Die Versöhnung ökonomischer und ethischer Zielsetzungen im Bereich der Sozialen Arbeit

Welche Chancen bieten Modelle selbstführender Organisationen?


Hausarbeit, 2016

27 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Sozialwirtschaftliche Bedarfe moderner westlicher Gesellschaften
2.1 Qualität sozialer Leistungen
2.2 Ökonomische Prinzipien in der Sozialwirtschaft
2.3 Ethische Standards
2.4 Vereinbarkeit von Ökonomie und Ethik in SWO

3. Organisationsparadigmen im Wandel der Zeit
3.1 Evolutionäre Stufen von Organisationen und deren Paradigmen
3.1.1 Das traditionelle konformistische Paradigma
3.1.2 Das moderne leistungsorientierte Paradigma
3.1.3 Das postmoderne pluralistische Paradigma
3.2 Analogien zu Organisationstheorien
3.2.1 Rationale Ansätze
3.2.2 Human-Ressource Ansatz
3.2.3 Strukturfunktionalistische und Systemische Ansätze

3.3 Perspektiven organisationaler Strukturen

4. Merkmale selbstführender Organisationsformen
4.1 Selbstführung in sozialen Organisationen am Beispiel BUURTZORG
4.1.1 Keine Hierarchien, keine Vorgesetzten
4.1.2 Stark eingeschränkte Unterstützungsfunktionen
4.1.3 Vertrauen vs. Kontrolle
4.1.4 Kein Organigramm, keine Stellenbeschreibung
4.1.5 Entscheidungen
4.2 Chancen der Übertragung auf deutsches Sozial- und Wohlfahrtssystem

5. Fazit

Literaturangaben

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Der seit Mitte der 1990er Jahre geführte Sozialwirtschaftsdiskurs thematisiert Spannungen und Vermittlungen zwischen ethischen und ökonomischen Zielsetzungen Sozialer Arbeit. Die in diesem Bereich arbeitenden Organisationen stehen vor der Herausforderung, ihre Dienstleistungen an den Bedürfnissen ihrer Adressat_innen auszurichten und gleichzeitig in Passung zu bringen mit den ökonomischen Anforderungen der Gesellschaft. Gesetzgeber, Kostenträger sowie die Öffentlichkeit (etwa in Form von Steuerzahler_innen) erwarten maximale Transparenz und Optimierung in Bezug auf Qualität, Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der entsprechenden Leistungsangebote (vgl. Wanner o.D.: 2).

Die vorliegende Arbeit versucht vor diesem Hintergrund zunächst, jene Erwartungen und Bedarfe westlicher Gesellschaften an sozialwirtschaftliche Konzepte, an die umsetzenden Organisationen und an deren organisationale Strukturen zu skizzieren in Bezug auf die Qualität ihrer Leistungen und ihre ökonomischen wie ethischen Prinzipien. Die sich daran anschließende evolutionäre Einordnung bietet die Möglichkeit, die Entwicklungsstufen traditioneller konformistischer, moderner leistungsorientierter und postmoderner pluralistischer Organisationsformen sowie deren jeweils leitende Paradigmen mit organisationstheoretischen Analogien abzugleichen und in Bezug auf die Einbettung in aktuelle Hierarchiesysteme von Staat und Wohlfahrtsorganisationen zukunftsfähige Perspektiven zu erarbeiten.Diesbezügliche Möglichkeiten selbstführender Organisationsformen werden schließlich am Beispiel der niederländischen „Buurtzorg“ aufgezeigt, welche ohne Hierarchien, ohne Vorgesetzte, mit Vertrauen in statt Kontrolle von Mitarbeiter_innen äußerst erfolgreich im Bereich ambulanter Pflege arbeiten.

Die jene umfangreichen Themenkomplexe verbindenden Leitfragen dieser Arbeit lauten:

- Sind ökonomische und ethische Zielsetzungen im Bereich Sozialer Arbeit vereinbar?
- Welche organisationalen Bedingungen wären hierfür zu erfüllen?
- Wie realistisch ist eine Umsetzung vor dem Hintergrund der deutschen Wohlfahrtsorganisations-Landschaft?

2. Sozialwirtschaftliche Bedarfe moderner westlicher Gesellschaften

2.1 Qualität sozialer Leistungen

Der Begriff der Qualität ist je nach Perspektive an die unterschiedlichsten Kriterien, etwa der Beschaffenheiteines bestimmten Produktes oder einer bestimmten Dienstleistung, der Tauglichkeit aus Kundensicht oder der Preisrelation geknüpft. Qualität ist insofern „keine Wesenseigenschaft oder absolut messbare Größe“ (Grunwald/Steinbacher 2007: 55). Auch in der Sozialwirtschaft gehen die Qualitätskriterien je nach Blickwinkel der Anspruchsgruppen weit auseinander. Leistungsanbieter, unmittelbare Leistungsempfänger, Angehörige, Träger, Politik oder Öffentlichkeit belegen sie mit jeweils unterschiedlicher Definitions- und Marktmacht (vgl. ebd.: 55-56). Speck fasst insofern „soziale Qualität“ als „der Wert oder die Güte professionellen Handelns bzw. einer sozialen Organisation im Sinne ihrer Zweckbestimmung auf der Basis anerkannter fachlicher Normen und eines humanen Wertesystems“ (Speck 2004: 23) zusammen. Diese kann sich auf die Struktur ihrer institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen, auf die Prozesse der Leistungserstellung und auf das Ergebnis in Bezug auf die Leistung (Output) oder in Bezug auf die Wirkung (Outcome) richten. Sowohl die Prozess- als auch die Ergebnisqualität werden von den Adressat_innen als Ko-Produzent_innen sozialer Leistungen entscheidend mitgeprägt (vgl. Grunwald/Steinbacher 2007: 56-57).

Neben der Berücksichtigung begrenzter Ressourcen ist nach Wanner vor allem der Prozess der Leistungserstellung in den Vordergrund eines Qualitätsmanagements zu rücken, über dessen Güte der jeweilige Leistungsempfänger zu urteilen hat. Dies betrifft sowohl mitarbeiter-, markt- als auch produktivitätsorientierte Ziele (vgl. Wanner o.D.: 3-5). Das Qualitätsmanagementsystem EFQM stellt zunächst die Prozessqualität in die Mitte ihres Modells. Anders als die ausschließliche Prozessorientierung des ISO 9000 Systems erweitert das EFQM-Modell ihren Kriterienkatalog allerdings um die Rubriken Führung (10 %), Mitarbeiterorientierung (9 %), Grundsätze und Strategien (8 %) sowie Management von Ressourcen (9 %). Zusammen mit der Prozessqualität (14 %) ergibt sich somit ein Bewertungsanteil von 50 % bei den Befähiger-Kriterien, neben die ein ebenso 50-prozentiger Bewertungsanteil von Ergebniskriterien gestellt wird, der sich wiederum aus Mitarbeiterzufriedenheit (9 %), Kundenzufriedenheit (20 %), Gesellschaftliche Verantwortung (6 %) sowie die Geschäftsergebnisse (15 %) zusammensetzt. Eine i.d.R. jährliche Selbstbewertung dient dem Ansatz eines umfassenden Qualitätsmanagements als Instrument kontinuierlicher Qualitätsverbesserung (vgl. Wanner o.D.: 6-14).

In Bezug auf die Messung und Bewertung von Akzeptanz und Effizienz unter ihren Adressat_innen ist bei den SWO in den letzten Jahren im Rahmen von Qualitätssicherungsmaßnahmen eine deutliche Entwicklung zu erkennen, sei es, weil im SGB immer mehr gesetzliche Rahmenbedingungen hierfür geschaffen worden sind (bspw. § 79a SGB VIII Qualitätsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe oder § 80 SGB XI Qualitätssicherung in Pflegeheimen), sei es aber auch durch den Druck der Kostenträger, die im Falle der Nicht-Implementierung von QM-Systemen Budgets kürzen oder ganze Abteilungen schließen könnten (vgl. Wanner o.D.: 2). Das EFQM bietet hierfür ein geeignetes Instrumentarium, nicht nur Prozesse und deren Optimierung in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen, sondern auch um die Belange der Adressat_innen und Mitarbeiter_innen angemessen in die Organisation zu integrieren.

2.2 Ökonomische Prinzipien in der Sozialwirtschaft

Der sozialwirtschaftliche Bereich hat sich seit den 1990er Jahren in vielerlei Hinsicht grundlegend geändert. „Fiskalische Zwänge und Abkehr von der traditionellen „ex-post“-Kostenerstattung“ (Arnold 2000: 53) zwingen alle in diesem Bereich Verantwortlichen, ihre ökonomischen Rahmenbedingungen zu reflektieren und ihr Handeln auf Effizienz und Effektivität hin zu überprüfen. Die reine Übertragung profitorientierter, betriebswirtschaftlicher Managementkonzepte auf Non-Profit-Organisationen (NPO) und hier speziell im sozialen Bereich der Sozialwirtschaftlichen Organisationen (SWO) birgt jedoch die Gefahr kontraproduktiver, existenzbedrohlicher Ergebnisse (vgl. ebd.). Ihre Anordnung im Dreieck von Markt, Staat und Primärgruppen lassen zudem keine klar definierten Abgrenzungen zu, einzig, dass es sich hierbei um Organisationen handelt, welche non-profit, non-business, nicht staatlich und nicht kommerziell ausgerichtet sind. Stattdessen verfolgen sie ausschließlich Zwecke einer Fremdbedarfsdeckung. Wie jedoch alle formalen Organisationen, müssen auch SWO knappe Ressourcen mit den verfolgten Sachzielen in Passung bringen, für die sie funktionelle Anforderungen in Bezug auf das Zielsystem, das leistungsbezogene System und das soziale System zu erfüllen haben. Die hieraus erwachsenden Managementaufgaben bestehen in der Initiierung von Zielbildungs- und Erreichungsprozessen, der Planung von Produktions- und Distributionsprozessen, der Motivation, Kontrolle und Koordination arbeitsteiliger Systeme und der Vernetzung mit anderen (externen) Leistungsträgern (vgl. ebd.: 58-59).

Soll nun ein Wissens-Transfer zwischen privatwirtschaftlichen Ansätzen und Ansätzen der SWO hergestellt werden, ist es wichtig, den Fokus auf die strukturellen Differenzen zwischen jenen organisationalen Welten zu richten, allen voran, ihren Zielsetzungen (Formalzieldominanz vs. Sachzieldominanz, Gewinnerzielung vs. Produktion sozialer Dienstleistungen), ihren Austauschbeziehungen (Schlüssiger Tausch Anbieter/Kunde vs. unschlüssiger Tausch Mehrecksbeziehungen aus Leistungsempfänger/Anspruchgestalter/Bedarfsfeststeller/Kostenträger) und der Steuerungsrationalität (Tauschrationalität vs. Hierarchie/Verhandlungen/Solidarität/Wahl) (vgl. ebd.: 61-62). Aber auch die Differenzen im Bereich der Entscheidungsträger (Eigentümer in privatwirtschaftlicher Organisation gegenüber einer heterogenen Entscheidungslandschaft aus Kostenträger, Leistungserbringer, Anspruchgestalter und Bedarfsfeststeller) lassen eine unreflektierte Übertragung ökonomischer Rezepturen als wenig sinnvoll erkennen. Im Gegensatz zum privatwirtschaftlichen Unternehmertum, welches sich im rigiden Verfolgen von Eigeninteressen in Form von Überschusserzielung und Kapitaleinkommen äußert, und welches die Bedürfnisbefriedigung der Kunden_innen ausschließlich zu diesem Zwecke sieht, sehen die Rahmenbedingungen von SWO in jener Bedürfnisbefriedigung den primären Zweck ihres Handelns. Kapitalverzinsung spielt keine (dominierende) Rolle, Überschüsse dürfen nicht ausgeschüttet werden, sie dürfen allenfalls genutzt werden zu internen Quersubventionierungen. Zudem dient die vorhandene Kapitalausstattung nicht der Kompensation von Austauschrisiken (vgl. Arnold 2000: 63-64).

Die knapper zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen in Bund, Ländern, Kommunen und anderen öffentlichen Anstalten im Sozialbereich haben negative Auswirkungen auf die Ausstattung der Sozialbudgets, die im Zusammenhang mit der Zurückdrängung der privilegierten Stellung der freien Wohlfahrtspflege weitreichende Folgen für SWO hat (vgl. Arnold 2000: 67). Spätestens mit der Neufassung der §§ 78 a-g SGB VIII erfährt der subsidiäre Grundgedanke eine neue marktwirtschaftliche Orientierung, in der freigemeinnützige und privatgewerbliche Leistungsanbieter gleichgestellt und deren Kooperationen mit öffentlichen Trägern auf die Grundlage von Vereinbarungen über Kosten und Qualität von Leistungen gestellt werden, mithin ein staatlich regulierter Quasi-Markt mit Trägerkonkurrenz und Effizienzdruck (vgl. Olk 2011: 420). SWO sind gefordert, ihre finanziellen Handlungsmöglichkeiten mehr denn je in ihrer ganzen Bandbreite aus staatlicher Förderung, Stiftungen, Spenden, Mitgliederbeiträgen, Kooperationen und schließlich auch Leistungsentgelten sicherzustellen. Damit dies gelingt, gilt es, für die spezifische Leistungsfähigkeit von SWO eine Akzeptanz in der breiten Öffentlichkeit herzustellen (vgl. Arnold 2000: 67-68).

Ein weiteres Spezifikum von SWO liegt in der Mitarbeiterstruktur, welche sich neben regulären haupt- oder nebenamtlichen Arbeitnehmer_innen anders als bei privatgewerblichen Unternehmen auch aus ehrenamtlichen Nichtarbeitnehmern und aus hauptberuflichen Helfer_innen des freiwilligen sozialen Jahres, arbeitenden Betreuten, Ordensangehörigen und Diakonissen zusammensetzt (vgl. Arnold 2000: 68-70). Auch wenn die Koordination einer derartig heterogenen Mitarbeiter_innenstruktur für SWO eine große koordinatorischeHerausforderung darstellt, bietet sich hier jedoch im Wettbewerb mit privatwirtschaftlichen Organisationen die Chance, deren Vorteilen (bspw. bei der freien Kapitalisierung) etwas entgegenzusetzen.

2.3 Ethische Standards

Soziale Arbeit und mithin auch alle Organisationen, die in diesem Bereich ihr Betätigungsfeld gefunden haben, brauchen, so der Tenor einer Arbeit von Wolfgang Klug eine wissenschaftliche Ethik (vgl. Klug 2000: 175-206). Luhmanns in den späten 1970er Jahren formulierter Ansatz, nachdem Hilfe nichts mehr mit Ethik zu tun hat sondern mit durch korrekte Verfahren beschlossenen Programmen und, dass infolgedessen Ethik nicht mehr Sache der Sozialen Arbeit sondern der Politik sei, hält Klug entgegen, dass Soziale Arbeit als System der Hilfe selbst Teil einer auf gesellschaftlichem Grundkonsens beruhenden „Sozialkultur“ ist, dessen Legitimations- und ethische Grundsatzfragen ihr Handeln direkt betreffen. Soziale Arbeit müsse insofern also klären, wie weit die Reichweite ihrer Arbeit angelegt sein soll (vgl. Klug 2000: 176-177).

Abseits dieser Grundsatzfrage gestalten sich Entscheidungen für oder gegen bestimmte Handlungsnotwendigkeiten vor dem Hintergrund einer heterogenen Landschaft aus Lebensentwürfen überaus schwierig. Für eine Unterscheidung zwischen geglückten und missglückten Lebensentwürfen als Ausgangspunkt sozialarbeiterischen Handelns kann nicht ernsthaft auf allgemeingültige oder allgemeinverbindliche Werte europäischer Kultur verwiesen werden (vgl. Klug 2000: 177-179). Das Selbstverständnis der Professionellen im Bereich der Sozialen Arbeit ist gekennzeichnet von einer auf Gemeinwohl statt Eigennutz ausgerichteten Berufsethik, deren Normen (bspw.: Code ofEthics (CoE) oder die deutsche Berufsordnung der DBSH) sich im Berufsalltag, im Arrangement mit den Dienstgebern und in ihrer Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft oftmals als Konfliktpotential erweisen (vgl. Klug 2000: 179-182). Dort wie im gesamten Bereich der Sozialen Arbeit darf jedoch nach Staub-Bernasconi nicht der Fehler gemacht werden, jene Wertedimension ohne hinreichende Reflexion auf etwa Emanzipation oder auf Autonomie der Lebenswelt festzulegen. Damit würden „diese Wertsetzungen aber der weiteren Reflexion und vor allem der empirischen Überprüfung der Folgen ihrer Verwirklichung“ (Staub-Bernasconi zit. in Klug 2000: 182) entzogen. Ethische Rahmung Sozialer Arbeit erfordert also ebenso eine Reflexionsleistung über 1.) die Bedeutung eines „gelingenderen Alltags“ im Sinne Thierschs Lebensweltorientierung, 2.) über den Eigenansatz sozialarbeiterischer Ethik im Angesicht existenzieller Situationen und schließlich 3.) über ihre Rolle als Konterpart zur Ökonomie (vgl. Klug 2000: 182-190).

2.4 Vereinbarkeit von Ökonomie und Ethik in SWO

Für soziale Organisationen bedeutet die gleichzeitige Orientierung einerseits an dem Rationalitätsprinzip „ als Streben nach größtmöglicher Zweckerfüllung bei geringstmöglichem Mitteleinsatz“ (Grunwald 2011: 1552) und systemrationalen Bemühungen, „das eigene System in einer sich wandelnden und zunehmend komplexeren Umwelt zu erhalten“ (ebd.) und andererseits politischen Rationalitäten als ausgleichende Kompetenzsowohl die Zufuhr unterschiedlicher Ressourcen als auch die Glaubwürdigkeit der Organisation abzusichern und einer soziokulturellen Rationalität als Garant für Akzeptanz, Unterstützung und Kooperation im jeweiligen Umfeld (vgl. Grunwald 2011: 1552-1553) eine große Herausforderung. Hierbei gilt es, Prozesse der Ökonomisierung nicht mit Ökonomismus als die Soziale Arbeit fremdbestimmende und unzweckmäßig dominierende Effizienzorientierung gleichzusetzen (vgl. ebd.: 1556). Organisationen im Bereich der Sozialen Arbeit sind nach Lutz vielmehr gefordert, Potentiale ihrer Adressat_innen und deren Umfeld zu identifizieren und ihre Dienstleistungen im Sinne einer Aktivierung auf die „Autonomie der Subjekte“ auszurichten (vgl. Lutz 2011: 7). Hierfür sind nach Russau optimale Strukturen mit guten Sozialmanager_innen unabdingbar, welche „ökonomisch denken und handeln und die auf Grundlage von Effizienz und Effektivität, die bestmöglichen Strukturen für eine bestmögliche qualitative Soziale Arbeit – und damit auch den Raum für Evidenz – schaffen (…) [denn:] e ine Soziale Arbeit ohne Ökonomie würde soziales Handeln wieder zu einem Akt der Barmherzigkeit machen…“ (Russau 2011).

Auch nach Wolfgang Klug ist Soziale Arbeit nur in Kombination der oft konträr verhandelten ethischen und ökonomischen Ansätze möglich. Eine absolute Verschließung gegenüber ökonomischen Prinzipien bedeuteten in der zugespitzten Argumentationsumkehr des Kosten-Nutzen-Prinzips, dass ohne Effizienzdruck ein minimaler Output mit maximalem Aufwand akzeptiert würde. Aber auch aus ökonomischer Sicht gilt eine ungezügelte Marktwirtschaft nicht mehr als Ultima Ratio, vielmehr orientieren sich neuere Wirtschaftstheorien an einem lebendigen Organismus als Paradigma (bspw. Maliks St.-Galler-Modell der Kybernetik), dessen neues Unternehmensziel Lebensfähigkeit als Überlebenssicherung heißt (vgl. Klug 2000: 189). Weiterhin verweist Klug auf die Zusammenhänge zwischen Leistungsgerechtigkeit und solidarischer Gemeinschaftsverpflichtung, bei deren Schieflage der soziale Friede stark gefährdet sei, welcher wiederum eine der wichtigsten Grundsäulen einer Industrienation (wie Deutschland) sei. Sozialarbeiterische Ethik könne insofern sowohl vor den Versuchungen antikapitalistischer Klassenkampf-Klischees schützen als auch vor dem gesellschaftlichen Mainstream-Glauben, dass die kostengünstigste Lösung immer die richtige sei (vgl. ebd.: 189-190).

3. Organisationsparadigmen im Wandel der Zeit

Die geschichtliche Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen wurde und wird bestimmt von Organisationsmodellen, die im Kontext der jeweiligen Weltsichten, der jeweiligen Bedürfnislagen, der kognitiven und der moralischen Entwicklungdas menschliche Zusammenleben erklär- und anwendbar machen. Die Ablösung ihrer jeweiligen Paradigmen durch neue Organisationsverständnisse und -modelle führtedie Menschheit jeweils zu historischen Durchbrüchen innovativer Gesellschaftsgestaltung mit all ihren ökonomischen wie hierarchischen Aspekten. Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die jeweiligen Phasen, so plausibel sie auch vor dem Hintergrund ihrer Zeit gewesen sein mochten, nicht auf ewig fixiert waren und, dass auch ein gegenwärtiges, als postmodernes pluralistisches Organisationsparadigma (vgl. Laloux 2015: 31-37), nicht auf ewig gelten wird (vgl. Laloux 2015: 11-14).

3.1 Evolutionäre Stufen von Organisationen und deren Paradigmen

Laloux (2015) unterteilt diese Entwicklung in sechs Phasen. Nach den Stufen des reaktiven Paradigmas (ca. 100.000 – 50.000 v. Chr.), des magischen Paradigmas (ab ca. 15.000 v. Chr.) und des tribalen impulsiven Paradigmas (ab ca. 8.000 v. Chr.), deren erste Organisationsformen durch die ständige Machtausübung eines Anführers und die Unterordnung seiner Untertanen gekennzeichnet sind (vgl. Laloux 2015: 14-17), erscheinen besonders die darauf folgenden paradigmatischen Ausrichtungen und deren Durchbrüche für die Menschheitsgeschichte relevant für die vorliegenden Betrachtungen über soziale Organisationen.

3.1.1 Das traditionelle konformistische Paradigma

Mit der Staatenbildung Mesopotamiens (ca. 4.000 v. Chr.) beginnt eine Entwicklung, in der das Verstehen über die Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung erstmals Rückschlüsse auf mögliche zukünftige Entwicklungen (bspw. Ernte/Landwirtschaft) zulassen. Gleichzeitig entwickelt sich bei den Menschen eine differenziertere Wahrnehmung eigener und anderer Rollenzuschreibungen mit dem Bedürfnis der Bestätigung, Akzeptanz und Zugehörigkeit. Die egozentrische Charakteristik tribaler Strukturen wird durch eine kollektive, ethnozentrische Haltung („Wir oder die anderen“) ersetzt. Dazugehören heißt, die statischen, moralischen Normierungen zu akzeptieren und zu verinnerlichen. Wer danach lebt, wird belohnt, wer davon abweicht, wird bestraft. Das daraus erwachsende neue Bedürfnis nach Ordnung, Stabilität und Voraussagbarkeit manifestiert sich in der Entwicklung von Institutionen und Bürokratien, welche Anweisungen und Kontrolle durch stark formalisierte Rollen und Identitäten innerhalb einer hierarchisch angelegten Pyramide von oben nach unten durchorganisieren. Die wichtigen Durchbrüche des traditionellen konformistischen Paradigmas sind stabile Prozesse,die Ermöglichung langfristiger Perspektiven sowie deren Umsetzung mittels skalierbarerformaler Hierarchien und Rollen.Sie sind auch heute noch Sinnbild aktueller Organisationsmodelle, bspw. katholische Kirche,Militär oder auch die meisten regierungsbehördlichen Organisationen. Ihre Metapher ist die Armee (vgl. ebd.: 19-22).

3.1.2 Das moderne leistungsorientierte Paradigma

Der nächste wichtige Umbruch führt das westliche Denken zu einem modernen leistungsorientierten Paradigma, in der die Welt nicht mehr als stabiles Universum mit unveränderlichen Regeln gesehen wird sondern als ein „komplexes Uhrwerk, dessen innere Mechanismen und natürlichen Gesetze untersucht und verstanden werden können“ (ebd.: 23). Erste Merkmale eines solchen Paradigmas zeichnen sich bereits im Zeitalter der Renaissance ab und entfalteten sich über die Aufklärung und Industrialisierung zu der aktuell sicherlich dominierenden Perspektive in der Führung von Wirtschaft und Politik. Deren Ziele, im Wettbewerb besser dazustehen als die Konkurrenz, Profite zu erwirtschaften und zu expandieren, wird durch ein hohes Maß an Innovationskraft ermöglicht. Effektivität wird hier anstelle der Moral zur Triebfeder des Systems, bei der Anweisung und Kontrolle die Steuerungsmöglichkeiten darstellen. Gleichwohl birgt auch dieser Ansatz seine Schattenseiten in Form übersteigerter Gier, nur kurzfristig angelegter politischer Strategien, übermäßigen Konsums und einer schonungslosen ökologischen Ausbeutung unserer Ressourcen und Ökosysteme. Seine Weltsicht ist durchweg materialistisch angelegt mit wenig Raum für Spiritualität und Transzendenz, mehr ist meist besser, und je schneller die gesetzten Ziele erreicht werden desto eher könnte dies die Menschen glücklich machen. Das moderne Paradigma ist insofern überwiegend auf die Zukunft ausgerichtet. Drei entscheidende Durchbrüche haben sein Organisationsmodell so erfolgreich machen können: 1.) Innovation durch Hinterfragung des Gegebenen und Öffnung funktionaler, hierarchischer Strukturen zur Beschleunigung nicht nur prozess- sondern vor allem projektbezogener Verbesserungen durch Forschung, Entwicklung, Marketing und Produktmanagement, 2.) die Verlässlichkeit durch Prognosen, Planungen, Zielvorgaben und Kontrollieren als Managementinstrumente, sowie 3. ) das Leistungsprinzip, in dem Instrumente der Personalentwicklung bspw. Leistungsbeurteilungen, Anreizsysteme, Talentmanagement oder Leadership-Training die motivationale Lage der Mitarbeiter_innen positiv beeinflussen sollen und in denen ein Aufstieg grundsätzlich jedem möglich ist. Die Metapher dieses Organisationsmodells ist die Maschine (vgl. ebd.: 23-29).

3.1.3 Das postmoderne pluralistische Paradigma

Das postmoderne pluralistische Paradigma schließlich erweitert den Blick einer rein materialistischen Sichtweise um die Gefühle und tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen, die ungeachtet ihrer zugeteilten oder eingenommenen Rollen gleichen Respekt verdienen und denen „Fairness, Gleichheit, Harmonie, Gemeinschaft, Kooperation und Konsens“ (ebd.: 30) zusteht. Erste Anzeichen dieserPerspektive sind bereits Ende des 18. und im 19. Jh. mit Bestrebungen zur Abschaffung der Sklaverei, zur Auflösung von Rollenzuweisungen an Frauen, zur Trennung von Staat und Kirche, Religionsfreiheit und Demokratie zu erkennen.Radikalere, egalitär angelegte Experimente zur Überwindung der Ungerechtigkeiten der industriellen Revolution hatten jedoch nicht für eine längere Zeitspanne Bestand; Konsens und Hierarchielosigkeit als Triebfedern waren für große Gruppen zunächst kein ausreichendes Bindemittel. Heute sind postmoderne Ansätze überwiegend in akademischen Denkweisen, in gemeinnützigen Organisationen und in Bereichen der Sozialen Arbeit verbreitet. Wichtiger als die Ergebnisse werden hier die Beziehungen gehandelt, bei denen sich das Verständnis von Prozessen orientiert an der Perspektive der Menschen von unten nach oben. Das große Manko des postmodernen Paradigmas ist ihre ambivalente Haltung zu Regeln, die konstruiert und insofern willkürlich erscheinen mögen, deren Abschaffung jedoch oft genug anderes Unrecht hervorbringt. Zudem scheint dieser Ansatz wenig effektiv bei der Formulierung praktikabler Alternativen. Dennoch hat auch dieses Paradigma drei Durchbrüche geschaffen, welche auch in größeren Zusammenhängen neue Organisations- bzw. Kooperationsansätze ermöglichen: 1.) Empowerment als Form der Ermächtigung zum Handeln, welche auch bei grundsätzlicher Belassung hierarchischer Strukturen dennoch weitgehende Entscheidungskompetenzen an Arbeiter_innen und Angestellte weitergibt, 2.) Werteorientierte Kultur und eine inspirierende Sinnausrichtung, welche dem Auseinanderfallen dezentral angelegter Strukturen wirksam entgegentreten kann und schließlich 3.) Integration verschiedener Interessensgruppen (bspw. Shareholder, Mitarbeiter_innen, Kund_innen), welche gemeinsam am Erfolg der Organisation profitieren. Weitverbreitete Metapher postmodern orientierter Organisationen ist die Familie (vgl. ebd.: 30-35).

3.2 Analogien zu Organisationstheorien

Von organisationstheoretischem Blickwinkel lassen sich vor allem in Bezug auf Laloux‘ traditionellen, modernen und postmodernen Eingruppierungen Analogien herstellen, welche für die Entwicklung zukunftsfähiger Organisationsformen sowohl in Bezug auf deren Einbettung in den historischen Kontext als auch auf die mit diesen Theorien verbundenen Grenzen, Einschränkungen und Gefahren von großer Bedeutung sind.

[...]

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Die Versöhnung ökonomischer und ethischer Zielsetzungen im Bereich der Sozialen Arbeit
Untertitel
Welche Chancen bieten Modelle selbstführender Organisationen?
Hochschule
Hochschule RheinMain - Wiesbaden Rüsselsheim Geisenheim
Veranstaltung
Organisation und Management Sozialer Arbeit
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
27
Katalognummer
V342533
ISBN (eBook)
9783668324084
ISBN (Buch)
9783668324091
Dateigröße
1027 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Selbstführung, selbstführende Organisation, Ökonomie, ethik, Sozialwirtschaft, Organisationsparadigma, Organisationsparadigmen, Organisationstheorie, Wohlfahrtssystem, Buurtzorg, ESBZ, Evolutionär, Qualitätsmanagement, Laloux, Jos de Blok
Arbeit zitieren
Heinrich Bellinghausen-Thomas (Autor:in), 2016, Die Versöhnung ökonomischer und ethischer Zielsetzungen im Bereich der Sozialen Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/342533

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