstadt ist in der Lage, die Zusammenhänge zwischen Topographie, Medienrezeption und Erinnerung zu erkennen, zu entschlüsseln und in eigene Gedanken und Texte zu transformieren. Der Flaneur ist somit ein „Idealtypus“, ein Konstrukt, durch welches kollektive Erinnerungsmuster geäußert werden. Das wesentliche und den Flaneur am meisten determinierende ist also, dass er Dinge in der Stadt sieht und erkennt, die nicht sofort jedem erkennbar erscheinen. Er „liest“ die Stadt. Er geht durch die Großstadt als eine Welt voller Abenteuer für ihn. Durch sein Erkennen und Durchschauen der Dinge offenbaren sich ihm ständig Neuigkeiten und Überraschungen. Er erlebt und erfährt die Stadt mit angespannter Erregung.[5] Das ist der Rausch, von dem Benjamin spricht.

„Das Gehen gewinnt mit jedem Schritte wachsende Gewalt;

immer geringer werden die Verführungen der Läden, der Bistros,

der lächelnden Frauen, immer unwiderstehlicher der Magnetismus

der nächsten Straßenecke, einer fernen Masse Laubes, eines Straßennamens.“[6]

Das Lesen von Spuren ist eine Kunst, welcher der Flaneur sehr gut beherrscht. Er hat die Begabung, aus von anderen Bewohner sehr wenig beachteten, weil nicht erkannten und dadurch vergessenen Zeugnissen vergangener Zeiten Geschichten herauszulesen. Er ist ein Eingeweihter in verborgene Geschichten, welche nur er zu lesen vermag und um die zu finden er durch die Stadt geht.

„Den Flanierenden leitet die Straße in eine entschwundene Zeit.

Ihm ist eine jede abschüssig. Sie führt hinab, wenn nicht zu den

Müttern, so doch in eine Vergangenheit, die um so bannender

sein kann als sie nicht seine eigene, private ist.“[7]

Bei dem Sammeln der Eindrücke und Erinnerungen geht der Flaneur mit großer Genauigkeit vor. Er ist stets bereit, eine Spur sobald sie sich ihm bietet zu verfolgen. Dabei sucht er bewusst nicht immer an den belebtesten und am meisten frequentierten Orten der Stadt. In abgelegenen Winkeln sucht er nach Überresten der Vergangenheit.[8]

Das Lesen der Stadt und ihrer Spuren kann sich in verschiedenen Formen äußern: „[S]elbstvergessender Straßenrausch, […] historische[s] Eingedenken und […] soziologische Analyse urbaner Raumkonfigurationen“[9]. Übereinstimmendes Merkmal bei jeder dieser Tätigkeitsausprägungen ist jedoch stets das langsame Tempo des Flaneurs. Seine „provozierende Langsamkeit“ ist bewusst gewählt als Gegenstück zur hektischen Betriebsamkeit der termingetriebenen Bürger. Durch diese Verweigerung der Anpassung kann durchaus ein Konflikt mit der urbanen Umwelt, in welcher die Flanerie sich heimisch zeigt, entstehen.[10] Der innere Rausch, den der Flaneur erfährt, steht scheinbar in Widerspruch zu seiner langsamen Ganggeschwindigkeit. Selbige ist jedoch auch Ausdruck für ein weiteres Merkmal eines jeden Flaneurs. Er fühlt sich frei von alltäglichen Verpflichtungen, wie sie die ihn umströmenden Stadtbewohner noch stark bestimmen. „[Das] Flanieren kann unter diesem Aspekt als Sublimationshandlung verstanden werden.“[11]

Dieser unter Umständen entstehende Konflikt weist auf einen weiteren Aspekt der Flanerie hin: Sie muss geduldet werden. Den Flaneur stört die Hektik seiner Mitmenschen nicht, wohl aber sein Spazieren seine Mitmenschen. Er selbst hingegen empfindet es zuweilen sogar als angenehm, der Eile der anderen zu trotzen. Mit dieser Feststellung gelangt man zu einem weiteren Aspekt der Flanerie: der Motivation und dem Vergnügen des Flaneurs. Hierbei kommt es darauf an, „Vernunftgründe“ von vornerein nicht als maßgebend für das Handeln des Flaneurs zu betrachten. Gerade die für Außenstehende vermeintliche Zweck- und Ziellosigkeit führt bei dem Flanierenden zu einer Selbstvergessenheit und einem inneren „Sich-gehen-lassen“, welches ihm soviel Freude bereitet. Er sucht ein kommunikatives, impulsiv bestimmtes und emotional tiefgehendes Verhältnis zu seiner urbanen Umwelt. Dabei erreicht er „eine sanfte Form der Verausgabung, die sich leicht bis zur auszehrenden Besessenheit steigern kann.“[12]

Bei all diesen Überlegungen darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der Flaneur zwar hauptsächlich in seinem Seh- und Erfahrungsprozess auf der Suche nach echten und glaubwürdigen Großstadt-Erfahrungen ist, jedoch auch in nicht unwesentlichem Maße dadurch zu einem Teil eben jenes Szenarios wird, welches er zu durchschauen sucht.[13]

3. Der Protagonist Severin

Nach all diesen theoretischen und allgemeinen Ausführungen zur Flanerie und dem Flaneur ist es nun an der Zeit, sich dem Roman und seinen Facetten zu widmen.

Im Zentrum der Handlung steht der junge, mit seiner Arbeit unzufriedene Severin. Er lebt seit seiner Kindheit in Prag. Er „hatte nach zwei oder drei Semestern seine Studien aufgegeben und eine Stellung angenommen“ und verrichtet nun eine „quälende Bureauarbeit“.[14] Die Tatsache, dass er als junger Mensch (er ist dreiundzwanzig Jahre alt) sein Studium abgebrochen hat und nun eine ihn offensichtlich nicht erfüllende Arbeit ausübt, deutet bereits auf eine gewisse Perspektivlosigkeit hin. Dementsprechend erhält man bereits zu Beginn den Eindruck, dass Severin alles andere als glücklich ist. Nach der Arbeit ist er „zerrüttet“, sein Gesicht ist „kränklich“ und es fallen Begriffe wie „Missmut“ und „Unruhe“.

Severin geht regelmäßig, vor allem nachts, durch die Stadt. Dabei beobachtet er die Menschen „mit weit geöffneten Augen“.[15] Die erste Voraussetzung, um ihn einen Flaneur nennen zu können, ist damit erfüllt. Jedoch entsteht beim Lesen der Eindruck, dass Severin nicht auf der Suche nach Spuren vergangener Erinnerungen der Stadt ist. Vielmehr scheint ihn eine innere Rastlosigkeit und Unruhe anzutreiben. Begriffe wie „Kargheit“, „Mattigkeit“ und „Bitterkeit“ beschreiben seine inneren Empfindungen. Dabei ist er stets von der Furcht getrieben, dass dieser Zustand der dumpfen Rastlosigkeit auch in Zukunft nicht weichen werde:

„Manchmal befiel ihn eine unsinnige Furcht und ein Entsetzen,

dass sein Leben so im Sande verlaufen würde. Seit er erwachsen

war und sein Brot verdiente, wuchsen nüchterne und kahle Mauern

rings um ihn auf, die ihm die Aussicht versperrten. Wohin er auch

[...]


[1] Fritz, Susanne: Die Entstehung des „Prager Textes“. Prager deutschsprachige Literatur von 1895 bis 1934, Dresden 2005, S. 14.

[2] Goebel, Rolf J.: Europäische Großstadttopographie und globale Erinnerungskultur. Benjamins Passagen-Werk heute, in: Topographien der Erinnerung, hg. von Bernd Witte, Würzburg 2008, S. 74.

[3] Ebd.

[4] Ebd., S. 75.

[5] Opitz, Michael: Lesen und Flanieren. Über das Lesen von Städten, vom Flanieren in Büchern, in: Aber ein Sturm weht vom Paradiese her. Texte zu Walter Benjamin, hgg. von Michael Opitz und Erdmut Wizisla, Leipzig 1992, S. 162.

[6] Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Erster Teil (Gesammelte Schriften, Bd 5), 2. Auflage, Frankfurt 1982, S. 525.

[7] Ebd., S. 524.

[8] Opitz: Lesen und Flanieren, S. 180.

[9] Bienert, Michael: Die eingebildete Metropole. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik, Stuttgart 1992, S. 78.

[10] Ebd.

[11] Degner, Uta: Die Figuren des Flanierens. Autor, Leser, Text, in: Berlin-Flaneure. Stadt-Lektüren in Roman und Feuilleton 1910-1930, hg. von Peter Sprengel, Berlin 1998, S. 48.

[12] Bienert: Die eingebildete Metropole, S. 81.

[13] Goebel: Europäische Großstadttopographie, S. 76.

[14] Leppin, Paul: Severins Gang in die Finsternis. Ein Prager Gespensterroman, Prag 1998, S. 11.

[15] Ebd., S. 12.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Der Flaneur in Paul Leppins "Severins Gang in die Finsternis"
Hochschule
Universität Erfurt
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
14
Katalognummer
V343151
ISBN (eBook)
9783668329621
ISBN (Buch)
9783668329638
Dateigröße
518 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
flaneur, paul, leppins, severins, gang, finsternis
Arbeit zitieren
Philipp Zeidler (Autor:in), 2014, Der Flaneur in Paul Leppins "Severins Gang in die Finsternis", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/343151

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