Thomas Manns 'Der Tod in Venedig' und 'Die Betrogene' - Motivgleiche Erzählungen?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

20 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inahlt

1. Einleitung

2. Eros und Thanatos
2.1. Wagners Liebestod
2.2. Tadzio und Ken als Todesboten
2.3. Mythologische Symbolik
2.4. Tod von Aschenbach und Rosalie

3. Geist und Leben
3.1. Apollinisches und Dionysisches bei Nietzsche
3.2. Aschenbach und Rosalie/Anna als Vertreter des Dualismus‘
3.3. Farbsymbolik
3.4. Tod des Künstlers

4. Schlussbetrachtungen

5. Bibliographie

1. Einleitung

Ein alternder Schriftsteller, der sich in einen jungen Knaben verliebt, auf der einen Seite, eine wechseljahrsgeplagte Naturliebhaberin, die sich in einen jungen Amerikaner verliebt, auf der anderen Seite. Die Erkenntnis, dass zum Wesen der Kunst nicht nur der Geist, sondern auch das Sinnliche gehört, als Pendant zur Erkenntnis, dass zum Wesen der Natur nicht nur das Schöne, sondern auch der Verfall gehört. Auf der einen Seite der Tod durch Cholera, auf der anderen Seite der Tod durch Gebärmutterkrebs: Kaum etwas liegt auf den ersten Blick wohl näher, als in den Novellen Der Tod in Venedig (1912) und Die Betrogene (1953) von Thomas Mann motivgleiche Erzählungen zu erkennen, auch wenn ihr Verfasser sich stets gegen Vergleiche dieser Art gewehrt hat. So schreibt Mann zu Die Betrogene:

Es sind törichte Vergleiche damit angestellt worden. Mit dem „Tod in Venedig“ hat es gar nichts zu tun, weder nach seinem Gewicht, noch nach seiner Thematik. Es hat mit ihm nur gemein, daß es eben auch von mir ist, und zwar unverkennbar von mir.[1]

Gewisse Parallelen zwischen der wohl bekanntesten Erzählung von Manns Frühwerk und seiner letzten Novelle sind jedoch nicht von der Hand zu weisen. So bricht in beiden Erzählungen die Liebe rauschhaft-dionysisch in das bürgerliche Leben ein und führt zu einem Verhalten der beiden Hauptfiguren, das im großen Maße von der gesellschaftlichen Norm abweicht.

So verläuft das Leben des Schriftstellers Aschenbach in Der Tod in Venedig zunächst in sehr geregelten Bahnen. Nichts irritiert ihn in seinem immer gleichen Tagesablauf und seinem Glauben an die Macht des Geistes. Mit seiner fleißigen Arbeitsweise des „Durchhaltens“ wird er von der Gesellschaft hoch anerkannt, ja mit 50 Jahren sogar geadelt. Im Grunde weiß Aschenbach jedoch, dass es seinem Werk an Lebendigkeit mangelt respektive dass wahre Kunst nur unter Beteiligung des Sinnlichen entstehen kann. Als er dann eines Tages am Münchener Nordfriedhof einen etwas wild und exotisch aussehenden Wanderer trifft, brechen Aschenbachs unterdrückte Gefühle und Sehnsüchte hemmungslos hervor. Er entschließt sich zu einer Reise nach Venedig, wo er dem wunderschönen Knaben Tadzio verfällt. Mit dieser Liebe isoliert sich Aschenbach von der Gesellschaft. Nicht nur, dass der vierzehnjährige Tadzio vom Alter her sein Enkel sein könnte. Auch das homoerotische Moment ist von der Gesellschaft tabuisiert. Durch den unkontrollierbaren Liebesrausch wird Aschenbach von dem einst souveränen, anerkannten Dichter zum besessenen Dionysos, der von der Gesellschaft gemieden wird. So wird Tadzio auch mehrmals von seinen Verwandten aus der Nähe Aschenbachs zurückgerufen.

Auch bei der 50-jährigen Rosalie von Tümmler in Die Betrogene führt die Liebe zu einem unkontrollierbaren Rausch. Dabei entspricht ihre Liebe zu dem 26 Jahre jüngeren Amerikaner Ken Keaton auch nicht der bürgerlichen Norm. Rosalie gibt jedoch nichts auf die Worte ihrer Tochter Anna, die davor warnt, dass man nicht gegen seine von der Gesellschaft geprägte sittliche Überzeugung leben könne. Stattdessen genießt Rosalie ihre Liebegefühle in vollen Maßen.

Bei beiden Hauptfiguren kann man darüber hinaus verzweifelte Versuche beobachten, sich optisch zu verjüngen. Während Rosalie zum Rouge greift, lässt Aschenbach sich die Haare schwarz färben und das gesamte Gesicht jugendlich schminken, so dass er am Ende dem „falschen Jüngling“ ähnelt, den er auf seiner Reise nach Venedig noch mitleidig belächelt hatte. Auch steht am Ende der beiden Erzählungen der Tod durch Krankheit der beiden Hauptfiguren.

Dies alles sind jedoch nur recht allgemeine inhaltliche Parallelen. Einen genaueren Vergleich der beiden Erzählungen erhält man, wenn man die beiden Dualismen „Eros und Thanatos“ und „Geist und Leben“ und die jeweils damit verbundene Symbolik analysiert. Hier wird sich zeigen, dass Der Tod in Venedig und Die Betrogene auch auf tieferer Ebene viel gemein haben, obwohl sie zeitlich so weit auseinander liegen. Auf der Basis vieler Gemeinsamkeiten wird jedoch auch ein wichtiger Unterschied zu erkennen sein, der von einer inneren Wandlung Thomas Manns im Laufe seines literarischen Schaffens zeugt.

2. Eros und Thanatos

Der Dualismus von Liebe und Tod, von Eros und Thanatos, der bereits auf die Antike zurückgeht und später als romantische Todesverklärung seinen Höhepunkt erfährt, stellt eines der Leitmotive in Thomas Manns Werk dar. Dabei zeigt sich Mann vor allem von Wagner und dessen „Liebestod“ beeinflusst. So thematisiert Mann bereits in seinen frühen Erzählungen wie Der kleine Herr Friedemann, Tristan und Wälsungenblut die Musik Wagners als Verführerin zum Tode. Vor allem in seinem Zauberberg zeigt Mann den Dualismus von Eros und Thanatos deutlich auf. Hier steht sein Protagonist Hans Castorp zwischen beiden Reichen, die u.a. von seiner temporären Geliebten Clawdia Chauchat, deren Name nichts anderes als „heiße Katze“ bedeutet, auf der einen und seinem alten Schulfreund Hippe, dessen Name nicht weniger als „Tod“ bedeutet, verkörpert werden. Die beiden Figuren haben mehr Ähnlichkeiten, als ihnen lieb sein kann. Und so entfaltet Thomas Mann im Zauberberg ein deutlich an Wagnersche Dimensionen erinnerndes Ringen zwischen den Polen „Liebe“ und „Tod“. Was genau fasziniert Mann jedoch an Wagner und wie verwendet er Wagners Verbindung von Liebe und Tod?

2.1. Wagners Liebestod

Thomas Mann wurde schon in sehr jungen Jahren vom damals umgehenden „Wagnervirus“ infiziert. So sah er sich bereits als Schüler im Lübecker Stadttheater Inszenierungen von Tannhäuser und Lohengrin an:

Die Passion für Wagners zaubervolles Werk begleitet mein Leben, seit ich seiner zuerst gewahr wurde und es mir zu erobern, es mit Erkenntnis zu durchdringen begann. Was ich ihm als Genießender und Lernender verdanke, kann ich nie vergessen, nie die Stunden voll von Schauern und Wonnen der Nerven und des Intellekts, von Einblicken in rührende und große Bedeutsamkeiten, wie eben nur diese Kunst sie gewährt. Meine Neugier nach ihr ist nie ermüdet;[2]

Doch vor allem zeigt Mann Begeisterung für Wagners „Liebestod“, den dieser am deutlichsten in seiner Oper Tristan und Isolde thematisiert. In romantischer Tradition können die Liebenden in der Welt der Erscheinungen keine Erfüllung finden. Nur der Tod verspricht die ewige Vereinigung und Erlösung von den Übeln der Welt. Wagner selbst ließ zu „Isoldes Liebestod“ am Schluss der Oper verlauten:

Doch, was das Schicksal für das Leben trennte, lebt nun verklärt im Tode auf; die Pforte der Vereinigung ist geöffnet. Über Tristans Leiche gewahrt die sterbende Isolde die seligste Erfüllung des glühenden Sehnens, ewige Vereinigung in unangemessenen Räumen, ohne Schranken, ohne Banden, unzertrennbar.[3]

Thomas Mann, der nicht nur einer der größten Verehrer Wagners, sondern auch einer seiner ärgsten Kritiker war, empfand diese romantische Todesverklärung, den Tod als Erlösung von allen Übeln, als höchst problematisch. So wundert es nicht, dass er den Wagnerschen Dualismus von Eros und Thanatos dahingehend modifizierte, dass er nun nicht länger Zeichen von Erlösung, sondern von Verfall und Untergang trägt, was sich vor allem gut an den Erzählungen Der Tod in Venedig und Die Betrogene beobachten lässt.

2.2. Tadzio und Ken als Todesboten

Tadzio und Ken, beide Objekte der Begierde, sind geradezu idealtypische Vertreter des Dualimus‘ von Eros und Thanatos. Beide versprechen jedoch keine romantische Erlösung im Wagnerschen Sinne, sondern zeugen vielmehr von Verfall und Untergang.

So ist Tadzio nicht nur „vollkommen schön“[4] und erinnert an „griechische Bildwerke aus edelster Zeit“ (S. 26), sondern trägt auch Zeichen von Tod und Verfall. Die Haut des jungen Knaben ist meist totenblass, die Augen scheinen immer dunkler zu werden. Die Zähne sind „nicht recht erfreulich“ und „ohne den Schmelz der Gesundheit“. Überhaupt wirkt der Junge sehr kränklich, so dass Aschenbach mutmaßt: „Er wird wahrscheinlich nicht alt werden“(S.34). Auch erinnert Tadzios Körperhaltung während des Musizierens der Straßenkünstler stark an mythologische Todesdarstellungen: „Er stand dort im weißen Gürtelanzug, den er zuweilen zur Hauptmahlzeit anlegte, in unvermeidlicher und anerschaffener Grazie, den linken Unterarm auf der Brüstung, die Füße gekreuzt, die rechte Hand in der tragenden Hüfte“ (S.54).

Darüber hinaus steht die Erosfigur des jungen Tadzio auch immer in enger Verbindung zum Meer, das die Entgrenzung des Individuellen ins Universale und die Auflösung des Seins im Tod symbolisiert. Thomas Mann selbst beschreibt in seinem Essay Süßer Schlaf von 1909 – wie später auch in seinem Festvortrag Lübeck als geistige Lebensform (1926) und bereits in den Buddenbrooks – das Meer als Raum der Entgrenzung und bekennt die in seinem eigenen Wesen angelegte bedrohliche Affinität zum Meer:

Das Meer! Die Unendlichkeit! Meine Liebe zum Meer, dessen ungeheure Einfachheit ich der anspruchsvollen Vielgestalt des Gebirges immer vorgezogen habe, ist so alt wie meine Liebe zum Schlaf, und ich weiß wohl, worin die beiden Sympathien ihre gemeinsame Wurzel haben. Ich habe in mir viel Indertum, viel schweres und träges Verlangen nach jener Form oder Urform des Vollkommenen, welche „Nirwana“ oder das Nichts benannt ist.[5]

Bereits rein mythologisch steht Tadzio als Individuation des Eros in Verbindung zum Meer. Denn Eros ist der Sohn von Aphrodite, der „Schaumgeborenen“, die ihren Ursprung im Meer hat.[6] Doch auch durch seinen Matrosenanzug verdeutlicht Tadzio die Verbindung von Eros und Meer, das nicht zuletzt für den Tod steht.

Die erste Begegnung zwischen Aschenbach und Tadzio ist in dieser Hinsicht besonders sprechend. Nach seiner Ankunft in Venedig betrachtet Aschenbach zunächst ausführlich das „offene Meer“, die „unbesonnte See“ (S. 25) und ausgerechnet kurz darauf erblickt er den schönen Eros Tadzio zum ersten Mal (S.26). Bereits hier wird also auf eine Verbindung von Liebe und Tod hingewiesen. Während der gesamten Erzählung ist Tadzio dann immer wieder im Wasser zu sehen. Spätestens bei Aschenbachs Sterben am Strand entpuppt sich Tadzio dann als Führer in den Tod. Er schreitet im Wasser auf und ab, dreht sich plötzlich zu Aschenbach um und wirft ihm einen „dämmergrauen Blick“ als Vorboten des nahenden Todes zu. Der sterbende Aschenbach meint, Tadzio winke ihm zu, „als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure. Und wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen“ (S.68).

Einen eindeutigen Hinweis auf die Verschlungenheit von Liebe und Tod liefert Mann auch mit seinem Rückgriff auf August Graf von Platen. Dabei ist Manns Beziehung zu von Platen biographischer wie thematischer Art. So erwähnt Thomas Mann von Platen im Weber-Brief ausdrücklich als einen der großen prototypischen Homo-Erotiker. Die wesentlichen Jahre seines Schaffens verbrachte von Platen darüber hinaus in Venedig und setzte dieser Stadt mit seinen Venetianischen Sonetten ein poetisches Denkmal.[7] In seiner Erzählung Der Tod in Venedig lässt Mann Aschenbach bei seiner Ankunft in Venedig an eines dieser Sonette denken. So scheinen von Platens Tristan-Zeilen

[...]


[1] Thomas Mann: Rückkehr. In: Werke. Das essayistische Werk in acht Bänden. Autobiographisches. Hrsg. v. Hans Bürgin. Frankfurt a. M. 1968, S. 406

[2] Thomas Mann: Leiden und Größe Richard Wagners. S.129

[3] Zitiert nach Klaus Döge: Von Sehnsucht und Abschied. Einführungstext für ein Wagnerkonzert am 12.9.02 in der Berliner Philharmonie

[4] Zitiert werden die Primärtexte Der Tod in Venedig und Die Betrogene nach folgenden Ausgaben: Thomas Mann: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Frankfurt a. M. 1974. Thomas Mann: Die Betrogene und andere Erzählungen. Frankfurt a. M. 1991. Belege erfolgen im laufenden Text unter Angabe der Seitenzahl in Klammern.

[5] Thomas Mann: Süßer Schlaf. In: Werke. Das essayistische Werk in acht Bänden. Autobiographisches. Hrsg. v. Hans Bürgin. Frankfurt a. M. 1968, S. 28

[6] Vgl. Helmut Jendreiek: Thomas Mann. Der demokratische Roman. Düsseldorf 1977, S. 240 u. 256

[7] Vgl. ebd., S. 230

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Thomas Manns 'Der Tod in Venedig' und 'Die Betrogene' - Motivgleiche Erzählungen?
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Institut für Deutsche Philologie)
Veranstaltung
Hauptseminar: Das Spätwerk Thomas Manns 1939-1955
Note
1,7
Autor
Jahr
2003
Seiten
20
Katalognummer
V34201
ISBN (eBook)
9783638344975
Dateigröße
559 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Thomas, Manns, Venedig, Betrogene, Motivgleiche, Erzählungen, Hauptseminar, Spätwerk, Thomas, Manns
Arbeit zitieren
Tina Hanke (Autor:in), 2003, Thomas Manns 'Der Tod in Venedig' und 'Die Betrogene' - Motivgleiche Erzählungen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34201

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