Der Einfluss von sozialen Medien auf den Verlauf von Revolutionen

Agentenbasierte Modellierung in NetLogo


Hausarbeit, 2014

28 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Historische und zeitgenössische Revolutionen im Überblick
2.1 Bedeutende und wegweisende Revolutionen in der Epoche der Neuzeit
2.1.1 Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg
2.1.2 Französische Revolution
2.2 Arabischer Frühling und die Bedeutung der sozialen Medien
2.3 Herausbildung eines einheitlichen Verlaufsschemas von Revolutionen

3. Modellierung der Simulation einer Revolutionsbewegung
3.1 Agentenbasierte Modelle zur computergestützten Simulation
3.2 Modellierungs-Software NetLogo als Grundlage der Simulation
3.3 Epstein-Modell zur Erklärung und Darstellung bürgerlicher Aufstände
3.3.1 Verhaltensweisen der Agentengruppe der Bevölkerung
3.3.2 Handlungsweise der Agentengruppe der Ordnungskräfte
3.4 Implementierte Erweiterungen in das ursprüngliche Epstein-Modell
3.4.1 Soziale Medien als Katalysator der zeitnahen Informationsverbreitung
3.4.2 Skalierbarkeit der Verhaftungswahrscheinlichkeit.
3.4.3 Segregation zur Verringerung der individuellen Inhaftierungsaussichten
3.4.4 Learning-Fähigkeit der Demonstranten als Ausdruck des Kleinmuts
3.5 NetLogo-Modell Rebellion

4. Ergebnisauswertung der NetLogo-Simulation
4.1 Einfluss sozialer Medien wächst mit steigender Regierungs-Legitimität
4.2 Nutzen sozialer Medien steigt bei erhöhter Polizei-Aggressivität
4.3 Ordnungskräfte profitieren kaum durch die Daten der sozialen Medien
4.4 Fazit der betrachten Resultate und mögliche Modell-Modifikationen

5. Anwendungsnutzen des Modells für die Wirklichkeit

6. Schlussteil

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Verlauf einer typischen Revolution

Abbildung 2: Einführendes Schema zur Agenten-Interaktion

Abbildung 3: Das Turtle-Patch-Observer-Prinzip

Abbildung 4: Generationen der Programmiersprachen

Abbildung 5: Observer-Sicht auf das Modell Rebellion und dessen Dashboard

Abbildung 6: Gewählte Grundannahmen im NetLogo-Modell

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Der Wind der Veränderung hat bereits des Öfteren Einzug gehalten in die Geschichte der Menschheit; so hat die Erhebung der französischen Bevölkerung gegen ihren absolutistischen König eine Welle des Aufbegehrens in den europäischen Staaten ausgelöst. Eine ähnliche Situation lässt sich seit Beginn dieser Dekade im arabischen Raum am Mittelmeer beobachten, mit einem stetig wachsenden dramatischen Ausgang.

Revolutionen haben die geschichtliche Neuzeit entscheidend geprägt und führten somit zur Neuordnung der staatlichen Autorität bzw. leiteten die Entstehung der modernen Welt ein. Vor allem in den westlichen Staaten haben die verschiedenen Aufstände der Bevölkerungen gegen monarchischen Machtmissbrauch und Unterdrückung im späteren historischen Verlauf erheblich zu den hohen Lebensstandards in Europa und Nordamerika beigetragen. So haben die Losungen der Französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit einen prägenden Einfluss auf die Grundzüge der anschließend entstandenen Demokratien in den verschiedensten Regionen der Welt. Durch die Ausstattung mit diesen Grundfreiheiten und einem gesicherten rechtlichen Handlungsraum im wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Kontext wurde die Entwicklung eines starken und nachhaltigen Unternehmertums in diesen Staaten zu Beginn des 19. Jahrhunderts überhaupt erst ermöglicht bzw. als rentabel erachtet.

Der Wunsch nach Befreiung aus der Fremdbestimmtheit, der Kampf für Mitbestimmungsrechte und einem lebenswerten Dasein führte auch zum Ende des Jahres 2010 in eine Kette von Geschehnissen, welche unter dem Namen Arabischer Frühling in die Geschichtsbücher eingehen wird, und deren Auswirkungen noch weit in die Zukunft andauern werden. Von Tunesien ausgehend verbreitete sich eine Welle der Erhebung gegen die Obrigkeiten in vielen arabischen Staaten. Diese führte zu den verschiedensten Ergebnissen und Konsequenzen für die dort lebenden Menschen und sogar darüber hinaus, wenn man sich die durch die Folgen des Bürgerkrieges in Syrien entstandene IS Terrororganisation betrachtet. Trotz der verschieden Ausgangslagen und Resultate hatte die Widerstandsbewegung doch eines gemein: die Demonstranten organisierten sich weitestgehend durch die Nutzung einer voranschreitenden technischen Anwendung: den sozialen Medien bzw. Netzwerken. So versuchten die Despoten und Regierenden der betroffenen Staaten diesen Weg der Kommunikation gänzlich zu unterbinden, um die Protestbewegungen bereits in ihrem Aufbau zu beeinträchtigen und die Verbreitung der Aufklärungsideen im Keim zu ersticken.

So stellt sich aus diesem Vorgehen die Frage, unter welchen Bedingungen wird die Entstehung und der Verlauf von Revolutionen durch die sozialen Medien beeinflusst?

Auf den ersten Blick dürfte man geneigt sein zu beurteilen, dass eine Beeinträchtigung dieser Kommunikationsmöglichkeiten die Protestbewegung zwar verlangsamen dürfte aber nicht endgültig schaden könnte. Im Rahmen des Seminars „Modellierung sozialer und ökonomischer Prozesse“ an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg am Lehrstuhl für Politische Theorie und am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, insbes. Soziale Netzwerke, wurde diese Fragestellung von meinen beiden Kommilitonen Michael Döll, Michael Schicktanz und mir sowie unterstützend durch die beiden Lehrstuhlinhaber und Seminarleiter Prof. Dr. Johannes Marx und Prof. Dr. Kai Fischbach näher untersucht. Die Ergebnisse dieser Gruppenarbeit werden in dieser Hausarbeit dargestellt und es wird versucht einen Überblick über einen möglichen Nutzen des in diesem Seminar entstandenen NetLogo-Modells zusammenfassend darzustellen.

Die Vorgehensweise der bisher geleisteten Arbeit kann in vier Gliederungspunkte eingeteilt werden. Begonnen wurde mit der Erarbeitung der Abläufe und Ergebnisse bedeutender Revolutionen und bürgerlicher Aufstände. Dabei wurde mit den entsprechenden Ereignissen im 18. Jahrhundert begonnen: von der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung über die Französische Revolution bis hin zu den Geschehnissen in den arabischen Staaten seit Anfang der aktuellen Dekade. Daraus wurden allgemeingültige Verhaltens- und Handlungsmuster aggregiert, welche als Grundlage unserer theoretischen Überlegungen bezeichnet werden können. Nachdem diese historischen Ereignisse in adäquater Weise betrachtet und für unsere Zwecke zusammengefasst wurden, konnte mit der Erlangung der Fähigkeiten zur Anwendung der Programmierumgebung bzw. Simulationssoftware NetLogo begonnen werden. Einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der hier behandelten Problematik lieferte das erstmals im Jahre 2001 von den Autoren Joshua M. Epstein, John D. Steinbruner sowie Miles T. Parker veröffentlichte Epstein-Modell. Dieses Modell zur Darstellung und Erklärung bürgerlicher Aufstände bildet die Basis der hier präsentierten Simulation, das jedoch durch verschiedene Erweiterungen und Anpassungen für die Lösung unserer Fragestellung adaptiert wurde. So stellt die Einbeziehung der sozialen Medien in das ursprüngliche Modell die wohl signifikanteste Neuerung dar, welche gleichzeitig als der wichtigste Betrachtungspunkt der Simulation anzusehen ist. Abschließend werden die aus der Anwendung des Multi-Agenten-Programms erzeugten und für die Klärung der Ausgangsfrage bedeutendsten Informationen kurz dargestellt und entsprechend ausgewertet sowie interpretiert, um eventuelle Handlungsalternativen bzw. -Empfehlungen für zukünftige Geschehnisse ableiten zu können. Das Ziel der zugrundeliegenden Gruppenarbeit sollte aus idealistischer Sicht möglichst sein, dass Aufständische gegen Unrecht und Unterdrückung eine Anwendung erhalten, mit deren Hilfe eine Prognose und Validierung entsprechender Vorgehensweisen und Taktiken erlaubt wird; was zum gegenwärtigen Zeitpunkt und Arbeitsstand jedoch nicht zutrifft.

2. Historische und zeitgenössische Revolutionen im Überblick

Der Begriff Revolution beschreibt eine schnelle, radikale und in den überwiegenden Fällen gewaltsame Veränderung der gegebenen Bedingungen im politischen, sozialen, oder/ und ökonomischen Kontext. So haben politische Revolutionen meist das Ziel, die amtierenden Führer bzw. Regierenden abzusetzen und damit einen Führungs- und Machtwechsel herbeizuführen. Die in dessen Folgen eintretenden schwerwiegenden Veränderungen sollen in der Regel einen politischen Neuanfang forcieren, um die gegenwärtigen Missstände, das gravierende Missmanagement und/ oder die bisherigen Machtstrukturen zu beseitigen. Damit ist meist auch eine radikale Neuordnung der wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Verhältnisse, Strukturen und der gesetzlichen Rahmenbedingungen verbunden. (vgl. Schubert/ Klein 2011)

In diesem Anschnitt sollen die zum Verständnis der Entstehung sowie Abläufe einer Revolution notwendigen Grundlagen kurz aufgeführt und abschließend durch ein allgemeingültiges Verlaufsschema bzw. -Muster zusammenfassend dargestellt werden.

2.1 Bedeutende und wegweisende Revolutionen in der Epoche der Neuzeit

Revolutionen führten in den vergangenen Jahrhunderten stetig zu einer Neuordnung der Staatenwelt und ermöglichten somit die Entstehung der modernen Welt. Als Beispiele hierfür sollen zwei historische Großereignisse dienen; dabei handelt es sich um den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und die Französische Revolution.

2.1.1 Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg

Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg begann im Jahre 1775 und endete formal mit dem Frieden von Paris 1783, wodurch die britische Herrschaft über die 13 nordamerikanischen Kolonien beendet wurde und die Vereinigten Staaten von Amerika endgültig unabhängig waren. Auslöser dieser Unabhängigkeitsbestrebungen des amerikanischen Volkes war die ungleiche Behandlung und rechtliche sowie steuerliche Schlechterstellung der Kolonialisten gegenüber den Menschen auf den britischen Inseln. Bereits vor Beginn des Krieges kam es zu Übergriffen auf die Soldaten der britischen Kolonialherren. So ereignete sich im Jahre 1773 die als Ausgangspunkt der weiteren Ereignisse anzusehende „Boston Tea Party“, bei der die amerikanischen Aufständischen die Handelsschiffe der Briten enterten und die an Bord befindlichen Teekisten in das Bostoner Hafenbecken warfen. Ein Jahr später traten führende Vertreter der 13 Kolonien auf dem ersten Kontinentalkongress in Philadelphia zusammen, um Lösungen gegen die britischen Freiheitsbeschränkungen zu erarbeiten. So wurde mit der Declaration of Rights und einer damit verbundenen Petition an den britischen König George III. ein gemeinsames Zeichen der Kolonien gegen die Unterdrückung gesetzt. Des Weiteren wurde zum Boykott britischer Waren aufgerufen. Während des seit 1775 tagenden zweiten Kontinentalkongresses brach ein bewaffneter Konflikt zwischen den Kolonialbürgern und der britischen Armee aus, was endgültig zum Ausbruch des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges führte. So wurde innerhalb der verschiedenen Zusammenkünfte im Rahmen des zweiten Kontinentalkongresses die Gründung einer eigenen Kontinentalarmee sowie Währung beschlossen und am 4. Juli 1776 die amerikanische Unabhängigkeitserklärung verabschiedet. Durch die Unterstützung europäischer Staaten war es den zu Beginn zahlenmäßig stark unterlegenen amerikanischen Truppen erst möglich, gegen die britischen Besatzer zu bestehen. Noch bevor der Friede von Paris 1783 geschlossen wurde, erkannte König George III. die Unabhängigkeit der amerikanischen Staaten an. Somit verlor das britische Königreich seinen Anspruch als nordamerikanische Kolonialmacht und musste darauffolgend alle Kolonien aufgeben. (Countryman 2014)

2.1.2 Französische Revolution

Die Französische Revolution ist der wohl berühmteste Aufstand der Bürger eines Landes gegen die sie beherrschende Obrigkeit in der Geschichte der Menschheit. Ausgelöst wurde dieser durch den verzweifelten und niederträchtigen Versuch der Monarchie, den finanziellen Zusammenbruch des französischen Staates noch abzuwenden, der aufgrund der königlichen Prunk- und Verschwendungssucht herbeigeführt wurde. Das Bürgertum, welches jahrhundertelang durch die absolutistische Monarchie, dem sogenannten Ancien Régime, unterdrückt sowie rücksichtslos ausgebeutet wurde, rebellierte gegen eine weitere Verschärfung des Unrechts und leitete somit einen Umsturz ein, der die Grundfeste Europas erschütterte und eine Welle des bürgerlichen Aufstandes auf dem Kontinent zur Folge hatte. Die Französische Revolution kann in ihrem Ablauf auch als Muster bzw. Schema für nahezu alle nachfolgenden Rebellionen in ganz Europa angesehen werden.

Die Konsequenzen des Siebenjährigen Krieges und die Verluste einiger bedeutender Kolonien hatten der französischen Staatskasse stark geschadet. Ein starkes Bevölkerungswachstum und die Knappheit der landwirtschaftlichen Anbauflächen aufgrund bestehender Besitzverhältnisse führten in einem Großteil der Bevölkerung zu einer Hungersnot. Während die Bauern keinen Einfluss auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens hatten, mussten sie dennoch die Hauptlast der stattlichen Steuereinnahmen tragen. Eine weitere Entwicklung, die bereits in den Jahrzehnten zuvor begann, war das durch die Industrialisierung an wirtschaftlicher Bedeutung gewonnene Bürgertum, das die alte Ständeordnung mit den im Zuge der Renaissance aufgetretenen Ideen der Aufklärung überwinden wollte. Um den drohenden Staatsbankrott zu verhindern, wurden von König Ludwig XVI. im Sommer 1788 die Generalstände einberufen, das dem dritten Stand somit eine Bühne für ihre politischen und gesellschaftlichen Forderungen eröffnete. Diese Forderungen nach Verwirklichung der Menschenrechte und der Errichtung eines Verfassungsstaates wurde durch den König bedingungslos abgelehnt, was in einer Radikalisierung der Bewegung mündete und mit dem Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789, als symbolischen Auslöser der Französischen Revolution, das Ende der absolutistischen Herrschaft einleitet. In deren Folge wandelte sich der französische Staat nach Verkündung der Menschen- und Bürgerrechte noch im selben Jahr zu einer konstitutionellen Monarchie, welche bereits 1792 durch die Terrorherrschaft bzw. Diktatur der Jakobiner unter Maximilien de Robespierre abgelöst wurde. Nach dessen Scheitern und dem Zusammenbruch der darauffolgenden bürgerlichen Republik im Zuge der von europäischen Staaten geführten Koalitionskriege gegen Frankreich und die Ideen der Französischen Revolution, betrat im Jahre 1799 Napoleon Bonaparte durch einen Staatsstreich die Bühne der Weltgeschichte, was im Jahre 1815 durch den Wiener Kongress nach unzähligen Kriegen sowie politischen und gesellschaftlichen Veränderungen zur Restauration der alten Ordnung in Europa führte. (Kruse 2005: 13ff)

2.2 Arabischer Frühling und die Bedeutung der sozialen Medien

Am Ende des Jahres 2010 zündete sich ein junger Tunesier selbst an und verbrannte qualvoll. Dies tat er aus Hoffnungslosigkeit, weil er für sich keine Lebensperspektive mehr sah. Kurze Zeit später begann in Tunesien, ein Land, dass seine Bevölkerung wie kaum ein anderer Staat im Orient unterdrückte und dessen Bürger in ihren Freiheiten beschränkte, zu einem Aufstand, der als Jasminrevolution bezeichnet wird und sich über den ganzen arabischen Raum hinweg ausbreiten sollte. Die Jugend aus der Mittelschicht nahm sich diesem Schicksal an, unterstützt von weiten Teilen der Gesellschaft, kam es zu Massenprotesten, die auch von den Gewerkschaften und Berufsverbänden getragen wurden. Das tunesische Regime unter dem langjährigen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali entgegnete dieser Entwicklung mit harscher Ablehnung und Gewalt. Als jedoch die Armee den brutalen Anweisungen des Regimes nicht folgte und sich auf die Seite der Demonstranten stellte, sollte die Diktatur in Tunesien bereits im Januar 2011 mit der Flucht des Präsidenten zusammenbrechen.

Dieser rasche Erfolg der tunesischen Protestbewegung sorgte dafür, dass sich in nahezu allen arabischen Ländern Demonstranten versammelten und dem Vorbild der Tunesier folgten. So kam es bereits einem Monat später zur Absetzung bzw. zum Rücktritt des ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak. Diese scheinbar nicht aufzuhaltende Welle der Entrüstung über die teils gravierenden Lebensbedingungen drängte immer mehr Menschen auf die Straßen, welche nicht mehr länger vor staatlicher Repression zurückschreckten. So kam es so vor dem Hintergrund vergleichbarer Missstände im Jahre 2011 in fast allen arabischen Staaten zu Protesten und Massendemonstrationen; nicht alle konnten jedoch einen ähnlich friedlichen Weg, wie er in Tunesien geschah, einschlagen und wurden teils brutal niedergeschlagen.

„Vor allem elektronische Medien, Mobiltelefone und soziale (Online-)Netzwerke [beförderten und bestärkten] die Proteste und [trugen] sie über Landesgrenzen hinweg. Dabei ist insbesondere der katarische Satellitensender Al Jazeera bedeutend. Eine wichtige Funktion [hatten] auch [die] mit Handy-Kameras aufgenommene[n] Bilder – sie sorgen dafür, dass die Proteste an der Zensur vorbei dokumentiert und über Satellitensender oder Internet in die Wohnzimmer der Region und der Welt getragen werden [konnten]“ (Asseburg 2011). Diese Aussage zeigt, dass die sozialen Medien einen erheblichen Einfluss auf die Entstehung sowie Verbreitung der sich zugetragenen Ereignisse, brutalen Niederschlagungsversuche der dort herrschenden Regime und anderer relevanter Informationen hatten. Deshalb werden diese wohl auch in Zukunft einen immens wichtigen Beitrag zu neuen/ weiteren Bestrebungen der Bevölkerungen nach einem freien, gerechten und lebenswerten Dasein leisten müssen.

2.3 Herausbildung eines einheitlichen Verlaufsschemas von Revolutionen

In den hier betrachteten historischen und zeitgenössischen Revolutionen bzw. Aufständen gegen Unrecht und Misswirtschaft hat sich ein Schema bzw. Muster herausgestellt, das nun im Folgenden kurz dargestellt wird und die Grundlage der theoretischen Überlegungen zu dem in dieser Arbeit vorgestellten NetLogo-Modells ist.

Abbildung 1: Verlauf einer typischen Revolution

Quelle: Döll/ Pobuda/ Schicktanz 2014

Dabei sei noch zu bemerken, dass ein erfolgreicher Ausgang der Revolution sowie die Durchsetzung der geforderten Ziele und Maßnahmen in der Regel nur funktionieren kann, wenn alle Bevölkerungsgruppen über einen ähnlich umfassenden Informations-stand verfügen. Denn für das Bestehen der Protestbewegung (gegen die Reaktionen der Regierung) bedarf es einer kooperativen und sehr leidensfähigen Anhängerschaft.

3. Modellierung der Simulation einer Revolutionsbewegung

Entscheidend für eine jede aussagekräftige Simulation ist die realitätsnahe Darstellung bzw. Modellierung des zu untersuchenden Teils der Wirklichkeit. Dabei muss der zu betrachtende Ausschnitt der Realität das Ziel der Simulation entsprechend exakt wiederspiegeln. Hierfür existieren verschiedene Paradigmen und Techniken für die Erstellung eines solchen Modells. Multi-Agenten-Simulationen oder Agentenbasierte Modelle bzw. Simulationen stellen eine relativ neuartige Form der Darstellung und Berechnung für diesen Zweck dar. Vor allem bei komplexen Modellen, wie z.B. der Erklärung von gesellschaftlichen Prozessen, haben diese Simulationssysteme einen entscheidenden Vorteil gegenüber herkömmlichen Überlegungsmustern und -formen.

So werden in diesem Abschnitt die theoretischen Grundlagen der Simulations-Modellierung dargestellt, die Herangehensweise an die Entwicklung des hier zugrundeliegenden NetLogo-Modells sowie dessen Erweiterungen aufgezeigt und abschließend das Modell bzw. die Simulation zur Verdeutlichung der Einflüsse von sozialen Medien auf die Verbreitungsprozesse einer Protestbewegung bzw. Rebellion an sich, dem Zweck dieser Hausarbeit entsprechend angemessen kurz beschrieben.

3.1 Agentenbasierte Modelle zur computergestützten Simulation

Agentenbasierte Modellierung (ABM) ist eine hilfreiche und einfach anzuwendende Methode zur Analyse und Erklärung individuellen Verhaltens auf der Mikro-Ebene und dessen Auswirkungen auf die kollektive Handlungsweise auf der Makro-Ebene. Agentenbasierte Modelle enthalten eigenständige Entscheidungsträger, welche als Agents oder Entities bezeichnet werden, die in einer künstlichen Umwelt bzw. Umgebung, auf den sogenannten Patches, miteinander nach bestimmten Regeln interagieren. Diese Vorgaben definieren die Beziehungen der Agenten untereinander sowie zu ihrer Umwelt und bestimmen die Abfolge von Entscheidungen und den daraus resultierenden Handlungen. Die Entscheidungsträger, welche als autonome und virtuelle Agenten miteinander kommunizieren und zusammenarbeiten können, weisen zentrale Eigenschaften auf; zu nennen wäre beispielsweise die Interaktions- und Reaktionsfähigkeit sowie das proaktive und autonome Handeln. (vgl. Ferber 1999)

Im Gegensatz zu konventionellen Simulations-Modellen, welche die Protagonisten im top-down -Prinzip bzw. aggregiert darstellen, werden bei den ABMs die Entscheidungen der Agenten im bottom-up -Prinzip bzw. individuell modelliert/ autonom getroffen, wodurch eine realitätsnahe Simulation gewährleistet werden kann. Diese Vorgehensweise erlaubt die Entstehung eines sich selbst entwickelnden dynamischen Systems, womit ein qualitativ erheblich gesteigerter Einblick in die Prozesse und Ergebnisse von strategischen Entscheidungen ermöglicht wird. (vgl. Baldassarre 2001)

Abbildung 2: Einführendes Schema zur Agenten-Interaktion

Quelle: Bandini/ Manzoni/ Vizzari 2009

So handelt es sich bei dem hier betrachteten System um ein sogenanntes Multiagentenmodell, das in einer simulierten Umwelt und in einer virtuellen Zeit statt-findet. Ein solches Multiagentenmodell ist dann gegeben, wenn dieses System mehrere Agenten besitzt, so wie es in der hier verwendeten Programmierumgebung NetLogo der Fall ist. Für Multiagentenmodelle ist charakteristisch, dass jeder Agent über eher unvollständige Informationen und Fähigkeiten verfügt, wodurch die Sichtweite eines jedes Agenten benutzerdefiniert begrenzt ist. Dieses System soll in der Lage sein eine reale Interaktion von verschiedenen Akteuren nachzubilden bzw. entsprechend darzustellen. Durch diese Nachbildung im virtuellen Raum, ihren Interaktionen untereinander sowie mit der sie umgebenden Umwelt, entstehen die zu beobachtenden bzw. gewünschten Muster und Verhaltensweisen auf einer aggregierten Ebene. Darüber hinaus existiert innerhalb eines Multiagentenmodells keine globale Kontrolle, das heißt dass die Datenhaltung synchronisiert verläuft und die Agenten sich in der Ausführung asynchron verhalten. Entsprechend verläuft es in der realen Welt, wo in ähnlicher Weise viele Akteure bzw. Entscheider existieren und miteinander kooperieren, um etwaige Problemstellungen zu lösen. Multiagentenmodelle weisen die Vorteile eines anspruchsvollen Interaktionsmusters sowie einer gemeinsamen Bewältigung von Problemen auf. Dabei sind Simulationen in z.B. sozialwissenschaftlichen oder biologischen Bereichen besonders interessant, bei denen die Erzeugung und Entwicklung von sozialen Netzwerken oder Organisationsstrukturen auf der Grundlage der Handlungs- bzw. Verhaltensweisen zwischen den Agenten erklärt bzw. untersucht werden. Somit können diese Modelle in vielen Bereichen einen interessanten Erklärungsansatz bereitstellen. (vgl. Klügl 2006)

3.2 Modellierungs-Software NetLogo als Grundlage der Simulation

NetLogo[1] ist eine Programmierumgebung zur Modellierung komplexer natürlicher, sozialer sowie ökonomischer Fragestellungen und basiert auf der Java-Programmier-sprache unter Verwendung der Multiagententechnologie. Es wird seit dem Jahre 1999 am Center for Connected Learning and Computer-Based Modeling an der Northwestern University in Evanston, USA entwickelt und stellt eine Weiterentwicklung der 1967 am Massachusetts Institute of Technology im amerikanischen Cambridge entwickelten StarLogo-Software dar. NetLogo wurde bewusst einfach gestaltet, um eine einsteigerfreundliche, leicht zu erlernende bzw. beherrschende, aber trotzdem sehr leistungsfähige Software für Forschung und Lehre zur Verfügung zu stellen. Dieses Simulations-Programm wird jedem interessierten Nutzer in vollem Umfang frei zum Download auf der Universitäts-Webpage bereitgestellt. Auch aus diesem Grund hat sich eine breite und aktive internationale Gemeinschaft entwickelt, welche sich mit bestehenden Entwicklungs- und Anwendungsproblemen beschäftigt und somit zur stetigen Verbesserung und Funktionserweiterung beiträgt. So besteht der größte Vorteil von NetLogo in dessen Einfachheit und der auch für Anwender ohne Programmiererfahrung recht geringen Eingewöhnungszeit. Gerade im Vergleich zu anderen Multiagentenmodellen, welche hauptsächlich für ausgewiesene Fachleute und Simulationsexperten anwendbar sind, erlaubt NetLogo einer breiten Öffentlichkeit dessen Nutzung zur Entwicklung aussagekräftiger und erkenntnisbringender Modelle.

Nun sei noch kurz etwas über den Aufbau der NetLogo-Anwendung zu erwähnen. Die Darstellung in NetLogo gliedert sich in drei Ebenen: Turtles, Patches und Observer. Das Programm als solches besteht aus einer Abfolge von Befehlen, die in der Software entweder bereits integriert sind (Stammfunktionen oder primitives) oder durch entsprechende Programmierung eingefügt bzw. erweitert werden können. Grundlage und gleichzeitig die Repräsentation der Umwelt bilden die sogenannten Patches, wobei es sich um quadratische Rasterzellen zur Illustration einer Raumeinheit handelt. Diese Patches sind in einem Koordinatensystem aufgespannt; der Nullpunkt befindet sich dabei in der Mitte des Feldes. Die bisher umfassend erwähnten Agenten werden in NetLogo als Turtles bezeichnet und können sich innerhalb der 2D-Welt, die durch die Patches gebildet wird, je nach Vorgaben frei bewegen. So sind, wie bereits erwähnt, einig feste Eigenschaften, wie z.B. heading, xycor, size, color, who, sowie bestimmte Prozeduren, wie z.B. die, hatch, forward, back, in der Software integriert. Weitere Eigenschaften und Operationen können entsprechend der Fähigkeiten des Anwenders recht schnell und umfangreich implementiert werden. Die dritte Ebene wird durch den Observer repräsentiert, wobei es sich um den Anwender bzw. Programmierer handelt, der jederzeit in die Simulation eingreifen und nach seinen Bedürfnissen anpassen kann.

Abbildung 3: Das Turtle-Patch-Observer-Prinzip

Quelle: Schmidt/ Fuchs 2004

Zur Zuordnung zu den bestehenden Programmiersprachen sei noch folgendes zu sagen: Logo bzw. NetLogo ist eine höhere Programmiersprache oder auch Programmiersprache der dritten Generation (third generation languages, kurz 3GL) und ist bei den deklarativen funktionalen Sprachen anzusiedeln. Unter der Bezeichnung höhere Programmiersprache versteht man problemorientierte Sprachen, welche sich in Abstraktion und Komplexität von der Ebene der Maschinensprachen erheblich unterscheiden, also nicht direkt von der Hardware verstanden werden können und der menschlichen Sprache somit wesentlich näher sind. Diese stehen im Gegensatz zu den imperativen Programmiersprachen, die aus einer Folge von Befehlen bestehen und dem Computer bzw. der Hardware direkte Anweisungen erteilen können. So beschreiben die deklarativen Sprachen die allgemeinen Eigenschaften von Akteuren und Objekten sowie deren Beziehungen zueinander. Es wird also nicht der Lösungsweg für ein Problem vorher festgelegt, sondern es werden lediglich die Regeln für das Verhalten, die Vorgehensweise oder den Zustand der Akteure oder Objekte bestimmt. Somit kann man die zu untersuchende Ausgangslage recht einfach durch das Programm darstellen bzw. programmieren und wird in die Lage versetzt ein komplexes Experiment durchzuführen, bei dem der Ausgang vorher nicht bereits festgelegt werden bzw. absehbar sein muss. (Hansen/ Neumann: 2009: 36ff)

Abbildung 4: Generationen der Programmiersprachen

Quelle: Wachsmuth 2001

3.3 Epstein-Modell zur Erklärung und Darstellung bürgerlicher Aufstände

Das sogenannte Epstein-Modell bietet einen interessanten Ansatz zur Erklärung komplexer Prozesse bzw. Abläufe bezüglich Rebellionen sowie zwischenethnischen Auseinandersetzungen und liefert somit Hinweise zum effektiven und effizienten Umgang mit solchen Konflikten. Dieses Modell wurde erstmals im Jahre 2001 von den Autoren Joshua M. Epstein, John D. Steinbruner sowie Miles T. Parker veröffentlicht[2] und erschien ein Jahr später in überarbeiteter und erweiterter Form[3]. Es gehört heutzutage zu den meist-zitierten Modellen zur Deutung bürgerlicher Aufstände. Dabei wird, wie oben bereits angesprochen, zwischen zwei Modellen unterschieden. Das erste Modell befasst sich mit Erhebungen der Bevölkerung gegen eine zentrale Autorität und stellt den Ausgangspunkt der in dieser Arbeit behandelten Problematik dar. Zur Vollständigkeit sei erwähnt, dass sich das zweite Modell mit einer Konfrontation zwischen zwei religiösen oder ethnischen Gruppen beschäftigt, welche ebenfalls von einer zentralen Regierung oder einem Regime unterdrückt werden.

Besondere Beachtung findet das Epstein-Modell durch die Einfachheit der eingesetzten Akteure, deren Interaktion und der qualitativen Erklärungsstärke diverser Eigenschaften von Rebellionen und bürgerlichen Aufständen. Durch die Variationen der Verhaftungswahrscheinlichkeitsfunktion (Arrest Probability Function) und der eingesetzten Parameter ermöglicht dieses Modell die Erlangung einer Vielzahl von Informationen. So lassen sich die Effekte einer aufständischen Gruppe im Kontext einer großen Bevölkerungszahl beobachten, irreführendes Verhalten der Agenten untersuchen (verbergen ihre Überzeugung bei Kontakt mit Ordnungskräften), die Auswirkungen repressiver oder aufrührerischer Handlungen feststellen sowie die Resultate einer stufenweise oder plötzlichen Veränderung der Regierungs-Legitimität oder auch der Anzahl der Ordnungshüter darstellen. Jedoch enthält dieses Modell eben auch erhebliche Schwächen, was dem simplen Modellaufbau geschuldet ist. Die negativen Punkte umfassen dabei die unrealistischen Bewegungsmuster der Akteure, das primitive Verhalten der Polizisten beim Aufspüren und Verhaften der Akteure sowie die fehlende Einbeziehung der gesammelten Erfahrungen in die Handlungsweisen der Akteure und die Simulation der Rebellion als Ganzes. (Lemos/ Coelho/ Lopes 2013: 3.2)

Das hier betrachtete Modell unterscheidet zwischen zwei Typen von Agenten. Auf der einen Seite stehen die Ordnungskräfte, welche als Cops bezeichnet werden, und in dieser Gestalt die zentrale Autorität verkörpern. Auf der anderen Seite steht die Agentengruppe der Bevölkerung, die in dem Modell als Population bezeichnet wird. Diese Agenten verhalten sich proaktiv und werden durch einfache Regeln gesteuert.

3.3.1 Verhaltensweisen der Agentengruppe der Bevölkerung

Die Agenten Population, welche die Gruppe der Bevölkerung darstellen, können in dem Epstein-Modell drei Zustände bzw. Eskalations-Stufen annehmen. Dabei handelt es sich einmal um einen Zustand, indem die Agenten sich nicht an der Protestbewegung beteiligen und als neutral angesehen werden können. Dies wird als ruhig (quiet) bezeichnet. Die zweite Stufe wandelt den Agenten in einen aktiven Demonstranten, der sich in die Reihen der Aufständischen integriert und deshalb als aktiv (active) gilt. Der dritte Zustand bzw. das Ende der Eskalation führt den Agenten in den Status eines Häftlings. Wodurch diese virtuelle Person als inhaftiert (jailed) verstanden wird. Hinter der Veränderung der ersten beiden Zustände verbirgt sich, wie bereits angekündigt, eine einfache Regel. Diese setzt sich aus vier Faktoren bzw. zwei Produkten zusammen. Das erste Produkt, als G (Grievance, dt. Beschwerde, Missstand) bezeichnet, errechnet sich aus der Multiplikation der Zahl für das persönlich wahrgenommene Elend bzw. Not (Hardship) und der individuell gefühlten Illegitimität der Regierung. Das zweite Produkt N (Net Risk Term) ergibt sich aus den beiden Faktoren R (Risk Aversion) und der erwarteten Verhaftungswahrscheinlichkeit P (Estimated Arrest Probability). Wenn der wahrgenommene Missstand G abzüglich des Nettorisikos N den Schwellwert T (Threshold) übersteigt, dann wandelt sich der Agent vom einfachen Bürger zum aktiven Demonstranten. So entscheidet nun also die Regel G (Grievance) – N (Net Risk Term) > T (Threshold) über den Zustand des Agenten. Zum Bewegungsmuster dieser Agenten innerhalb des Modells sei noch zu erwähnen, dass diese während einer jeden weiteren Zeiteinheit bzw. Ticks auf einen zufällig ausgewählten freien Platz in ihrer Sichtweite V weiterziehen. (Epstein 2002: S. 7243f)

3.3.2 Handlungsweise der Agentengruppe der Ordnungskräfte

Der dritte im vorhergehenden Abschnitt erwähnte Zustand der Inhaftierung (jailed) tritt ein, wenn ein aktiver Demonstrant auf eine Ordnungskraft trifft (Cop) und infolgedessen durch diesen festgenommen wird. So lautet der primitive Auftrag der Cops, die Felder innerhalb deren Sichtweite zu scannen und jeden als aktiv geltenden Agenten aus der Gruppe der Bevölkerung zu verhaften. (ebd: S. 7244)

3.4 Implementierte Erweiterungen in das ursprüngliche Epstein-Modell

Zur Gewährleistung der Lösung der aufgeworfenen zentralen Fragestellung dieser Arbeit wurde das Epstein-Modell durch einige im Folgenden aufgelistete zusätzliche Eigenschaften erweitert. Die wichtigste Neuerung stellt dabei die Einbeziehung der sozialen Medien dar, welche den Akteuren der Protestbewegung ermöglicht, sich Informationen über ihren aktuellen Ort hinaus zu beschaffen und diese über viele Kanäle und Anwendungen weiter zu verbreiten. Darüber hinaus, um ein realistisches Bild der Wirklichkeit modellieren bzw. abbilden zu können, wurde die Skalierbarkeit der Verhaftungswahrscheinlichkeit der Demonstranten durch die Ordnungshüter sowie die Möglichkeit zur Segregation und die Learning-Fähigkeit der Demonstranten eingepflegt.

3.4.1 Soziale Medien als Katalysator der zeitnahen Informationsverbreitung

Durch die sozialen Medien wird es den Agenten ermöglicht unmittelbar Informationen über ihren aktuellen Ort hinaus zu beziehen bzw. die erhaltenen Informationen zu verbreiten. So lässt die Nutzung von Twitter, WhatsApp, Facebook, YouTube oder anderen Kommunikations-Plattformen die Demonstranten (Turtles) zu einem Ort (Patch) ziehen, an dem die Verhaftungswahrscheinlichkeit am geringsten ist, was auf die fehlende bzw. distanzierte Präsenz der Ordnungskräfte (Cops) zurückzuführen ist.

Im Folgenden wird dieser Ablauf noch etwas detaillierter beschrieben: Ein als aktiv eingestufter Agent meldet über eine Anwendung aus dem Bereich der sozialen Medien seinen Standort, welcher sich dadurch auszeichnet, dass die tatsächliche Verhaftungswahrscheinlichkeit an diesem Ort, innerhalb der Simulation, am geringsten ist. Die anderen Nutzer (meist im Zustand quiet) der sozialen Medien entscheiden daraufhin, ob sie sich zu diesem gemeldeten Ort bewegen. Bei positivem Ausgang ziehen die interessierten Personen in die unmittelbare Umgebung dieses Standortes. Dort angekommen, werden diese noch als inaktiv (quiet) geltenden Agenten individuell entscheiden, ob sie sich an der Demonstration beteiligen und somit den Zustand active annehmen. Dieser durch z.B. Twitter verbreitete Standort könnte in der realen Welt nicht nur einen Ort zum Demonstrieren darstellen, vielmehr könnte sich dahinter auch ein spontaner Treffpunkt verbergen, an dem eine kleine Gruppe von Aufständischen etwaige Beratungen oder auch Absprachen über das weitere Vorgehen durchführt.

3.4.2 Skalierbarkeit der Verhaftungswahrscheinlichkeit.

Die Verhaftungswahrscheinlichkeit ist im ursprünglichen Epstein-Modell nicht veränderbar, d.h. dass die Ordnungskräfte bzw. Cops fortwährend mit der gleichen Aggressivität gegen die Demonstranten vorgehen. Genauer gesagt wird in diesem Modell jeder Akteur infolge eines Zusammentreffens mit der Ordnungskraft festgenommen. Um nun aber einen realitätsnahen Zustand erlauben zu können, wurde diese Wahrscheinlichkeit der Verhaftung oder anders beschrieben, die Aggressivität des herrschenden Regimes, als regulierbare Komponente bzw. Einstellung integriert, wodurch verschiedene Stufen der Protestunterdrückung simuliert werden können.

3.4.3 Segregation zur Verringerung der individuellen Inhaftierungsaussichten

Hinter dieser Erweiterung verbirgt sich die wirklichkeitsgetreue Abbildung einer großen Protestbewegung, wie sie in den letzten Jahren häufig zu beobachten war. Bei diesem Vorgehen wurden zentrale große Plätze als Versammlungsorte ausgewählt, um möglichst viele gleichgesinnte Kundgebungsteilnehmer um sich zu versammeln, wodurch es den gegnerischen Regierungskräften erheblich schmieriger gefallen ist, diese Demonstration zügig aufzulösen bzw. die führenden Akteure festzunehmen. So wählen bzw. suchen die Agenten (Turtles) den Platz (Patch) in ihrer Sichtweite aus, auf dem sie von möglichst vielen anderen Demonstranten umgeben sind. Dadurch verringert sich auch in dem Modell die Wahrscheinlichkeit verhaftet zu werden, da die Ordnungshüter bereits belegte Patches nicht betreten kann. Somit befinden sich alle Akteure, welche von anderen Demonstranten umgeben sind, in absehbarer Sicherheit.

3.4.4 Learning-Fähigkeit der Demonstranten als Ausdruck des Kleinmuts

Wie auch im realen Leben sind ehemalige Häftlinge eher von einer erneuten Haftstrafe abgeschreckt, als Menschen die vielleicht falsche bzw. weniger gravierende Vorstellungen von einer solchen Inhaftierung haben. Um diesen Umstand auch in dem Modell abbilden zu können, müssen die Agenten (Turtles) die Befähigung erlangen, ein Gedächtnis bzw. eine Lernfähigkeit aufbauen zu können. Demnach verhalten sich Kundgebungsteilnehmer, welche bereits für ihre aufrührerischen Handlungen bestraft bzw. inhaftiert wurden, weniger risikofreudig, als Personen, die eine solche negative Erfahrung trotz Beteiligung an diversen Aktivitäten dieser Art nicht gemacht haben. So nimmt in diesem Modell die Risikoaversion (risk aversion) von inhaftierten Menschen mit jedem weiteren Tick bzw. Zeiteinheit zu, welchen sie in Haft verbringen müssen. Im Gegensatz dazu reduziert sich die Risikoaversion von Demonstranten mit jeden Tick bzw. Zeiteinheit, in der die Person nicht für ihre Handlungen festgenommen wird.

3.5 NetLogo-Modell Rebellion

Aus den im vorhergehenden Abschnitt vorgestellten Erweiterungen der von Joshua M. Epstein, John D. Steinbruner sowie Miles T. Parker gelegten Grundlagen ist folgendes NetLogo-Modell hervorgegangen. Dieses Modell zeichnet sich nicht nur durch diese Modifikationen aus, vielmehr ist eine umfassende, durch zahlreiche Variations- und Einstellungsmöglichkeiten wandlungsfähige, Simulation entstanden, welche in der Lage ist, verschiedenste Szenarien der Einflussnahme von sozialen Medien auf den Ausbruch und Verlauf von bürgerlichen Aufständen darzustellen. Auch ohne die Eigenschaft der digitalen Informationsverbreitung, die im Modell einfach ausgestellt werden kann, ist das Modell als nützlicher und interessanter Ansatz-Bereitsteller zum Herausstellen von Handlungsalternativen für entsprechende Gruppen zu verstehen.

Abbildung 5: Observer-Sicht auf das Modell Rebellion und dessen Dashboard

Quelle: Döll, Pobuda, Schicktanz 2014

4. Ergebnisauswertung der NetLogo-Simulation

Zur Beantwortung der zentralen Fragestellung dieser Arbeit werden nun die durch das NetLogo-Modell erworbenen Erkenntnisse in diesem Abschnitt in Auszügen vorgestellt.

Die Analyse dieser Fragestellung machte es notwendig, dass zur Beherrschung der Komplexität dieses Modells gewisse Grundannahmen getroffen werden mussten, die für alle drei im Folgenden aufgeführten Kernaussagen gelten. Diese sechs grundlegenden Einstellungen sind in der nachfolgenden Abbildung kurz dargestellt.

Abbildung 6: Gewählte Grundannahmen im NetLogo-Modell

Quelle: Döll/ Pobuda/ Schicktanz 2014

4.1 Einfluss sozialer Medien wächst mit steigender Regierungs-Legitimität

Eine Regierung, welche von weiten Kreisen der Bevölkerung als legitim und verantwortungsvoll angesehen wird, muss sich wohl am meisten vor den Anwendungen der sozialen Medien durch Regierungsgegner fürchten. Wie die erhaltenen Ergebnisse aus der Simulation zeigen, haben die modernen Kommunikationsmittel durchaus das Potential, einer Regierung mit einer hohen Legitimität zu schaden. Der Grund dahinter ist recht simpel: durch die Nutzung der sozialen Medien können sich die wenigen Regierungsgegner über das ganze Land hinweg vernetzen, ohne dabei mit hohen Kosten konfrontiert zu werden. So können mögliche Hetz-Kampagnen erarbeitet und einfach verbreitet werden. Dahingegen bedarf es in einem Land, wo die Regierungs-Legitimität recht niedrig ist, keiner größeren Unterstützung durch die sozialen Medien, da die meisten Menschen bereits von der Unfähigkeit der sie führenden Politiker überzeugt ist. Lediglich der Stein des Anstoßes dürfte durch diese Möglichkeiten der Informationsverbreitung gelegt werden.

Ein Beispiel, das vielleicht nicht ganz in diese Logik passen zu scheint, jedoch recht deutlich die Schattenseite der sozialen Medien aufzeigt, sind die Rekrutierungserfolge der radikal fanatischen IS in den europäischen Staaten, darunter auch in Deutschland. Dieser Gruppe gelingt es mithilfe der sozialen Medien an den Rand der Gesellschaft gedrängte Personen in ihren Bann zu ziehen und damit für ihre Zwecke zu gewinnen.

4.2 Nutzen sozialer Medien steigt bei erhöhter Polizei-Aggressivität

Für diese Simulation wurde die eingangs erwähnte und bei 100% festgelegte Verhaftungswahrscheinlichkeit abgeändert. Dabei hat sich herausgestellt, dass der Nutzen der sozialen Medien bei erhöhter Aggressivität der Polizei zunimmt. Unter Aggressivität wird hierbei verstanden, dass aktive Demonstranten bei Kontakt mit einem Ordnungshüter sofort festgenommen werden. Der wesentliche Vorteil der sozialen Medien liegt hierbei in der Möglichkeit der Absprachen. Über die verschiedenen Kommunikationskanäle werden schließlich die Orte gemeldet, an denen mit einer sehr geringen Verhaftungswahrscheinlichkeit zu rechnen ist. Die Information ermöglicht es, dass sich eine große Anzahl von Demonstranten an einem vorher vereinbarten Standort treffen kann, was es den Ordnungskräften im Endeffekt ziemlich unmöglich werden lässt, diese Versammlung friedlich bzw. ohne größere Anwendung von Gewalt und damit einhergehender verhängnisvoller Presse aufzulösen.

4.3 Ordnungskräfte profitieren kaum durch die Daten der sozialen Medien

Des Weiteren hat sich gezeigt, dass die Ordnungskräfte bzw. Polizei keinen gravierenden Vorteil durch die Abhörung der sozialen Medien erhalten. So ist ein vorher bekanntgewordener Standort für eine Großdemonstration nur dann nützlich, wenn die Polizei in der Lage ist, die Zufahrtswege zu diesem Ort zu blockieren. Es scheint eher schwierig zu werden, die Masse der Demonstranten an diesem Standort noch von der Bereitschaft zur Kundgebung ihrer Interessen abbringen zu können.

Anders verhält es sich natürlich dahingehend, wenn kleine Gruppierungen durch einen Abhörerfolg ausspioniert werden können. Aufgrund der geringen Zahl der Mitglieder wäre ein schneller Verhaftungserfolg ohne öffentlich werdende Anwendung von Gewalt möglich und eine entstehende Bewegung könnte bereits im Keim erstickt werden.

4.4 Fazit der betrachten Resultate und mögliche Modell-Modifikationen

Die hier kurz vorgestellten Erkenntnisse, gewonnen aus der Anwendung des NetLogo-Modells Rebellion, zeigen recht eindrucksvoll die große Einflussnahme der sozialen Medien in dem Bereich der organisierten und auch spontanen Entwicklung von bürgerlichen Aufständen. So können diese Einflüsse je nach Größe der Protestbewegung, der Verbissenheit bzw. Brutalität der entsprechenden Regierungen/ Regime und in Abhängigkeit diverser anderer Eigenschaften stark variieren.

Aufgrund der Komplexität des Themas wäre es also von großer Bedeutung für die Nützlichkeit der daraus resultierenden Ergebnisse, dass das Modell an den genauen Eigenheiten bzw. Spezifikationen der zu untersuchenden Staaten angepasst wird.

Wenn man nun also die aus den Simulationen erhaltenen Ergebnisse in einen einzigen Satz zusammenfassen würde, dann könnte dieser wie folg lauten: Die sozialen Medien beeinflussen die Entstehung und den Verlauf von Revolutionen in Abhängigkeit von der Höhe der Legitimität und der anzunehmenden Gewaltbereitschaft der Regierung.

5. Anwendungsnutzen des Modells für die Wirklichkeit

Das in dieser Arbeit vorgestellte Modell kann z.B. zur Erklärung und zum Verständnis für die im Arabischen Frühling eingetretenen Vorgänge und Prozesse durchaus von Nutzen sein. So kann es die grundlegenden Zusammenhänge verdeutlichen und nach weiteren Anpassungen und Erweiterungen vielleicht auch dazu beitragen, Handlungsalternativen und -Empfehlungen für betroffene Regionen bereitzustellen.

In diesem Abschnitt möchte ich daher auch eine Grenze des Modells aufzeigen, was für den Verlauf bzw. Ausgang einer Revolution von enormer Bedeutung ist und in dieser Form aufgrund der Komplexität des Themas nicht modelliert werden kann. Man kann zwar in quantitativer Weise den Nutzen der sozialen Medien durchaus nachweisen, jedoch kann man kaum die qualitativen Auswirkungen aufzeigen. Gerade diese sind allerdings für den Verlauf einer Revolution von Bedeutung. Denn wenn der Ausgang der bürgerlichen Protestbewegung, wie in Ägypten, zu einer kaum besseren Situation führt, dann ist es schwer zu beurteilen, ob die sozialen Medien einen wirklichen Nutzen für die Entstehung und den Verlauf einer Revolution inne haben.

Bereits am Beispiel der Demokratisierungsversuche im Irak und in Afghanistan hat sich schmerzlich gezeigt, dass das westliche System nicht auf die islamisch geprägten Staaten angewendet werden kann. So bedurfte es eben auch in Europa der Abkehr von der religiösen Vorherrschaft, bevor die Demokratie Einzug halten konnte. Deshalb möchte ich anhand der Säkularisierung im Europa der Neuzeit zeigen, dass es unbedingt notwendig ist Staat und Kirche zu trennen, um einen modernen und gerechten Staat mit den entsprechenden demokratischen Grundzügen zu etablieren.

Der im 16. Jahrhundert begonnene Säkularisierungs- und Rationalisierungsprozess, welcher in nahezu allen kulturellen Entwicklungen und Tendenzen erkennbar ist, resultiert und gipfelt im 18. Jh. in der Epoche der Aufklärung[4]. Diese erfasst und verändert alle Menschen-, Welt-, und Gottesvorstellungen in ganz Europa. Der Mensch wird fortan „bestimmt [als] natürliches und vernunftbegabtes Wesen, das seiner selbst bewusst ist und auf die grundsätzliche Erkenntnisfähigkeit wie Entwicklungsfähigkeit seiner Verhältnisse vertraut“ (Ploetz 2008: 739).

Die Säkularisierung beschreibt im Allgemeinen den Prozess der Verweltlichung. Dabei werden zwei wesentliche Phänomene unterschieden. Zum einen die historischen Vorgänge, welche Besitztümer geistlicher Einrichtungen in den Besitz des Staates überführten (auch Säkularisation) und zum anderen den gesamtkulturellen Prozess in der europäischen Neuzeit, der zu einer steigenden Autonomie der Lebensgestaltung und der Weltanschauung gegenüber kirchlichen und religiösen Ordnungssystemen führte. Davon abgeleitet wird damit auch die ideelle Transformation und Weiterentwicklung ursprünglich christlichen Gedankengutes in einen säkularen Bereich bezeichnet. (F.A. Brockhaus 1996)

Infolge der Reformation war Europa im 16. und 17. Jahrhundert ein Schauplatz unzähliger Kriege und bewaffneter Auseinandersetzungen. So haben z.B. der Bauernkrieg oder der Dreißigjährige Krieg erheblichen Schaden und schreckliches Leid verursacht. Durch die vielen Konflikte wuchsen die Kosten für die Armeen, Waffen und Verteidigungsanlagen der einzelnen Fürstentümer und Königreiche immer stärker an. „Um diesen Moloch so effizient wie möglich zu finanzieren, wurde auch das Regierungssystem immer komplexer und differenzierter, bis man es schließlich als autonome Kraft betrachten konnte, als «Staat» […]“ (MacCulloch 2003: 862). So vollzog sich im Inneren der Herrschaftsgebiete ein Wandel, welcher allerdings erst im 19. Jh. sein finales Ende erfuhr: Der Feudalismus wurde seitdem fortwährend abgebaut, womit sich der Lehns- zum Beamtenstaat entwickelte. Somit wurde der feudalistische Staat mit seinem ständischen Aufbau und dem gegenseitigen Treueverhältnis von Lehnsherr und Lehnsträger zunehmend durch ein Staatsgebilde abgelöst, welches von einer Zentralgewalt beherrscht wird und durch ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Volk als Steuerzahler auf der einen Seite und dem Regenten und seinen Beamten auf der anderen Seite gekennzeichnet war. So beruhte die zentrale Herrschaftsgewalt in Frankreich und Spanien überwiegend auf dem König, während in England eine enge Zusammenarbeit von Souverän und Parlament zu erkennen war. Dementsprechend wuchs mit „den Regierungsapparaten […] im Allgemeinen auch deren Macht und das Verlangen der Könige und Fürsten, ihre Befehle auf möglichst direktem Weg umgesetzt zu sehen. So förderte die Reformation, ohne es zu wollen, die ohnehin zunehmende Stärke der staatlichen Organisationen zusätzlich […]. Sie trug dazu bei, dass sich lose verbundene, von Adligen oder repräsentativen Versammlungen abhängige dynastische Gebiete zu straff organisierten Monarchien wandelten […].“ (ebd.: 862).

Die Bildung eines Nationalstaates wird weithin als Nationenbildung (nation-building) bezeichnet. Darunter versteht man einen „Prozess, in dem meist auf Betreiben eines militärisch, administrativ, ökonomisch und/oder kulturell überlegenen Herrschaftszentrums – die Bevölkerung eines Territoriums durch Unterwerfung unter eine einheitliche Verwaltung, Durchsetzung bestimmter gemeinsamer kultureller/ sprachlicher Standards und schrittweise Einbeziehung aller Bevölkerungsteile in den politischen Prozess politisch und soziokulturell integriert wird“ (Klima 2007: 452). Dieser hier beschriebene Prozess ließ sich in den Jahrzehnten und Jahrhunderten nach dem mutmaßlichen Thesenanschlag in Wittenberg durch Martin Luther vielerorts in Europa beobachten. Die Monarchen versuchten, „indem sie die kulturelle und religiöse Identität des eigenen Landes förderten, die Begeisterung ihrer Untertanen zu schüren, gegen die Untertanen anderer Monarchen ins Feld zu ziehen. Sie schufen eine Verwaltungssprache, um die bürokratischen Vorgänge zu vereinfachen, und wählten dafür eine regionale Sprache aus“ (MacCulloch 2003: 862). Durch diese Veränderungen gewann das Bürgertum in den folgenden Jahrzenten in Deutschland immer mehr an Bedeutung, dabei verdrängte ein erhöhtes Selbstbewusstsein, eine freie Argumentation und Kritikfähigkeit infolge einer besseren Bildung die blinde Autoritätsgläubigkeit. Damit wurde die Grundlage für die großen geistigen Bewegungen wie den Humanismus geschaffen. So ist die Bedeutung des Humanismus „unbestritten […] bei der intellektuellen Konstruktion der europäischen Nationen […]: Die Humanisten gebrauchten Ideale und Feindbilder der politischen Polemik“ (Kohler 2011: 122). Nun besteht in der Wissenschaft weitestgehend Einigkeit darüber, dass es ohne den Humanismus[5] auch keine Reformation gegen hätte. Die Einkehr der Bildung in eine relativ breitere Bevölkerungsschicht und die Erschaffung einer europäischen Öffentlichkeit machte die Ausbreitung der Ideen der Reformation und die Fähigkeit zur Kritikaufnahme erst möglich. (Lutz 2002: 122f)

Der Weg zum Nationalstaat war allerdings an dieser Stelle noch recht weit entfernt von den heutigen Vorstellungen. Unter Nationalstaat versteht man „ein politisch souveränen Staat mit vereinheitlichtem Territorium [und einem Volk, dass] sich aufgrund gemeinsamer Herkunft, Sprache und Kultur als politische Einheit und Schicksalsgemeinschaft versteht“ (Schetsche 2007: 452). Jedoch war die Entwicklung bereits auf einem fortgeschrittenen Weg in Richtung eines solchen Nationalstaates, denn „bald wurden aus den «Staatsnationen» «Nationalstaaten». Dieser Wandel war eine Folge zunächst der Konsolidierung einer Mehrheitskultur in einem Staat, dann des Sturzes vieler Monarchien nach der Französischen Revolution von 1789 und der wütenden Reaktionen vieler Kulturen auf die imperialen Bestrebungen eines Napoleon Bonaparte [und vieler anderer Monarchen in Europa/ Kolonialisierung]. Die Loyalität eines Volkes galt nun primär der eigenen Nation, nicht mehr einer königlichen Dynastie [oder einer religiösen Institution]“ (MacCulloch 2003: 862).

„Da in modernen Gesellschaften religiöse Ideen nicht mehr zur Legitimation politischer Regime herangezogen werden, dass sie nicht mehr die soziale Integration der Gesellschaft sicherstellen können und keine einheitliche und übergreifende Weltinterpretation mehr bereitzustellen vermögen […]“ (Pollack 2009: 66) hat letztendlich dazu geführt, dass der moderne Nationalstaat diese Aufgaben übernehmen musste, um eine politische sowie gesellschaftliche Ordnung einzuführen und diese auch nachhaltig aufrechterhalten zu können.

Jedoch ist es schwierig zu behaupten, dass allein die Reformation und infolgedessen die Säkularisierung die Grundlagen zur Entstehung der modernen Nationalstaaten gelegt haben. Der Zeitraum um 1500 war durchaus als Epochenwende in mehrfacher Hinsicht zu bezeichnen. So hat Christopher Kolumbus mit der Entdeckung Amerikas im Jahre 1492 den Horizont buchstäblich erweitert und damit das „Zeitalter der Entdeckungen“ einberufen. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Erfindungen, entwickelt von Größen wie Leonardo da Vinci, haben ebenso dazu beigetragen, dass sich der Mensch von der Kirche emanzipierte und mit der Renaissance die „Revolution des Denkens“ einsetzte. Zusammen mit der Reformation als „Revolution des Glaubens“ haben diese vier epochalen Ströme den Grundstein für die Entstehung des modernen Staates in Europa gesetzt (Beyme 2009: 47).

Diese Entwicklung in Europa, welche bereits vor 500 Jahren begann, war damit ausschlaggebend für die Etablierung eines stabilen Staatensystems und für den hohen Lebensstandard, welchen wir in weiten Teilen Europas haben und von denen jeder einzelne, der sich an dem gesellschaftlichen Leben beteiligt, profitieren darf. An diesem Beispiel sollten die arabischen Staaten sehen, dass eine Zukunft in Frieden und Wohlstand nur dann gegeben sein kann, wenn sie dem europäischen Vorbild folgen. Dabei ist natürlich nicht die Abkehr von der Religiosität der Gesellschaft gemeint, denn die Grundsätze bzw. Regeln der jüdischen sowie christlichen und davon abgeleiteten muslimischen Religionsschriften haben die Grundlagen für das Verständnis menschlichen Zusammenlebens in den jeweiligen Gesellschaften gelegt und sind auch weiterhin enorm wichtig; aber das staatliche System sollte rein rational gestaltet sein.

So zeigt die folgende Einschätzung von Dr. Asseburg, Leiterin der Forschungsgruppe Naher/ Mittlerer Osten und Afrika bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), dass ein sicheres und überwiegend funktionierendes System in den betroffenen Staaten wohl vorerst nicht durch Demokratisierungs-Maßnahmen erreicht werden kann.

„Über Jahrzehnte galten der Nahe/ Mittlere Osten und Nordafrika als Konfliktregion und die arabischen Regime als autoritär und korrupt. Zugleich zeigten sich diese Regime aber als überwiegend stabil und anpassungsfähig. Symbolisiert wurde diese Stabilität durch Herrscher, die seit 20, 30 oder gar 40 Jahren an der Macht waren, wie Präsident Zine el-Abidine Ben Ali in Tunesien, Präsident Hosni Mubarak in Ägypten oder Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi in Libyen. Zudem war das Bild der arabischen Welt geprägt von dynastischen Erbfolgen. Diese wurde nicht nur in den Monarchien der Region praktiziert – etwa in Marokko, Jordanien und Saudi-Arabien –, sondern auch im Präsidialsystem Syriens im Jahr 2000“ (Asseburg 2011).

6. Schlussteil

Die in dieser Hausarbeit aufgeworfene Fragestellung, unter welchen Bedingungen die Entstehung und der Verlauf von Revolutionen durch die sozialen Medien beeinflusst wird, kann also abschließend nicht eindeutig beantwortet werden. Die sozialen Medien haben bei Anwendung in der breiten Masse durchaus einen entscheidenden Einfluss auf die Entstehung eines bürgerlichen Aufstandes bzw. einer Revolution. So wären die hinterfragten Bedingungen in diesem Kontext mit den Eigenschaften Regierungs-Legitimität und -Aggressivität zu benennen. Bereits die Geschehnisse des Arabischen Frühlings haben gezeigt, dass diese neuen Wege der Kommunikation und Datenübermittlung einen erheblichen Beitrag zur Verbreitung der Bewegung leisteten.

Die viel wichtigere Frage jedoch lautet, war es denn auch ein positiver Beitrag, den die sozialen Medien für den Arabischen Frühling (als Beispiel) beisteuerten. Verhält es sich mit den sozialen Medien vielleicht ähnlich den Ideen des westlichen Demokratieverständnisses? Können Anwendungen, welche ihre Vielfalt und ihren eigentlichen Nutzen nur in einem durch Grundrechte, vor allem Pressefreiheit, geschützten Raum entfalten können, in den Regionen des Orients mit seinen teils mittelalterlich-anmutenden Wertevorstellungen, überhaupt positive Einflüsse mit sich bringen? Die in Abschnitt fünf aufgeführte Herleitung bzw. Beschreibung zur Entstehung der modernen Nationalstaaten soll aufzeigen, wie lang es in Europa gedauert hat, bis der Nährboden für eine freie und größtenteils tolerante Gesellschaft entstehen konnte. Grundlagen, wie festgeregelte Menschen-, Freiheits- und Grundrechte, ohne die die teils rücksichtslos ehrlichen, perfiden und zynischen Inhalte in den sozialen Medien und Netzwerken kaum zu tragen wären. Nahezu unvorstellbar wären die Ausmaße in Deutschland, wenn es bei jedem religiösen oder national-kritischen Kommentar etc. zu Massenaufmärschen kommen würde, wie es des Öfteren in den islamisch-geprägten Staaten der Fall ist. Man möge sich nur an die dänischen Mohammed-Karikaturen erinnern und die absurden Reaktionen im Mittleren Osten.

Vielleicht ist dieser Teil der Welt noch nicht bereit, um die freiheitlichen und verbindenden Möglichkeiten der sozialen Medien zu erkennen und sinnvoll zu nutzen. Wenn man sich jedenfalls die momentane Situation in den arabischen Staaten anschaut, in denen dieser sogenannte Frühling ausbrach, dann muss man erkennen, dass dieser nahezu nahtlos von einem erschreckend kalten Winter abgelöst wurde. Die Hoffnungen der Menschen auf bessere Lebensbedingungen haben sich kaum erfüllt, zu eng sitzen in den meisten Staaten die Fesseln der religiösen Beschränkungen. Die sozialen Medien hatten in Arabien einen Einfluss auf die bürgerlichen Aufstände, aber wenn man die Auswirkungen auf Ägypten und vor allem auf Syrien sowie Libyen betrachtet, dann war dieser Einfluss mit absoluter Sicherheit nicht positiver Natur.

Literaturverzeichnis

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[...]


[1] Download und weiterführende Informationen stehen auf dem Internet-Auftritt der Northwestern University zur freien Verfügung bereit: https://ccl.northwestern.edu/netlogo/index.shtml.

[2] Steinbruner, John D./ Epstein, Joshua M./ Parker, Miles T. (2001): Modeling Civil Violence: An Agent-Based Computational Approach. Center on Social and Economic Dynamics Working Paper No. 20, Brooking Institution: http://www.brookings.edu/research/reports/2001/01/01technology-epstein.

[3] Epstein, Joshua M. (2002): Modeling civil violence: An agent-based computational approach. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, Vol. 99, pp. 7243-7250: http://computationalmodelingblogs.stanford.edu/wp-content/uploads/2011/01/Modeling-Civil-Violence.-An-Agent-Based-Computational-Approach.pdf.

[4] Von Rationalismus und Fortschrittsglauben bestimmte europäische geistige Strömung des 17. und bes. des 18. Jahrhunderts, die sich gegen Aberglauben, Vorurteile und Autoritätsdenken wendet.

[5] Als Humanismus (14.-16. Jh.) wird eine Geisteshaltung bezeichnet, die historische und kulturelle Epoche der Renaissance kennzeichnete. In Anlehnung an die Antike zielte sie auf ein Idealbild des Menschen ab, der seine Persönlichkeit auf der Grundlage theoretischer & moralischer Bildung frei entfalten kann.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Der Einfluss von sozialen Medien auf den Verlauf von Revolutionen
Untertitel
Agentenbasierte Modellierung in NetLogo
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Note
1,7
Autor
Jahr
2014
Seiten
28
Katalognummer
V343035
ISBN (eBook)
9783668331563
ISBN (Buch)
9783668331570
Dateigröße
943 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Revolutionen, NetLogo, Agentenbasierte Modelle, Modellierung
Arbeit zitieren
Patrick Pobuda (Autor:in), 2014, Der Einfluss von sozialen Medien auf den Verlauf von Revolutionen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/343035

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