Frei Demokratische Schulen in Deutschland. Eine Lösung für die Bildungskrise?


Bachelorarbeit, 2016

49 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Frei-Demokratische-Bildung und Antipädagogik

3 Überblick der Struktur des deutschen Schulsystems

4 Schulsozialarbeit in Deutschland

5 Menschenrechte und Kinderrechte

6 Bildung in Demokratie und Freiheit

7 Sudbury Valley School: Entstehungsgeschichte

8 Feldforschung

9 Möglichkeiten der Sozialen Arbeit an der Weiterentwicklung mitzuwirken

10 Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

1 Einleitung

Ich schreibe meine Bachelor Thesis über Frei-Demokratische-Schulen, meinen Blick richte ich in der folgenden Arbeit speziell auf Sudbury-Valley-Schools. Ich habe mich für diese spezielle Form der reformpädagogischen Schule entschieden, da ich bei meinen Recherchen zum Thema Bildung in Europa auf dieses Konzept und seine Verbreitung auf der ganzen Welt aufmerksam wurde. Da ich mich schon seit einiger Zeit mit der traditionellen Schule und reformpädagogischen Bildungskonzepten auseinander setze, war ich von diesem Konzept überrascht. Im Zuge der Auseinandersetzung mit der Arbeitsweise der Sudbury-Valley-School stellte sich mir die Frage, ob diese pädagogische-Bildungsform die Lösung für die momentanen Probleme des Bildungswesens sein könnte: Erscheint es als möglich, dass Inklusion und Integration in diesem Frei-Demokratischen-System gut umsetzbar wären? Welche Vorteile und Nachteile hat diese pädagogische Methode für ihre Adressaten? Ist Frei-Demokratische Erziehung eventuell die einzige Möglichkeit, die Rechte von Kindern umzusetzen? Und was kann Soziale Arbeit leisten, um diese Form der Pädagogik zu unterstützen? Ist es wirklich erstrebenswert, Kinder Frei-Demokratisch zu erziehen und zu bilden? Diesen Fragen werde ich in meiner Thesis auf den Grund gehen. Um das Thema von allen Seiten beleuchten und hinterfragen zu können, werde ich Fachliteratur, Internetquellen und Experteninterviews hinzuziehen. Ziel dieser Thesis ist es, unser aktuelles Schulsystem mit dem Konzept der Frei-Demokratischen-Bildung zu vergleichen. Die zentralen Gesichtspunkte sind Partizipation im Kontext Schule, Erwerb von Wissen und Bildung sowie die Rechte von Kindern. Demokratie und die Rechte des Einzelnen stehen in dieser pädagogischen Bildungs- und Erziehungsform im Vordergrund. Genau an diesem Punkt sehe ich eine der wichtigsten Schnittstellen zur sozialen Arbeit, denn unsere Profession verpflichtet uns dazu, das Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen aufrecht zu erhalten und zu fördern. Dies ist in einem Bildungs- und Erziehungssystem, welches auf Herrschaft geprägten Strukturen beruht, allerdings höchst zweifelhaft. Unser bestehendes Schulsystem erwartet funktionierende, normative Kinder und Jugendliche, die sich dem System unterordnen. Dieses Bildungssystem sortiert gnadenlos aus, es kommt zur Ausgrenzung von Schülerinnen und Schülern und die Grundrechte der Kinder werden missachtet. Zu dieser Überzeugung kam beispielsweise die Autorin Franziska Klinkigt in ihrem Buch „Wer sein Kind liebt...“. Sie erläutert am Beispiel von Mobbing sehr überzeugend ihre These der strukturellen Gewalt in Schulen. Ist Mobbing möglicherweise die Reaktion der Schüler auf ein System, welches sie als gefährlich empfinden? Bedroht Schule den Selbstwert, die Würde, die Integrität, die Freiheit, das Selbstvertrauen und die Selbstverwirklichung von Schülerinnen und Schülern? (vgl.Fransiska Klinkigt, Wer sein Kind..., S. 15) Wenn diese These zutrifft, verstößt die klassische Schule gegen Menschen- und Kinderrechte.

2 Frei-Demokratische-Bildung und Antipädagogik

In der Fachwelt wird immer wieder über die Möglichkeiten dieser Bildung diskutiert. Hierbei ist man sich jedoch sehr uneinig darüber, ob sich Kinder frei bilden können. Hinzu kommt, dass in diesem Diskurs Antipädagogik immer wieder mit „laissez fairer“ und „antiautoritärer Erziehung“ auf eine Stufe gestellt wird. Dieser Vergleich ist deshalb unzureichend, da Antipädagogik sich von dem Erziehungsgedanken vollkommen frei macht und die Kinder und Jugendlichen als „ebenwürdige“ Menschen mit den identischen Rechten wahrnimmt und jegliches Machtgefälle ablehnt. Wenn man bedenkt, dass in den vergangenen Jahren unser staatliches Schulsystem einen ganz anderen Weg verfolgt hat, welcher in Richtung strenger, schneller, einheitlicher abzielt – dorthin tendiert nach Bertrand Stern (2008) nämlich die Diskussion der Öffentlichkeit – wird schnell klar, dass dieses Thema bis heute nicht an Aktualität verloren hat. Das Gegenteil ist der Fall: Die Diskussion um die Bildung unserer Kinder ist stark entbrannt und häufig von Angst getrieben. Aktuell besteht immer noch kein Konsens darüber, ob das Konzept der freien Bildung „gut“ ist für die Entwicklung unserer Kinder. Daher werde ich in diesem Abschnitt auf die lange Geschichte der Antipädagogik und der Frei-demokratischen-Bildung eingehen. Die Antipädagogische-Bewegung entstand in den 1970er Jahren, leider ist sie nie wirklich populär geworden, was sicherlich auch mit der Fehleinschätzung zusammenhängt, es würde sich um antiautoritäre Erziehung handeln. Der Begriff Antipädagogik wurde durch das gleichnamige Buch von Ekkehard von Braunmühl 1975 geprägt. Er nimmt in diesem Buch eine Position ein, die sich von jeglicher Erziehung absetzt: Sein Buch ist ein Plädoyer dafür, die Erziehung als solche vollkommen aufzugeben. Wenn man den Ansatz der Antipädagogik also konsequent durchdenkt, gelangt man zu der Sichtweise, das jedes Kind selbstbestimmt tun und lassen kann, was es möchte, solange es durch sein Handeln nicht die Freiheit, Unversehrtheit oder Entfaltung eines Anderen stört. Das Ziel der Antipädagogik ist es, die Individualität jedes Kindes zu akzeptieren und ihm die Freiheit zu lassen, die es braucht, um sich zu entfalten und heranzuwachsen. Diese pädagogische Ausrichtung sieht das Kind als intelligenten, sich selbst regulierenden Menschen und entgegen der gängigen Erziehungsmodelle spricht sie den Kindern nicht die Verantwortung für das eigene Handeln ab. Eltern und Pädagogen, die diese pädagogische Form des Umgangs mit dem Kind wählen, sehen sich oft mit dem Vorurteil konfrontiert, sie seien zu faul um die Kinder zu erziehen. Dies trifft allerdings gar nicht zu. Mit Kindern antipädagogisch zu Leben ist für die Erwachsenen nicht bequemer oder einfacher. Es erfordert ein hohes Maß an Selbstkontrolle und Selbstreflektion, so wie jede Menge Gespräche auf Augenhöhe. Die Antipädagogik fordert einen grundlegenden Paradigmenwechsel: Grundlegend geht es um Aufgabe und Anspruch, die Zukunft des Kindes leiten und lenken zu wollen. Die Bezugspersonen müssen ihre permanente Erziehungsbereitschaft aufgeben, sie müssen sich von dem Gedanken befreien, sie wüssten, was „das Richtige“ für die Kinder ist. Die Erwachsenen müssen lernen, Rückschläge und Fehlschläge der Kinder auszuhalten und diese nicht zu verhindern, da sie zum natürlichen Lernprozess gehören. Viele Fachkräfte und Eltern sind der Meinung, dass Kinder eine Art Gefäß sind, das Erziehung und Füllung mit Wissen bedarf. Sie sehen in der Antipädagogik die Gefahr der Verwahrlosung und des Versagens, was durch die fehlende Vermittlung von Werten und Bildung erst Zustande kommt. Sie zeichnen ein Horrorszenario von kleinen Wilden, die Anarchie und Zerstörung proben. Anhänger der Antipädagogik hingegen gehen davon aus, dass jedes Kind einen natürlichen Wissensdurst und Selbstregulation mitbringt. Sie sind sich darüber im Klaren, dass alle Menschen und damit logischerweise auch Kinder, „Gutes und Schlechtes mitbringen“. Die sogenannten Lernprozesse verstehen sie nicht in dem Sinne als etwas, dass man künstlich erschaffen und möglichst autoritär vermitteln muss: Sie sehen es als natürlichen Prozess des Lebens und der Demokratie. Würde man eine Umfrage starten, ob Kindern die Menschenrechte zustehen und ob sie ein Anrecht auf Achtung ihrer Person haben, so würden die meisten Menschen wahrscheinlich beide ebengenannten Fragen mit ja beantworten. Wenn man die selben Menschen nun fragte, ob sie Erziehung für notwendig hielten, wäre die Antwort ebenfalls ja. Wie passt das nun zusammen, wenn man nach „antipädagogischen“ Standards diese Fragen beleuchtet, schließt das eine das andere aus. Letztendlich plädiert Antipädagogik doch nur für eine Achtung der vollen Rechte für alle Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Herkunft. Warum also gestaltet sich der Paradigmenwechsel so schwer und dies, obwohl das Thema in der Bildungsdebatte neu auflebt? Wird es trotz indirekter Verankerung in den Bildungsplänen der Bundesländer immer wieder im Keim erstickt, oder nur halbherzig verfolgt? Selbst in der Hirnforschung kam man zu dem Ergebnis, dass Kinder die größten Bildungserfolge erzielen, wenn man sie „einfach machen lässt“, wenn sie ausprobieren und testen dürfen. Auch wenn es nach Außen hin den Anschein macht, die Kinder würden nur spielen oder gar faul rumliegen, ist in diesen Situationen mit unerwarteten Lernergebnissen zu rechnen. Über die Korrektheit dieser Erkenntnisse ist man sich in der Fachwelt mittlerweile einig. In den Projekten zur Partizipation und Demokratiebildung sind sehr eindeutige Parallelen zur Antipädagogik zu finden. Dies wird allerdings von den ausführenden Fachkräften, wie beispielsweise Erzieherinnen in Kindertagesstätten, meist nicht so gesehen und leider auch häufig nicht so umgesetzt. Dies liegt wahrscheinlich auch daran, dass in der Fachliteratur zur Partizipation fast immer noch von der Erziehungsbedürftigkeit der Kinder die Rede ist. Nun hat vor über 40 Jahren der „Vater der Antipädagogik“ Ekkehard von Braunmühl seine Ansichten zum Bild des Kindes kundgetan und die Antipädagogik als neue Methode eingeführt. Schon Jahrzehnte davor jedoch gab es einen ähnlichen Ansatz von Janusz Korczak, der nebenbei bemerkt, zum Standardunterricht in der Erzieherausbildung gehört. Und trotzdem hat sich die Antipädagogik nie ganz durchgesetzt: Sie wird häufig für absurd, weltfremd und nicht praktikabel gehalten. Trotzdem ist diese Erziehungsmethode, gleich welchen Namen man ihr geben will, in den letzten 40 Jahren nie ausgestorben. (vgl. Unerzogen, 3/15, S. 10ff)

Setzt man sich mit der freien Bildung auseinander, so kommt man an Oskar Negt nicht vorbei. In seinem Buch Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche beschreibt er ausführlich den desaströsen Zustand unserer Schulen und den Umgang der Betroffenen mit der Fehlersuche. Da unsere Gesellschaft es gewohnt ist, in Richtung Wertezerfall zu denken, ist der Schuldige schnell ermittelt: Die Verfechter der antiautoritären Erziehung allein sind schuld an möglichen Rückschlägen, haben sozusagen Alles zerstört und dieser Umstand konnte trotz aller pädagogischen Anstrengungen nie wieder repariert werden. Da in dieser Art von Gedankengängen meist eine Vermischung von Antipädagogik, sowie antiautoritärer, laisiverrär und frei demokratischer Erziehung stattfindet, werden Reformprojekte von diesen Menschen grundlegend abgelehnt. Wir leben in einer Welt der Umbrüche und des Fortschritts: Standen beispielsweise vor 20 Jahren noch an jeder zweiten Straßenecke Telefonzellen, so benötigt diese heute keiner mehr, denn wir tragen kleine alles Könner in der Tasche spazieren. Vor dem technischen Fortschritt versperrte sich unsere Gesellschaft nicht, betrifft dieser aber das Bildungswesen, scheint für unsere Gesellschaft ein Wandel unerreichbar. Von einer grundlegenden Schulreform distanziert man sich, da zu viel Angst vor Rückschritt, Wertezerfall und Zersetzung der Strukturen herrscht. Die gesamte Welt befindet sich im Umbruch, das System der Erwerbsarbeit stößt an seine Grenzen und trotz alledem verfolgen wir weiterhin eine Bildungspolitik, die möglichst schnell möglichst viel Wissen anhäuft und die Jugendlichen in Studium und Berufsausbildung presst. Negt begründet dies mit der natürlichen Reaktion der Menschen auf solch extreme Wandlungen. Automatisch entstünde eine Diskrepanz zwischen der Lernbereitschaft der Menschen und den veränderten Verhältnissen. Dies löst bei den Menschen ganz klar Angst und Verunsicherung aus. Dadurch flüchten sie sich nur all zu gerne in alt hergebrachte Strukturen, die vermeintlichen Schutz und Sicherheit bieten. Die letzte große Bildungsreform fand in Westdeutschland zwischen den späten sechziger und frühen siebziger Jahren statt. Zu dieser Zeit waren die Haushalte gefüllt und die Wirtschaft stabil. Somit gab es ausreichend Mittel, die von Oben nach Unten verteilt werden konnten. Einzelne, kleine Gruppen hegen den Wunsch, die Einrichtungen des Lernens und der Erziehung zu verändern und bemühen sich, diesen Wunsch umzusetzen. Auch das Bild des Kindes und seinen Erziehungsbedarf in der Gesellschaft zu verändern zählt hierzu. Doch diese „Verfechter“ sehen sich meist ohnmächtig und gelähmt einem übermächtigen System ausgeliefert. Die Aufgabe, die vor uns als Gesellschaft und Fachkräften liegt, ist riesig und trotz einer großen Anzahl an Reformschulen und nunmehr 40 Jahren Erfahrung auf diesem Gebiet, hat niemand eine Patentlösung gefunden. Lehrer, Erzieher, Pädagogen, Sozialarbeiter und Eltern stehen am Beginn eines Experimentalstadiums der Bildung und Erziehung. (vgl. Oskar Negt, Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche, S. 9ff)

In einer Studie zur Antipädagogik machte Ekkehard von Braunmühl das subjektive Unrecht publik, das Kindern unter dem Deckmantel von Erziehung und Pädagogik angetan wird. Wir wissen heute weniger den je, wie die Zukunft aussehen wird, so wussten in vergangenen Jahrhunderten Eltern noch ungefähr, wie zumindest die berufliche Zukunft ihrer Kinder aussehen wird: Die Kinder eines Bauern im 18. Jahrhundert würden gewiss den Hof übernehmen, somit wussten die Eltern, welche Fertigkeiten und Werte den Kindern mit hoher Wahrscheinlichkeit nahegelegt werden mussten. Durch den fundamentalen Wandel dem wir heute unterliegen, ist dies aber nicht mehr so. Wir leben in einer präfigurativen Kultur und in einer solchen können die Erwachsenen nicht mehr genau erörtern, wie die Zukunft aussehen wird. Demzufolge können die Erwachsenen auch nicht mehr bestimmen oder erklären, wie die Kinder „sein müssen“, das heißt, welche Fähigkeiten, Fertigkeiten oder welches Wissen sie benötigen werden. Daher müssen wir für die Kinder eine Umwelt schaffen, in der sie Geborgenheit erleben und sich und ihre Umwelt entdecken können. Wir müssen aufhören ihre Freiheit und Selbstbestimmung zu unterdrücken, denn nur so können die jungen Menschen ihre Eigeninitiative und ihre Fähigkeiten voll entfallen. Wir müssen ein neues Bild vom Kind entwickeln beziehungsweise Akzeptieren lernen. Ein Kind muss nicht mehr auf sein späteres Leben vorbereitet oder nach den Vorstellungen der Erwachsenen geformt werden. Kinder sind Individuen, die heute, hier, frei und selbstbestimmt leben und Bildung erwerben. Die logische Schlussfolgerung hieraus ist, dass jegliche Fremdbestimmung abgeschafft werden muss. Braunmühl schreibt, dass in diesem Zusammenhang nur eine nette Mutter auch eine gute Mutter sein kann. (vgl. E. Braunmühl, Anti-Pädagogik, S. 8ff) Die Blickweise der Antipädagogen ist am besten über die Sicht auf die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen zu erläutern. Alle anderen pädagogischen Thesen und Erziehungsstile sind sich bei diesem Punkt einig: Das Menschenkind bedarf der Erziehung, dies drückt Ernst Lichtenstein so aus „Angelegt sein auf Erziehung“ und Heinrich Kupffer veröffentlichte noch 1971 einen Text, in dem er die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen als Wesensmerkmal bezeichnete. Er empfiehlt, dass dies in Institutionen stattfinden sollte, damit das Kind dort Führung und eine Anpassung an die Gesellschaft erlebt. Bis heute halten viele Menschen und auch Fachkräfte Erziehung für zwingend notwendig. Die Antipädagogik sieht dies anders: Kindern stehen dieselben Menschenrechte zu wie Erwachsenen, somit sollten sie sich ohne Zwang und Gewalt frei entfalten können. Die Antipädagogik vertraut auf die Selbstregulation der Kinder und sieht sie als Menschen, denen man mit Respekt, Vertrauen und Toleranz begegnen sollte. In der Antipädagogik sieht man das Kind als soziales Individuum, während die gängige Erziehungsliteratur den Überbegriff der Sozialisation „Bedürftigkeit“ verwendet. Dies impliziert, dass der Mensch bei seiner Geburt ein asoziales Wesen ist und erst durch Sozialisation und Erziehung ein soziales Wesen wird. Nach Braunmühl steht dem die heutige Realität gegenüber, in der die meisten Erwachsenen Charakterzüge aufweisen wie beispielsweise Egoismus, Neid, Ignoranz, Intoleranz, Habsucht, Herrschsucht, Hass und Angst durchseuchtes Konkurrenzdenken. Dies legt den Gedankengang nahe, dass die gesellschaftlich und wissenschaftlich anerkannten gängigen Erziehungs- und Sozialisationsmaßnahmen ihr Ziel verfehlen. Kann man vielleicht sogar so weit gehen und sagen, dass Erziehung und Beschulung generell einen zerstörerischen Anspruch hegen? (vgl. S 61ff) Das vor 40 Jahren erschienene Buch zur Antipädagogik von Braunmühl hat durchaus einen gesellschaftlichen Entwicklungsprozzes in Gang gesetzt, denn es gibt durchaus Menschen und Fachkräfte, die eine neue Beziehungsqualität im Umgang mit Kindern haben. Aber leider fand dieses Umdenken nicht flächendeckend statt. Selbst in der Ausbildung und im Studium werden die zukünftigen Fachkräfte nur zufällig an das Thema der Antipädagogik herangeführt. Dies hängt zumeist von der Einstellung und dem Interesse der Lehrer und Dozenten ab. Man kann sagen, dass sich die Antipädagogik in den vergangenen vier Jahrzehnten langsam aber stetig auf dem Weg „durch den Sandstein“ nach oben befindet. Bleibt zu hoffen, dass wir bald den Durchbruch der Quelle erleben werden. Erste Anzeichen bilden sich im Angebot-Nutzungs-Modell von Andreas Helmke ab. Dieser didaktische Ansatz sieht Schüler als lernende Subjekte und sieht vor, das Lehrer ein Angebot schaffen, mit dem die Schüler frei arbeiten können. (vgl. Unerzogen 3/15, S. 15 ff)

3 Überblick der Struktur des deutschen Schulsystems

In diesem Teil werde ich auf die Entstehung des deutschen Schulsystems eingehen, sowie die Schulpflicht und ihre Ziele beleuchten. Die Grundstruktur des deutschen Bildungswesens wurde durch die föderative Struktur der Bundesrepublik geprägt. Die einzelnen Bundesländer mit ihren individuellen Schulsystemen werde ich kurz erläutern und der Frage auf den Grund gehen, ob es heute nicht besser wäre, ein einheitliches Schulsystem zu etablieren. Die Entstehung der unterschiedlichen Systeme basiert auf den historischen, regionalen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen der Bundesrepublik. Anhand von Fachliteratur werde ich versuchen herauszufinden, inwieweit das Deutsche Schulsystem dem Bildungsauftrag hinsichtlich Chancengleichheit, Integration und Inklusion entspricht. Das Thema Bildung ist meines Erachtens nach in den Letzten Jahren immer wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt: Nach der „Pisa-Krise“ war es oberstes Ziel, die Bildungssystem für unsere Kinder zu verbessern. Die Regierung führte, mit eher mäßigem Erfolg, G8 ein. Da viele Eltern eine möglichst gute Bildung für ihre Kinder vorsahen, hatten Privatschulen einen regen Zulauf. Über private Finanzierung bekommt diese Elite hier häufig auch eine exzellente Bildung, bei der die Leistung im Vordergrund steht. Auch gibt es viele Schulen mit speziellen pädagogischen Ausrichtungen, hier ist zu hinterfragen ob diese Profile unter den Gegebenheiten immer voll entfaltet werden können. In der Fachliteratur fällt auf, dass es schon einmal eine ähnlich gelagerte Bildungskrise und einen Fachkräftemangel gab. Mitte der sechziger Jahre Reformierte Westdeutschland seine Bildung mit dem Ziel, Bildungschancen von Arbeiterkindern, Mädchen, Katholiken und Dorfbewohnern zu verbessern. Die Schulpflicht wurde auf 9 Jahre Vollzeit Beschulung ausgeweitet. (vgl. Schreck v. Reischach S.49/50) Heute steht unser Schulsystem und die Schulsozialarbeit vor der Herausforderung, Migrantenkinder, Arbeiterkinder bzw. Unterschichtkinder, Flüchtlingskinder und Kinder mit Handicap in ein veraltetes, einheitliches Bildungssystem zu integrieren, das vornehmlich auf die Reproduktion von „gepauktem“ Wissen abzielt. So stranden auch heute noch viele Kinder auf der Hauptschule, unserem Auffangbecken für alle, die Ansprüchen und Tempo der besseren Schulen nicht standhalten können und deren Konventionen nicht entsprechen. Die individuellen Begabungen dieser Kinder bleiben häufig unentdeckt und ungefördert. Meiner Einschätzung nach ist die Trennung der Kinder nach der vierten Klasse hierbei ein durchaus ausschlaggebendes Kriterium hinsichtlich einer „Weichenstellung in Richtung Abstellgleis“. Die These, Kinder würden bessere Chancen haben, wenn Sie länger gemeinsam lernten, wird auch häufig in den Fachtexten vertreten.

4 Schulsozialarbeit in Deutschland

Für mich als angehende Sozialarbeiterin ist der Blick auf die Praxis der Schulsozialarbeit natürlich sehr wichtig. Diesen Aspekt werde ich hier beleuchten und ferner mithilfe von Daten und Fakten erkunden, wie stark die Schulsozialarbeit im deutschen Bildungssystem verwurzelt ist. Die Schulsozialarbeit ist in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich häufig anzutreffen, an Gymnasien jedoch nahezu gar nicht etabliert. An Hauptschulen und Gesamtschulen gibt es meist einen Sozialarbeiter oder eine Sozialarbeiterin und in manchen Fällen auch ein Team. Zunehmend sind Sozialarbeiter an Realschulen anzutreffen und vereinzelte Angebote gibt es mittlerweile auch an Grundschulen. Was ist Schulsozialarbeit und wie definiert sie sich? Olk, Bathke und Hartnuß beschreiben Schulsozialarbeit als sämtliche fest etablierten, regelmäßige Aktivitäten von Jugendhilfe und Schule, die am Bildungsort der Kinder und Jugendlichen angesiedelt sind und durch Sozialarbeiter und Lehrkräfte zur Hilfe eingesetzt wird. Hollenstein und Tillmann gehen in ihrer Arbeit (2000) auf die Trägerschaften und Ziele der Schulsozialarbeit ein. Im Verständnis von Braun und Wetzel dient jegliche sozialarbeiterische und sozialpädagogische Praxis, die von Fachkräften angeboten wird, dem Zweck, das sozialpädagogische Profilbild von Schulen zu gestalten. Die rechtlichen Rahmenbedingungen, das Arbeitsfeld und die Finanzierung von Schulsozialarbeit werde ich mit Hilfe des Buches „Schulsozialarbeit eine Einführung“ von Karsten Speck beleuchten. Des weiteren werde ich der Frage auf den Grund gehen, worin die Aufgabe der heutigen Schulsozialarbeit besteht und wie sie dazu beitragen kann, eine Lebenswelt orientierte Schule zu etablieren. An dieser Stelle ist zu klären, wie multifunktionale Teams an Schulen etabliert werden können und inwieweit Schulsozialarbeit in Deutschland an dem Ausbau von Ganztagesschulen und deren Umsetzung beteiligt ist. Auch werde ich hier herausarbeiten, welchen Auftrag die Schulsozialarbeit hat, inwieweit Schulsozialarbeit ihre Adressaten erreicht und durch ihr wirken Schulalltag und Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen verbessert werden kann. Zu diesem Zweck werde ich die Ansätze und Thesen verschiedener Autoren heranziehen.

5 Menschenrechte und Kinderrechte

An Hand des Grundgesetzes beziehungsweise der Schulgesetze unseres Föderalen Systems und der Kinderrechts Konvention werde ich versuchen in diesem Abschnitt herauszuarbeiten welche Probleme und Möglichkeiten es in der Umsetzung einer Bildungsreform gibt. Der Europäische Menschengerichtshof hat die Kinderrechte explizit genannt, und fordert Deutschland schon länger auf diese in sein Grundgesetz aufzunehmen. Dies ist bis dato noch nicht in Gänze erfolgt, gleichwohl aber hat das Bundesverfassungsgericht 1998 anerkannt, dass Kinder ein Anrecht auf Chancengleichheit haben, dies bezieht sich besonders auf Lebens- und Bildungschancen. Grundlegend herrscht Einigkeit darüber, dass jedes Kind ein Recht auf Bildung hat, dies zeigt schon die Schulpflicht in Deutschland. Ziel ist es, allen Kindern die gleichen Entwicklungschancen zu eröffnen unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Wohnort. Im 12. Kinder- und Jugendbericht wird gefordert, den Anspruch auf Chancengleichheit, Gerechtigkeit und ein partizipatives Bildungsverständnis zu verankern. In diesem Abschnitt möchte ich herausarbeiten, welche Rechte Kinder haben, und im weiteren Verlauf dieser Thesis herausfinden, ob unser Bildungssystem diese ausreichend unterstützt oder es Bildungssysteme gibt, die der Aufgabe besser gerecht werden. Dies möchte ich mit einem direkten Vergleich tun, es gibt in Deutschland Schulen mit dem pädagogischen Profil „freie Demokratische Erziehung/Bildung“ (Demmocratic Education) und diese werde ich mit den Staatlichen Schulsystem vergleichen.

5.1Schulgesetz

Da wir in Deutschland ein föderales Schulsystem haben, besteht kein länderübergreifendes „allumfassendes“ Schulgesetz. Aus diesem Grund werde ich mich hier auf das hessische Schulgesetz beschränken. Im ersten Teil des hessischen Schulgesetzes ist unter § 1 das Recht auf Bildung verankert: Dort steht geschrieben, dass jeder junge Mensch das Recht auf Bildung hat. Auch wird explizit darauf hingewiesen, dass weder Geschlecht, Behinderung, Herkunftsland, Glaube, noch die gesellschaftliche oder wirtschaftliche Stellung der Eltern über die Aufnahme an einer Schule bestimmen dürfen. Im § 2 ist der Bildungs- und Erziehungsauftrag detailliert beschrieben: Die Kinder und Jugendlichen sollen durch die Schulen befähigt werden, unter Berücksichtigung des Grundgesetzes, eigene Rechte geltend zu machen und die Rechte anderer zu achten. Schulen sollen ihren Schützlingen staatsbürgerliche Verantwortung und Demokratie vermitteln. Selbst die christlichen Werte und humanistischen Traditionen sowie kulturelle Werte soll Schule vermitteln. Auch verweist das hessische Schulgesetz auf den Grundsatz der Achtung und Toleranz, der Gerechtigkeit und der Solidarität. Weiter geht es mit der Gleichberechtigung und den Beiträgen von Frauen in der Weltgeschichte. Auch ist es Aufgabe der Schule, die Schülerinnen und Schüler an die Gleichheit und das Lebensrecht aller Menschen heranzuführen. Die Auswirkungen des eigenen und des gesellschaftlichen Handelns auf die Lebensgrundlagen zu verstehen und entsprechend zu handeln soll dann auch noch „nebenbei“ vermittelt werden. Ebenso sollen die Jugendlichen auf ihr zukünftiges privates und öffentliches Leben vorbereitet werden. Hier bleibt zu hinterfragen, wie die staatlichen Schulen dies alles umsetzen möchten und mit welcher Qualität dies geschieht. (vgl. PDF Schulgesetz Hessen)

5.2 Grundgesetz

Das Grundgesetz halte ich an dieser Stelle für erwähnenswert, da es für ganz Deutschland gilt und unumstößlich ist. Im Grundgesetz unter Artikel 1 (1) steht geschrieben, dass jegliche staatliche Gewalt zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet ist. Im Absatz (2) bekennt sich das deutsche Volk zu den Menschenrechten. Im Artikel 3 (1) und (3) wird explizit darauf hingewiesen, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und niemand wegen seiner Herkunft, Religion, politischen Überzeugung oder seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Ich erwähne diese Artikel, da in der Bewegung der freien Schulen und der Antipädagogik häufig genau diese Rechte thematisiert werden. Unter Artikel 7 ist im Grundgesetz das deutsche Schulwesen geregelt. Laut Absatz (1) steht das gesamte Schulwesen trotz föderalen Systems unter staatlicher Aufsicht. Wie und warum man eine Privatschule errichten kann, ist in den Absätzen (4) und (5) geregelt. Diese handelt vom Recht, Privatschulen zu eröffnen und dass diese der staatlichen Genehmigung bedürfen und dem Landesrecht unterliegen. Um einen Genehmigung zu erhalten, müssen die Schulen folgende Kriterien erfüllen: Die Lehrziele und die wissenschaftliche Ausbildung der Lehrkräfte müssen dem Landesrecht entsprechen und es dürfen keine Absonderung oder Sonderrechte für Schülerinnen und Schüler aus Vermögenden Elternhäusern geben. Private Volksschulen dürfen nur genehmigt werden, wenn es sich um Gemeinschaftsschulen, eine besondere Pädagogische Ausrichtung, religiöse Schule oder um eine Schule mit besonderer Weltanschauung handelt. (vgl. Gesetze für Sozialberufe 14/15, S.16 – 17)

5.3 UN-Kinderrechtskonvention

Ich gehe an dieser Stelle auf die Kinderrechtskonvention ein, da sie im Zusammenhang mit Bildung und Schule in Fachkreisen, besonders aber in den Debatten um freie Schule und Antipädagogik immer wieder Erwähnung findet. Der Autor Berdrand Stern und der Verein Krätzä, um nur zwei Beispiele zu nennen, werfen immer wieder die Frage auf, ob unser staatliches Schulwesen gegen die Rechte der Kinder verstößt. In Teil 1 der UN-Kinderrechtskonvention steht unter Artikel 13 das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Meinungsfreiheit und Informationsfreiheit festgeschrieben. In Artikel 28 und 29 sind das Recht auf Bildung und die Bildungsziele festgesetzt und definiert. Es wird zudem darauf hingewiesen, dass dieses Recht umgesetzt werden muss, unabhängig von finanziellen Mitteln der Eltern unter der Berücksichtigung der Chancengleichheit. Ebenso sollen moderne Unterrichtsmethoden allen Kindern zuteilwerden. Die Vertragsstaaten stimmten darin überein, dass diese Bildung jedem Kind gerecht werden soll, was bedeutet, jeder Schülerin und jedem Schüler bei der Entfaltung der Persönlichkeit, der Begabungen sowie der geistigen und körperlichen Fähigkeiten zu helfen. Auch wurde in der Kinderrechtskonvention, in Artikel 31, festgelegt, dass jedes Kind das Recht auf Ruhe, Freizeit, Spielen und kulturelle-Teilhabe hat. Wenn ein Kind physisch oder psychisch beeinträchtigt ist, so hat es nach Artikel 39 das Recht auf Unterstützung und Genesung in einer Umgebung, die der Gesundheit, der Selbstachtung und der Würde des Kindes zuträglich ist. (vgl. Gesetze für Sozialberufe 14/15, S. 1251-1260)

6 Bildung in Demokratie und Freiheit

Zu Beginn dieses Abschnittes werde ich zunächst den Begriff „Freie Schulen“ in seinen verschiedenen Bedeutungen erläutern. In Deutschen Gesetzestexten werden alle Schulen, die sich nicht in staatlicher Trägerschaft befinden, als freie Schulen bezeichnet. In pädagogischen Kontexten ist zumeist dann von freien Alternativschulen die Rede, wenn damit ein demokratisches Schulsystem gemeint ist. In den Vergangenen 45 Jahren entstanden viele Alternativschulen: Einige dieser Schulen gingen auf die Kinderladenbewegung zurück, andere wiederum entstanden im Zuge der Alternativschulbewegung. Es gibt unter diesen Schulen die verschiedensten pädagogischen oder religiösen Ansätze. Den Blick richte ich in dieser Arbeit allerdings auf die Bildung in Freiheit und Demokratie. Dies knüpft im Ansatz an die bereits erwähnte Antipädagogik an. Frei demokratische Schulen unterstützen sowohl die Selbstbestimmung in der Bildung, als auch die Entscheidungsrechte von Kindern und stellen somit einen Gegenpol zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen dar. Im Zuge der Globalisierung wurde unser Schulsystem immer standardisierter und autoritärer: Immer mehr Wissen soll in kürzester Zeit vermittelt werden. Diese Entwicklungen konzentrieren unheimlich viel Macht in das öffentliche Schulwesen. Der Pädagoge Jerry Minz schrieb zu diesem Punkt, man „müsse kein Anarchist sein“ um zu erkennen, dass Menschen sich einer sozialen Gruppe zugehörig und in dieser wertgeschätzt und individuell gefördert fühlen müssen, denn nur so kann eine demokratische Gesellschaft gedeihen. Aus diesem Grund ist Minz Befürworter von alternativer Bildung. Er selbst erlebte hunderte junger Menschen, die auf diesem Weg der Bildung beeindruckende Entwicklungen durchliefen: Durch das selbstständige Arbeiten in ihren Interessensgebieten, erwarben sie ein großes Wissen und Verständnis für die Welt. (vgl. Jerry Mintz, Keine Hausaufgaben und den ganzen Tag Pause, S. 10) Demokratie ist ein bedeutungsschwangeres und „großes“ Wort, welches sehr häufig gebraucht wird. Dennoch werde ich es an dieser Stelle mit Bezug auf Schule definieren. Das Wort Demokratie steht dafür, dass eine Gruppe von Menschen gleichberechtigt die Macht innehat, Entscheidungen für ihr Leben und ihren Alltag zu treffen und diese auch umzusetzen. Einfach ausgedrückt: Alle an der Schule beteiligten Personen entscheiden gemeinsam, was im Umkehrschluss bedeutet, dass jede Person für sich selbst entscheiden kann, solange diese Entscheidungen keinen unmittelbaren Einfluss auf das Leben der anderen hat. Das Konzept der demokratischen Bildung beruht auf der Grundannahme, dass der Mensch von Geburt an natürliches Lerninteresse hat. Dies ist das Bindeglied zur Antipädagogik, denn in dieser These geht man auch davon aus, dass Kinder nicht erst zum Lernen erzogen werden müssen. Frei demokratische Bildung, egal in welcher Form, ist natürlich kein universales „Heilmittel“ und auch nicht von jedem Lehrer, Pädagogen, Mutter oder Vater umsetzbar. Denn Kinder und Jugendliche lassen sich in der Regel nicht übertölpeln und merken recht schnell wenn ihnen Demokratie nur vorgetäuscht wird und beispielsweise Beschlüsse der Schülerversammlung übergangen werden. Die Demokratie an Schulen ist ein sehr fragiles Wesen, welches von allen beteiligten gepflegt werden muss: Wenn Erwachsene die gemeinsame Demokratie nicht authentisch leben, so wird sie scheitern, da jedes Kind mit einem Mindestmaß an Selbstachtung sich nicht einbringen wird, wenn es feststellt, dass ein demokratisches Konzept nicht „echt“ ist oder nicht funktioniert. Leider können viele Menschen das Konzept nicht nachvollziehen: Sind sie in ihrem Leben selbst überwiegend machtlos gehalten worden, haben sie meist sehr große Vorbehalte gegenüber dem Konzept der freien demokratischen Bildung. Die unendlichen Möglichkeiten und Entwicklungschancen, die durch die Demokratie entstehen, werden in diesen Fällen nicht erkannt. Die Schülerinnen und Schüler an frei demokratischen Bildungseinrichtungen erlernen Zusammenarbeit, Selbstbestimmung, Eigenverantwortung, Kreativität und vieles mehr. An staatlichen Schulen stellt sich dies anders dar: Es gibt kompetente Lehrer an staatlichen Schulen, die Kindern Themen und Wissen präsentieren und ihre Schülerinnen und Schüler nicht langweilen. Sie engagieren sich für die Kinder und umsorgen sie bis zum Erreichen des Bildungsziels. Dies geschieht an öffentlichen Schulen unter einer Masse bürokratischen Aufwands, der sich über die Jahre auf ein starres Bildungssystem gelegt hat. Befürworter dieser Schulen berufen sich zumeist darauf, dass es notwendig ist, Kindern einen festen Rahmen zu setzen und dass diese Art des Unterrichtens allen Kindern die gleichen Möglichkeiten eröffnen. (vgl. Jerry Mintz, S. 15- 19) Selbstverständlich gab es an einigen staatlichen-Schulen in den vergangenen Jahren auch Partizipation, diese gestaltete sich dort aber meist sehr punktuell in bestimmten Rahmen. Partizipation beschreibt den Handlungsspielraum in einer Demokratie, den der Einzelne und die Gruppe haben. Dies kann die Wahl einzelner Arbeitsgemeinschaften oder das Gestalten des Klassenzimmers sein, kann sich aber auch bis hin zum Mitentscheidungsrecht erstrecken. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, Partizipation oder auch freie Demokratie zu leben beziehungsweise in ein Schulkonzept einfließen zu lassen. David Jahr und Robert Kruschel besuchten verschiedene Schulen, um dem Demokratieverständnis der Beteiligten des Schulalttages auf den Grund zu gehen. Fragten sie nach Demokratie an der jeweiligen Schule, war die Antwort häufig, dass dieses Konzept bereits sehr lange Anwendung im Schulalltag findet. Aber damit war die „Spurensuche“ nicht beendet, denn es galt die Frage zu klären, inwiefern diese Demokratie auch gelebt wird. Beiden Autoren fiel auf, dass Lehrkräfte an konventionellen Schulen unter dem Begriff Demokratie etwas vollkommen anderes verstehen als ihre Kollegen an demokratischen Schulen. Während die konventionellen Lehrkräfte Demokratie im Rahmen von Demokratiepädagogik, Sach- und Politikunterricht lehren, leben demokratische Lehrkräfte Demokratie auf unterschiedliche Weise mit der Schülerschaft, dem Personal und den Eltern. An den demokratischen Schulen wird beispielsweise die Organisation des Schullebens in Diskussionen mit Mehrheitsbeschluss ausgehandelt. Hieran zeigt sich deutlich, dass dies vollkommen unterschiedliche Interpretationen von Demokratie in Schulen sind. Unter den Gesichtspunkten Partizipation und Demokratie in Schulen entwickelten sie ein Modell, das vier Gruppen von Schulen unterscheidet. Nämlich unter I Demokratische Schulen an denen die Schulgestaltung Selbstverwaltet stattfindet. Unter II ordnen sie Schulen mit selbstbestimmtem Lernen und fremdbestimmter Schulgestaltung ein, Gruppe III bezeichnet konventionelle Schulen, in denen das Lernen und die Schulgestaltung fremdbestimmt sind und unter IV listen die Autoren schließlich konventionelle Schulen mit demokratischen Elementen. Im Bereich I findet sich ein „bunter Strauß“ an demokratischen Schulen auf der ganzen Welt. Da es eine große Vielfalt an Schulen und Demokratieumsetzung gibt, wollten Jahr und Kruschel mit ihrem Model für eine bessere Orientierung sorgen. (vgl. Jahr und Kruschel, Ungezogen 1/15, S. 11-16) Die älteste Schülerdemokratie der Welt ist bereits 95 Jahre alt: Die Summerhill-Schule wurde 1921 von Neil in Deutschland gegründet. Diese Schule ist heute in England zuhause und erlangte dort Weltruhm. Die Times Educational Supplement benannte Neil 1999 als einen der zwölf einflussreichsten Erzieher des 20. Jahrhunderts. Die älteste Schülerdemokratie der Welt beherbergt Schüler vielen unterschiedlichen Ländern. Diese organisieren dort über die Schülerversammlung alle Schulbelange und entscheiden frei, was sie wann lernen wollen. (vgl. unerzogen 1/2008, S. 46) Häufig wird angezweifelt, ob in diesen Settings überhaupt gelernt wird. An dieser Stelle gilt es jedoch zu fragen, was das entscheidende Moment am Lernen ist. Mintz schreibt hierzu, dass es am Wichtigsten ist, Antworten auf Fragen zu finden, die notwendigen Quellen hierfür zu kennen und diese anwenden zu können. Dies kann ein Kind alleine, in einer Gruppe oder gemeinsam mit einem lernenden Erwachsenen tun. An Schulen dieser Ausrichtung erkennen alle beteiligten, dass Freiheit für Kinder wichtig ist. Viel entscheidender jedoch ist die Demokratie. Gelebte Demokratie trägt manchmal paradoxe Früchte: So beschloss die Schülerversammlung der Shaker Mountain School, dass es zwei bis drei Mal pro Woche eine vierzig minütige „Do Class“ geben sollte. In dieser Stunde präsentiert jemand allen anderen Schülern ein Thema. Entscheidend ist, dass die Versammlung jedes Jahr erneut hinterfragt, ob diese „Class“ bestehen bleiben soll. Gelebte Demokratie versteht die Schule allgemein darunter, Entscheidungen zu treffen, diese zu tragen und in regelmäßigen Abständen zu hinterfragen, ob sie weiterhin angebracht sind. Ich sehe es als sehr wichtig an, Entscheidungen und Gegebenheiten zu hinterfragen, diese zu diskutieren und gemeinsam zu durchleuchten. Das ist meiner Meinung nach der „Treibstoff von Demokratie“, denn ohne das Hinterfragen und Überdenken kann Demokratie nicht existieren. (vgl. Minz, S. 55)

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Ende der Leseprobe aus 49 Seiten

Details

Titel
Frei Demokratische Schulen in Deutschland. Eine Lösung für die Bildungskrise?
Hochschule
Frankfurt University of Applied Sciences, ehem. Fachhochschule Frankfurt am Main
Note
2,7
Autor
Jahr
2016
Seiten
49
Katalognummer
V342156
ISBN (eBook)
9783668334854
ISBN (Buch)
9783668334861
Dateigröße
903 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
frei, demokratische, schulen, deutschland, eine, lösung, bildungskrise
Arbeit zitieren
Sandra Stockham (Autor:in), 2016, Frei Demokratische Schulen in Deutschland. Eine Lösung für die Bildungskrise?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/342156

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