Rellstablieder aus dem "Schwanengesang" von Franz Schubert. Doch ein Zyklus?

Eine poetisch-musikalische Analyse


Bachelorarbeit, 2016

49 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die letzten Jahre Franz Schuberts und die Entstehungsgeschichte des posthum entstandenen Schwanengesangs

3. Ludwig Rellstab und die Übergabe seiner Gedichte an Beethoven

4. EXKURS: Das musikalische Fragment
4.1. Die Abgrenzung des musikalischen Fragment zu anderen Begrifflichkeiten
4.2. Die Grundtypen eines Fragments bei musikalischen Werken
4.3. Bezug der Fragmenttheorie nach Lindmayr-Brandl auf den Schwanengesang und die Rellstabvertonungen

5. Analyse der Rellstabvertonungen
5.1. Vertonungen aus dem Schwanengesang (D 957, 1-7)
5.1.1. Liebesbotschaft
5.1.2. Kriegers Ahnung
5.1.3. Frühlingssehnsucht
5.1.4. Ständchen
5.1.5. Aufenthalt
5.1.6. In der Ferne
5.1.7. Abschied
5.2. Andere Rellstabvertonungen mit Begleitung des Pianoforte
5.2.1. Lebensmuth (D 937)
5.2.2. Herbst (D 945)

6. Ergeben die Rellstabvertonungen doch einen Zyklus?
6.1. Was ist ein Liedzyklus? – Empirische Definitionen im Kurzüberblick
6.2. Doch kein Zyklus?
6.3. Doch ein Zyklus?
6.4. Fazit

7. Literaturverzeichnis
7.1. Musikalien
7.2. Schrifttum
7.2.1. Primärquellen
7.2.2. Sekundärquellen
7.3. Internetquellen
Sekundärquellen

1. Einleitung

„Gestern Mittwoch Nachmittag [sic] um 3Uhr entschlummerte zu einem besseren Leben mein innigstgeliebter Sohn Franz Schubert, Tonkünstler und Compositeur [sic], nach einer kurzen Krankheit und dem Empfange der heiligen Sterb-Sakramente, im 32. Jahre seines Alters. Zugleich haben ich und meine Familie unseren verehrlichen Freunden und Bekannten hiermit anzuzeigen, dass der Leichnahm des Verblichenen Freytag [sic] den 21. d. M. Nach­mittags um halb 3 Uhr, von dem Hause Nro. 694 auf der Reu-Wieden in der neugebauten Gasse nächst dem sogenannten Bischof-Stadel in die Pfarrkirche zum heiligen Jospeh in Mar­garethen getragen und daselbst eingesegnet werde. Wien, am 20. November 1828.“[1]

Nach dem Tode Franz Schuberts blieben der Nachwelt viele musikalische Fragmente er­halten. Auch der Schwanengesang ist als solches darunter zu zählen, genauso wie das Fragment Lebensmuth (D 937). Dass der Schwanengesang aufgrund der Entstehungsge­schichte, dem Mitwirken verschiedener Dichter und der nicht durchlaufenden Geschichte keinen Zyklus bildet, wurde schon durch mehrere Veröffentlichungen eindeutig bestätigt. Jedoch muss der Versuch unternommen werden, die Lieder der ein­zelnen Dichter autark voneinander zu betrachten und zu beobachten, ob sie durch gewisse innermusikalische und inhaltliche Zusammenhänge doch einen Zyklus bilden.

In dieser wissenschaftlichen Arbeit soll der Versuch unternommen werden, die Rellstab­lieder aus dem Schwanengesang (D 957), das Lied Herbst (D 945) und das Fragment Lebenstmuth (D 937) auf zyklische Zusammenhänge hingehend zu untersuchen. Dies soll unter Einbezug der aktuellen historischen Faktenlage, der Betrachtung neuester frag­menttheoretischer Ansätze von Lindmayr-Brandl und einer poetisch-musikalischen Ana­lyse, der sich schon Budde, Dittrich und Chusid gewidmet haben, erfolgen.

2. Die letzten Jahre Franz Schuberts und die Entstehungsgeschichte des post­hum entstandenen Schwanengesangs

Eine der größeren Schaffensphasen von Franz Schuberts (1797 – 1828) begann in seinen letzten vier Lebensjahren. Seit 1823 verschlimmerten sich die Leiden seiner Syphiliser­krankung. In seinem Freundeskreis wurde die Krankheit geheim gehalten und Schubert umschrieb sie in Briefen mit der Liebe „junger Pfaunen“[2]. Neben einem guten Kontakt zur Höheren Gesellschaft pflegte Schubert auch ein freundschaftliches Verhältnis zu sei­nen „Gönnerinnen“. So geschah es des Öfteren, dass er z.B. Katharina Lacsny von Fo­kusfála oder dem Geschwisterpaar Fröhlich seine Kompositionen widmete.[3] Im Laufe der Mo­nate nahmen die Krankheitsschübe zu und er wurde im Herbst von seinem langjähri­gen Arzt August von Schäfer für mehrere Wochen in das allgemeine Krankenhaus nach Wien überwiesen. Joseph von Vering (1792 – 1862), ein hochangesehener Mediziner, ordnete ihm ein Quecksilberbad an. Einem Bericht zufolge wurde dieser Vorgang der Krank­heitsbekämpfung solange fortgeführt bis Speichelfluss und Fieber auftraten und der Hautausschlag verschwand.[4] Aufgrund dieser Behandlung litt Schubert unter Haarausfall, Hautausschlag, Knochenschmerzen im linken Arm, Schwindelanfällen und Kopfschmer­zen. Ende 1824 sprach Schubert in einem Brief an Leopold Kupelwieser (1796 – 1862) über die Symptome seiner Krankheit. Er schrieb, dass seine „Gesundheit nicht mehr rich­tig werden will [und er] aus Verzweiflung darüber die Sache immer schlechter statt besser macht“[5]. Schuberts Kopfschmerzen setzten ihm im Oktober so stark zu, dass er eine Ein­ladung an Nanette v. Hönig u.a. mit folgenden Worten absagte: „Ich bin krank, und zwar von der Art, daß [sic] ich für jede Gesellschaft gänzlich untauglich bin“[6]. Gefangen in seinem Leid begann zu diesem Zeitpunkt Schuberts größte kompositorische Schaffens­phase. Er wendete sich von den großen instrumentalen, symphonischen Bereichen ab und stattdessen zur Kammermusik hin. Als Ergebnisse dieser Schaffensphase ergaben sich u.a. die Klavierwerke Impromptus z.B. D 899 und D 935, die Werke für zwei Instrumente wie Rondo für Violine und Klavier h-Moll (D 895) oder Fantasie für Violine und Klavier in C-Dur (D 934).[7]

Der musikalischen Gattung des Liedes wendete Schubert sich schon ab dem Jahre 1821 zu, mit dem Ziel „systematische Serien von Vertonungen einzelner Dichter in Hefte zu­sammenzufassen“[8], denn für dieses fand er seit Mitte der 1820er Jahre regelmä­ßig Ver­leger.[9] Als Beispiele können verschiedene Goethe- und Schiller-Lieder angesehen wer­den. Schuberts Lieder waren nicht nach Autoren oder Dichtern sortiert, sondern nach dem Thema des Inhaltes. Dies änderte sich mit der Komposition seiner beiden berühm­testen Liederzyklen Die schöne Müllerin (D 795) und der Winterreise (D 911), welche er im Jahre seines Todes 1828 über den Verleger Tobias Hasslinger (1787 – 1842) veröf­fent­lichte. Beide Liederzyklen basieren auf Gedichtzyklen von Wilhelm Müller (1794 – 1827).[10]

Die Entstehungsgeschichte des Schwanengesang s kann als Mysterium angesehen wer­den. Historisch sicher ist, dass Schubert sieben von neun Rellstab- und sechs Heine-Ge­dichte sowie ein Seidl-Gedicht vollständig in seinem Todesjahr ver­tonte und diese Kom­positionen nach seinem Tod von seinem Bruder Ferdinand (1794 – 1859) an den Verleger Hasslinger veräußert wurden.[11] Hasslinger setzte alle vollständig vertonten Lieder in ei­nen Liederband zusammen und benannte diesen als Schwanenge­sang, weil die Vertonung des ersten Liedes Liebesbotschaft von Rellstab mit dem spätes­ten Datum „ August 1828 “ versehen war. Warum Hasslinger ausgerechnet bei der Na­mensgebung den Titel Schwa­nengesang gewählt hat, kann nur noch teilweise mit histo­rischen Fakten begründet wer­den. Generell gilt, dass als Schwanengesang u.a. auch die letzten Vertonungen eines Komponisten bezeichnet werden. Dieser Brauch stammt aus der nordischen Mythologie, denn dort gilt der Schwan als „weissagender Vogel, der im Sterben seine Stimme zum Todesgesang erhebt“[12]. Eine weitere Inspirationsquelle für Hasslingers Namensgebung könnte das Lied Schwanengesang (D 744) von Schubert ge­wesen sein. Denn in dem Ge­dichttext von Johann Senn (1792 – 1857) heißt es: „Es klagt´, es sang/ Vernichtungsbang, / Verklärungsfroh, / Bis das Leben floh. / Das ist des Schwa­nen Gesang!“[13] Ob sich Hass­linger aber genau an dieses Lied und diese Verse bei der Na­mensgebung erinnerte, kann nicht sicher nachweisen lassen.[14]

Ebenso unsicher ist der Erhalt der Gedichte an Schubert, denn die Versionen von Beethovens Sekretär Anton Schindler (1795 – 1864), dem Theaterkri­tiker und Gedicht­verfasser Ludwig Rellstab und eine Vermutung von Prof. Elmar Budde unterscheiden sich deutlich voneinander. Schindler berichtet, dass Schubert die Gedichte im literari­schen Nachlass Beethovens gefunden habe und mitnahm[15]. Vier Tage später habe Schu­bert Liebesbotschaft, Kriegers Ahnung und Aufenthalt fertig vertont zu ihm zurückge­bracht. Allerdings gilt es die Aussagen von Schindler mit besonderer Aufmerksamkeit zu betrach­ten. Obwohl der Sekretär sich selbst als Freund Beethovens bezeichnete, versuchte er sich dennoch gerne selbst in den Vordergrund zu spielen. Dabei schreckte er auch nicht davor zurück Dokumente zu fälschen und Eintragungen nachträglich im Konversations­heft Beethovens vorzunehmen.[16] Rellstab hingegen berichtet in seinen Memoiren, dass Beethoven Schu­bert die Gedichte persönlich übergab, weil er sich selbst schon zu schwach fühlte die Gedichte zu vertonen[17]. Ein unabhängiger Briefverkehr bestätigt, dass Schubert und An­selm Hüttenbrenner (1794 – 1868) Beethoven, acht Tage vor seinem Tode, im Kranken­haus besuchten.[18] Budde bringt die Tatsache ins Spiel, dass es noch das Fragment Le­bensmuth (D 937) und das Lied Herbst (D 945) gibt, welche erst nach Er­scheinen des Schwanengesangs wiedergefunden wurden. Rellstab veröffentlichte die Ge­dichte schon 1827 in Berlin in einem kleinen Heftchen. Daher sind der Zeitzeugenbericht Ludwig Rell­stabs und Buddes Vermutung am wahrscheinlichsten.[19]

Die Art, wie Schubert die Lieder veröffentlichen wollte, kann heute leider auch nicht eindeutig geklärt werden. Es ist davon auszugehen, dass er die Rellstab- und Heinelieder in Abhängigkeit vom jeweiligen Dichter herausgeben wollte, weil sie sich musikalisch und in­haltlich sehr stark voneinander unterscheiden. Die Gedichte Rellstabs thematisie­ren die Gefühlszustände Liebe, Verlust und Sehnsucht des lyrischen Ichs, die in keine inhaltliche Kontextgeschichte gebunden sind. Zudem hat Hasslinger die Rellstablieder als lose Zet­telsammlung und wenig korrigierte Reinschrift vorgefunden.[20]

3. Ludwig Rellstab und die Übergabe seiner Gedichte an Beethoven

Am 13. April 1799 wurde der Theater- und Musikkritiker sowie Lyriker Ludwig Rellstab geboren. Sein Vater, Carl Friedrich, besaß ein Verlagsgeschäft, welches er schon von seinem Vater übernommen hatte.[21] Nach dem Tod des Großvaters Rellstabs gliederte Carl Friedrich einen Musikalienhandel, Musikverlag und Musikalienverleih dem bereits vor­handenen Geschäft an.[22] Durch den Kontakt zu Carl Friedrich Zelter (1758 – 1832), Leiter der Berliner Singakademie, fanden im Winter regelmäßig Konzerte in diesem Geschäft statt.[23] Die Zerstörungsgewalt der französischen Revolution ging auch an Carl Friedrich Rellstabs Existenz nicht vorbei, sodass er sein Geschäft aufgeben musste und von 1808 an bis zu seinem Tode 1813 als Musikberichterstatter bei der Vossischen Zeitung arbei­tete.[24] Er war der erste Musikberichterstatter in einer Berliner Tageszeitung und somit der Begründer dieses Amtes.[25] Sein Sohn Ludwig trat 1826 bis zu seinem Tode 1860 in die Fußstapfen seines Vaters.[26] Dabei genoss er seine praktische und theoretische musikali­sche Ausbildung bei seinem Vater, welche zwar nicht den gewünschten Erfolg brachte Musiker zu werden, aber dennoch gute Grundlage für den Beruf des Musikkritikers bil­dete.[27] Genauso ohne Abschluss blieb seine Ausbildung auf dem Gymnasium, sodass er 1815 in die Kriegsschule und ein Jahr später in die Artillerie eintrat.[28] Rellstab baute nach dem Tode seiner Mutter und dem Austritt aus der Armee Anfang der 1820er Jahre eine Verbindung zum Berliner Kunstleben auf.[29] Vor allem mit dem Komponisten Bernhard Klein (1793 – 1832) und dem Musikpädagogen Ludwig Berger (1777 – 1839) unterhielt er gute Freundschaften, sodass die drei im Jahr 1819 die jüngere Berliner Liedertafel gründeten.[30] Für die Liedertafel schrieb Rellstab mehrere Gedichte, die von Berger und Klein vertont wurden. Rellstab schrieb mehrere Libretti für Opernkompositionen. Für Berger verfasste er das Libretto für die Oper Orestres, welche nie von Berger zu Ende komponiert wurde, und für Klein das Libretto für die Oper Dido.[31] Letztere wurde im Jahr 1823 uraufgeführt und erlebte trotz dreifacher Wie­derholung keinen Erfolg.[32] Seinen Schwerpunkt setzte er fortan auf die Lyrik.[33]

Im Winter 1821 reiste Rellstab nach Weimar. Dort traf er sich nach einem vorherigen Briefkontakt Zelters mit Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832).[34] Allerdings konnte Rellstab Goethes Interesse nach einem Gespräch über die Berliner Verhältnisse nicht weiter wecken. Sowohl seine Gedichte als auch sein Trauerspiel Karl der Kühne von 1824 wurden unkommentiert an ihn zurückgesandt.[35] Im selben Jahr wurde Rellstab Mitarbeiter der Berliner allgemeinen musikalischen Zeitung und wurde Teil des musik­kritischen Ressorts.[36]

Am 21. März 1825 reiste Rellstab nach Wien. Ziel seiner Reise war es Ludwig van Beethoven (1870 – 1827) zu besuchen, um ihn darum zu bitten ein Libretto zu dichten. Für diese Unterbreitung bat er erneut seinen Freund Zelter darum, einen Brief mit der Bitte zu verfassen. Diesen überreichte er Beethoven nach seiner Ankunft ihn Wien.[37] Laut Rellstab muss die Kommunikation sehr eingeschränkt gewesen sein, weil Beethoven ihm eine Schreibtafel mit folgenden Worten reichte: „, Ich bin nicht ganz wohl! ich [sic] bin recht krank gewesen!- Sie werden sich schwer mit mir unterhalten, denn ich höre schwer! ‘“[38]. Nachdem Beethoven den Brief von Zelter gelesen hatte, stimmte er Rellstab zu das Libretto schreiben zu dürfen.[39] Allerdings schränkte Beethoven die Art des Librettos auf Nachfragen Rellstabs mit folgenden Worten ein:

„‚ Auf die Gattung käme es mir wenig an, wenn der Stoff mich anzieht. Doch ich muß [sic] mit Liebe und Innigkeit daran gehen können. Opern wie „ Don Juan “ und „ Figaro “ könnte ich nicht componieren [sic]. Dagegen habe ich einen widerwillen [sic] ‘“[40].

Beethoven wünschte darauf Leseproben mehrerer Libretti, mit denen Rellstab dienen konnte.[41]

„Ich hatte bereits für den Fall vorgesorgt, der jetzt eingetreten war. Nicht nur Abschriften meiner Operngedichte, sondern auch […] derjenigen meiner kleinen lyrischen Erzeugnisse, die ich für die besten hielt, hatte ich mitgenommen, um sie Beethoven vorzulegen“[42].

Es waren die „lyrischen Erzeugnisse“, die heute den ersten Abschnitt des Schwanenge­sang s bildeten. Aufgrund seiner andauernden Krankheit war Beethoven nicht im Stande gewesen die Gedichte zu vertonen.[43] Eine Auseinandersetzung mit den Werken fand trotzdem statt und erst mehrere Jahre später wurden die Gedichte an Rellstab zurückge­sandt.[44] Die von Beethoven als gelungen empfundenen Gedichte wurden mit Bleistiftno­tizen vermerkt.[45]

Zurück nach Berlin gekehrt, widmete sich Rellstab hauptsächlich der Theaterkritik. Er starb am 28. November 1860.[46]

4. EXKURS: Das musikalische Fragment

In der Alltagssprache ist der Begriff „Fragment“ allgegenwärtig, jedoch ohne das Funda­ment einer Definition gestützt. Zieht man jedoch diverse, nicht vollen­dete schubertsche Kompositionen aus dem Deutsch Verzeichnis zum Sichten und Ab­grenzen hinzu, trifft man auf weitere, nachträglich hinzugefügte Anmerkungen von Deutsch wie z.B. „Skizze“, „Entwurf“ und „Bruchstück“[47]. Hinzu kommen diverse frag­mentarische Unter­suchungen. Um den Schwanengesang und seine einzelnen Stücke in Bezug auf die Frag­menttheorie genauer zu untersuchen, zu beschreiben und zu charakterisieren, werden im Folgenden die Definitionen von Deutsch, Lindmayr-Brandl und Konrad sowie die frag­menttheoretische Auseinandersetzung von Lindmayr-Brandl hinzugezogen und genauer betrachtet.

4.1. Die Abgrenzung des musikalischen Fragment zu anderen Begrifflich­keiten

Um das musikalische Fragment von anderen Begrifflichkeiten zu unterscheiden, ist eine Differenzierung der Nomenklatur hinsichtlich ihrer Verwendung und ihres Ausdrucks notwendig. Zieht man die Definitionen von Konrad zu den bereits genannten Begrifflich­keiten „Skizze“, „Entwurf“ und „Fragment“ hinzu, wird dies sehr deutlich:

„Die Skizze stellt innerhalb des Kompositionsvorgangs die erste Form der schriftlichen Fi­xierung einer musikalischen Gestalt dar. Ihr Inhalt kann, bezogen auf die weitere Ausführung der Gestalt, vorläufig oder endgültig sein. Im darauffolgenden Entwurf wird die erste, satz­konstitutive Schicht der endgültigen Fassung eines Werkes oder Werkabschnittes festgehal­ten. […] Das Fragment ist eine auf dem Weg vom Entwurf zur Endgestalt nicht abgeschlos­sene Ausfertigung eines Werkes oder Werkabschnittes; es kann in sich voll ausgeführte Kom­positionsteile bergen“[48].

Heraus kommt heraus, dass die unterschiedlichen Begrifflichkeiten die ver­schiedenen Stadien eines Arbeitsprozesses zum Ausdruck bringen. Allerdings beantwor­tet Konrad in dieser Definition nicht die Frage wie ein Werk zu benennen ist welches unvollständig überliefert wurde. Aufgrund dessen muss der erste Satzteil der Definition von Deutsch hinzugezogen werden: „Als Fragment bezeichnen wir eine Komposition, wenn sie un­vollständig überliefert ist […]“[49]. Nach Lindmayr-Brandl ergeben sich damit vier Ar­beitsstadien in einer Komposition: Skizze, Entwurf, Fragment und vollständiger Noten­text. Als vollständiger Notentext ist die autografe Niederschrift des Komponisten anzuse­hen. Schon vor der Fertigstellung der Monographie von Lindmayer-Brandl haben sich weitere Begrifflichkeiten eingebürgert, die das Arbeitsstadium des vollständigen No­ten­textes weiter unterteilen; erste Niederschrift und Reinschrift. Nach Lindmayr-Brandl soll der Begriff erste Niederschrift das „erste, eigenschriftliche Vollendungsstadium“[50] be­schreiben. Die Reinschrift hingegen soll nach Deutsch die „sorgfältig autografe Ko­pie“[51] der ersten Niederschrift sein. Des Weiteren wurden die Begriffe Entwurf und Frag­ment in der Vergangenheit anders verstanden und bei Deutsch damals wie folgt definiert:

„Hat Schubert hingegen nur einzelne Stimmen entworfen oder nur den Beginn der Kompo­sition skizziert, dann bezeichnen wir sie als Entwurf. Als Fragment bezeichnen wir eine Kom­position, wenn sie unvollständig überliefert ist oder wenn sie von Schubert zwar zu einem großen Teil, jedoch nicht vollständig ausgeführt ist“[52].

Daraus haben sich folgende Arbeitsstadien etabliert: Entwurf, Fragment, Erste Nieder­schrift und Reinschrift. Mit dieser älteren Fassung des Fragmentverständnisses ergeben sich einige Probleme: eine Abgrenzung zwischen der ersten Niederschrift oder Rein­schrift kann nur gemacht werden, wenn die Originalschrift vorliegt und ist nur durch Tin­tenfarbe und Korrekturen unterscheidbar. Hinzukommt nach Brandl-Lindmayr die Ar­beitsweise Schuberts: im Liederzyklus Winterreise hat Schubert in der ersten Abteilung seine Entwürfe, Fragmente, erste Niederschrift und Reinschrift nicht immer neu aufge­schrieben. Des Weiteren wird das Fragment sowohl bei Konrad als auch bei Deutsch als Zwischenstufe angesehen. Dies führt u.a. auch bei der Betrachtung der Lieder im Schwa­nengesang zu dem Problem, dass sich das Fragment nicht genau von einem Entwurf un­terscheiden lasse[53].

Deswegen führt Lindmayr-Brandl den intuitiven Fragmentbegriff ein und erläutert die Arbeitsschritte einer Komposition mit einer Grafik[54]:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Lindmayr-Brandl betont, dass diese Fragmentanschauung Schubertspezifisch ist und zur herkömmlichen Fragment-Definition einen Widerspruch darstelle.[55]

4.2. Die Grundtypen eines Fragments bei musikalischen Werken

Lindmayr-Brandl berichtet aufgrund der systematischen Begriffsgeschichte des Frag­mentes von vier verschiedenen Grundtypen:

„ A. Fragment als Teilstück eines zerbrochenen Ganzen, das als Tonalität wieder hergestellt werden kann.
B. Fragment als Teilstück eines zerbrochenen Ganzen, wobei die Teile verloren gegangen sind oder zerstört wurden.
C. Fragment als Teilstück eines fiktiven Ganzen, das als Tonalität nie existiert hat.
D. Fragment als Ganzes, das Eigenschaften eines Fragments im Sinn von Typ B und Typ C trägt, das aber bewusst darin konzipiert wurde“[56].

Zur Veranschaulichung benutzt Lindmayr-Brandl das Bild eines Kruges und zu Letzt das eines Gemäldes. Zu A müsse man sich einen Krug vorstellen, der auf den Boden gefallen ist und wieder zusammengefügt wurde, es handele sich hierbei um ein temporäres Frag­ment[57]. Einen Krug, der auf den Boden gefallen ist und nicht mehr vollständig zu­sam­mengefügt werden kann, entspreche dem Typ B[58]. Der Krug muss vorerst ein Frag­ment bleiben bis das fehlende Teil wieder hinzugefügt wird[59]. Zu C müsse man sich einen Krug vorstellen, der vom Töpfer angefangen wurde, aber nie zu Ende getöpfert wurde, obwohl eine Absicht bestand[60]. Letztendlich müsse man sich zu D ein Bild vorstellen, wel­ches nur bruchstückhaft einen Menschen darstellt, aber an sich zu Ende gemalt wurde[61]. Zu­letzt bezieht Lindmayr-Brandl die verschiedenen Typen eines Fragmentes auf Musik­werke.

[...]


[1] Deutsch, 1913, S. 55.

[2] zitiert nach Bankl, 2005, S. 200.

[3] vgl. Hilmar, 1997, S. 76 ff.

[4] ebd., 1997, S. , Deutsch, 1964, S. 234.

[5] zitiert nach Deutsch, ebd.

[6] zitiert nach ebd., S. 458.

[7] vgl. Hilmar, 1997, S. 76 – 78, vgl. Korff, 2003, S. 186, vgl. Sagner, 2013, S.4 – 5.

[8] Hinrichsen 2011, S. 101.

[9] vgl. ebd.

[10] vgl. ebd., S. 100 – 102, vgl. Sagner, 2013, S.5.

[11] vgl. Budde, 2003, S. 97.

[12] Budde, 2003, S.96.

[13] zitiert nach Mandyczewski, 1894, S. 17.

[14] vgl. Budde, 2003, 96 – 97.

[15] Deutsch, 1975, S. 275.

[16] vgl. Fischer-Dieskau, 1972, S. 309.

[17] Rellstab, 1861, S. 240.

[18] vgl. Deutsch, 1975, S. 117

[19] vgl. Budde, 2003, S. 98, vgl. Deutsch, 1975, S. 216f. und 275.

[20] vgl. Budde, 2003, S.101.

[21] vgl. Franke, 1964, S. 11.

[22] vgl. Franke, 1964, S. 11

[23] vgl. ebd.

[24] vgl. ebd., S. 11, 26.

[25] vgl. ebd., S. 12.

[26] vgl. ebd., S. 11.

[27] vgl. ebd.

[28] vgl. ebd., S. 12.

[29] vgl. ebd., S. 13.

[30] vgl. Franke, 1964, S. 12.

[31] vgl. ebd., S. 13.

[32] vgl. ebd.

[33] vgl. ebd.

[34] vgl. ebd., S. 14.

[35] vgl. ebd., S. 15.

[36] vgl. ebd.

[37] vgl. Rellstab, 1861, S. 236

[38] vgl. ebd.

[39] vgl. ebd.

[40] ebd., S. 240.

[41] vgl. Rellstab, 1861, S. 240.

[42] ebd., S. 244.

[43] vgl. ebd., 1861, S. 244.

[44] vgl. ebd.

[45] vgl. ebd., S. 236 – 242, vgl. Franke, 1964, S. 18.

[46] vgl. Franke, 1964, S. 26.

[47] vgl. Deutsch, 1978, S. XVIII.

[48] Konrad, 1991, S. 335.

[49] Deutsch, 1978, S. XVIII.

[50] Lindmayr-Brandl, 2003, S. 29.

[51] Deutsch, 1978, S. XVIII.

[52] ebd.

[53] Lindmayr-Brandl, 2003, S. 25 – 31, Deutsch, S. 1978, S. XVIII.

[54] vgl. Lindmayr-Brandl, 2003, S. 41.

[55] Lindmayr-Brandl, 2003, S. 40 – 41.

[56] ebd., S. 32.

[57] ebd.

[58] ebd., S. 35

[59] ebd.

[60] ebd., S. 36

[61] ebd., S. 37.

Ende der Leseprobe aus 49 Seiten

Details

Titel
Rellstablieder aus dem "Schwanengesang" von Franz Schubert. Doch ein Zyklus?
Untertitel
Eine poetisch-musikalische Analyse
Hochschule
Technische Universität Dortmund  (Musik und Musikwissenschaft)
Note
2,3
Autor
Jahr
2016
Seiten
49
Katalognummer
V341621
ISBN (eBook)
9783668314689
ISBN (Buch)
9783668314696
Dateigröße
1239 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schubert, Rellstab, Schwanengesang, Fragment
Arbeit zitieren
Fabio Sagner (Autor:in), 2016, Rellstablieder aus dem "Schwanengesang" von Franz Schubert. Doch ein Zyklus?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/341621

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