Goethes "Die Leiden des Jungen Werther" als Drama der Adolseszenz und gescheitertes Übergangsritual


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

13 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhalt

Jugend/ Gesamtreflexion

Erwachsen sein

Schwelle

Integration/ Negation

Bibliographie

Jugend/ Gesamtreflexion

Lieber Wilhelm, ich habe allerley nachgedacht, über die Begier im Menschen sich auszubreiten, neue Entdekkungen zu machen, herumzuschweifen; und dann wieder über den inneren Trieb, sich der Einschränkung willig zu ergeben, und in dem Gleise der Gewohnheit so hinzufahren, und sich weder rechts noch links zu bekümmern. Es ist wunderbar, wie ich hierher kam und vom Hügel in das schöne Thal schaute, wie es mich rings umher anzog. Dort das Wäldchen! Ach könntest du dich in seine Schatten mischen! Dort die Spizze des Bergs! Ach könntest du von da die weite Gegend überschauen! Die ineinander gekettete Hügel und vertrauliche Thäler. O könnte ich mich in ihnen verlieren! - ich eilte hin! und kehrte zurück und hatte nichts gefunden was ich hoffte. O es ist mit der Ferne wie mit der Zukunft! Ein grosses dämmerndes Ganze ruht vor unserer Seele, unsere Empfindung verschwimmt sich darinne, wie unser Auge, und wir sehnen uns, ach! unser ganzes Wesen hinzugeben, uns mit all der Wonne eines einzigen grossen herrlichen Gefühls ausfüllen zu lassen. - Und ach, wenn wir hinzueilen, wenn das Dort nun Hier wird, ist alles vor wie nach, und wir stehen in unserer Armuth, in unserer Eingeschränktheit, und unsere Seele lechzt nach entschlüpftem Labsale.

Und so sehnt sich der unruhigste Vagabund zuletzt wieder nach seinem Vaterlande, und findet in seiner Hütte, an der Brust seiner Gattin, in dem Kreise seiner Kinder und der Geschäfte zu ihrer Erhaltung all die Wonne, die er in der weiten öden Welt vergebens suchte.[1]

Mit diesem Briefauszug bietet Werther eine gute Analyse seiner Situation und der Problematik, die sich ihm stellt und die ihm die Zukunft stellen wird. Er wird sie nicht wie im Gedankenexperiment lösen, sich der Einschränkung willig ergeben, und seine Hütte, seine Gattin, seine Geschäfte finden.

Werther befindet sich in der Ausgangssituation des Romans in einem fortgeschrittenen Alter des Jugendlichendaseins - an der Spitze der Adoleszenz. Dies wird zum einen von einer Außenwelt suggeriert, die ihn, in Gestalt von Wilhelm und Werthers Mutter, immer wieder dazu auffordert in den Berufsstand zu treten -„meine Mutter möchte mich gern in Aktivitäten sehn, sagst du“[2] oder wenigstens die Malerei ernsthaft zu betreiben -„da Dir so viel daran gelegen ist, daß ich mein Zeichnen nicht vernachlässige“[3] ; genau wie diese soll auch die Liebe ernsthaft betrieben werden, die Hoffnungen an Lotte „durchgetrieben“ oder fallengelassen werden.[4] Man fordert somit von Werther den Wechsel von der Lebensstufe des Jugendlichendaseins in die Welt der Erwachsenen. Er soll einen festen Beruf annehmen und eine geregelte Partnerschaftsbeziehung ist auch gewünscht - die maßgebenden Faktoren, die eine Familiengründung und damit die wohl allgemein wichtigste Aufgabe des Erwachsenendaseins bestimmen; so steckt auch Werther diese Lebensstufe ab: Hütte, Gattin, Kinder und Geschäfte zu ihrer Erhaltung.

Zum anderen weist der Anfang des Romans auch durch Situationen und die darauffolgenden Reflexionen Werthers auf eine Jugend auf dem Höhepunkt ihrer Blüte und die nahende Schwelle zu einer neuen Lebensidentität hin. Wir erfahren, daß er schon Erfahrungen mit der Liebe gemacht hat, daß seine Reise unter anderem eine Flucht vor einer unglücklichen Liebesleidenschaft eines Mädchens zu ihm ist. Weiterhin ist sie Trennung von Bedingungen seiner Kindheit und früheren Jugend, von dem Haus seiner Eltern, seiner Mutter und seinen Freunden; eine Trennung die gewollt und bewußt vollzogen ist: „Das Vergangene soll mir vergangen sein“. Der Roman beginnt im Mai, in der „Jahreszeit der Jugend“, und Werthers Vorsatz ist es, sich diesem Jetzt der Jugend ohne Reflexionen in die Vergangenheit hinzugeben - „ich will das gegenwärtige genießen“.[5]

Aus der Gegenwart heraus weisen dann, einen Monat später im Juni um die Zeit seiner Bekanntschaft mit Lotte, Hoffnungen und Überlegungen auf die Zukunft. Auf der Fahrt zu Lottes Haus eröffnet die Base (von Werthers Tänzerin an diesem Abend) Werther einige Aussichten: „Sie werden ein schönes Frauenzimmer kennenlernen. [...] Nehmen sie sich in Acht [...], daß sie sich nicht verlieben.“[6] In der zweiten Fassung des Romans ist die Vorankündigung der Liebe durch eine weitere Schilderung ergänzt: Werther trifft einen Bauernburschen, der ihm von seiner leidenschaftlichen aber unerwiderten Liebe zu seiner Herrin erzählt, und wird durch dieses Bild auf die Möglichkeit einer eigenen Liebesbeziehung hingewiesen, geradezu, und das noch ohne ein bestimmtes Ziel der Liebe zu haben, angesteckt:

Schelte mich nicht, wenn ich dir sage, daß bei der Erinnerung dieser Unschuld und Wahrheit mir die innerste Seele glüht, und daß mich das Bild dieser Treue und Zärtlichkeit überall verfolgt, und daß ich, wie selbst davon entzündet, lechze und schmachte.[7]

Der oben zitierte Briefauszug kurz nach der Bekanntschaft zeigt, daß Werther sich nun Gedanken über Zukunft und ganz explizit auch über das Erwachsensein (Haus, Gattin, Kinder, Beruf) macht. Während Werther also eine Trennung von Vergangenem, von Kindheit und früherer Jugend vollzogen hat, existieren Hinweise auf Möglichkeiten einer Zukunft. Sehnsüchte nach einer Liebesbeziehung, Gedanken „über den inneren Trieb, sich der Einschränkung“ des Erwachsenendaseins „willig zu ergeben“, da es „all die Wonne“ enthält, Ankündigungen wie Forderungen und Ratschläge von außen weisen den Weg in die Richtung einer Angliederung an eine neue Lebensstufe. Doch andere Triebe und Sehnsüchte Werthers sowie äußere Gegebenheiten hindern ihn diesen Weg zu gehen, werden ihn an diesem Übergang scheitern lassen.

Nun interessieren mich nicht die Gründe dieses Scheiterns an sich, sondern die Auswirkungen auf das Individuum, der Weg den Werther beschreitet oder erfährt, die Veränderungen, denen er auf diesem Weg unterworfen ist und ihre Entwicklung. In der Ausgangssituation des Romans steht Werther noch in Identität mit dem Jugendlichendasein, doch befindet sich diese schon an der Schwelle, es gibt Orientierungen von ihm und von Außen in neue Definitionsräume des Ichs; er kann sich schon zum Teil mit dem suchenden „unruhigen Vagabunden“ in einem Niemandsland, in einer „weiten, öden Welt“ identifizieren (denn er hat diese Situation schon in seinen Gedankengängen, im Bewußtsein). Ich möchte Werthers Weg als Identitätsentwicklung betrachten, denn der Übergang zwischen der Adoleszenz und dem Erwachsenendasein ist ja ein Wechsel der Ich-Definition, der Identität.[8] Welche Räume betritt und erfährt er, welche Möglichkeiten von Identität sucht Werther an der Schwelle von der Adoleszenz, in welche verschiedenen Richtungen strebt der Vagabund, wie verändert/ entwickelt sich sein eigenes Identitätsbild bis zu seinem Scheitern? Das endgültige Scheitern, den Tod, möchte ich in diesem Rahmen nicht betrachten, da ich denke, daß der Roman hier noch ganz andere Fragen aufwirft, die eine gesonderte Untersuchung verlangen. Ich möchte, da ich es für mein Ziel für besonders aussagekräftig halte, diese Entwicklung besonders anhand der Situationen und Äußerungen seiner Liebe zu Lotte betrachten, ergänzt durch seine philosophischen Gedanken (da er hier oft allegorisch seine eigene Situationen begreift), seine beruflichen Stationen und Aussagen nur am Rande erwähnen.

Erwachsen sein

Zu Beginn des Romans ist Werther von einer starken Skepsis und Abneigung gegenüber der Welt der Erwachsenen geprägt:

Daß die Kinder nicht wissen, warum sie wollen, darinn sind alle hochgelehrten Schul- und Hofmeister einig. Daß aber auch Erwachsene gleich Kindern auf diesem Erdboden herumtaumeln, gleichwie jene nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, ebensowenig nach wahren Zwekken handeln, ebenso durch Biskuit und Kuchen und Birkenreiser regiert werden, das will niemand gern glauben, und mich dünkt, man kann`s mit Händen greifen.[9]

Ein Eingang in diese Welt der „Einschränkungen“ kommt für ihn nicht in Frage, er richtet seinen Blick in eine andere Richtung: „Das alles, Wilhelm, macht mich stumm. Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt.“[10] Erst nach der Bekanntschaft mit Lotte im anfangs zitierten Briefauszug kann er sich im Gedankenexperiment vorstellen, daß im Erwachsenendasein alle Wonne zu finden ist, und er stellt sogar dieses Leben in „Gewohnheit“ und „Einschränkung“ über das Ausbreiten, das Herumschweifen, die Entdeckungen, die in der inneren Welt zu machen sind, da er nun ersterem „all die Wonne“ zuschreibt. Allerdings bleibt dieses Denken nur abstrakt, und spiegelt sich zunächst nicht in definitiven Aussagen und Handeln wieder. Erst am 20. August denkt er das erste Mal abwägend darüber nach, sich zu „employieren“. Doch findet er im darauffolgenden Winter bei seinen Versuchen sich in den Regeln der Erwachsenenwelt einzufinden nur die Einschränkungen, aber keine Wonnen wieder. Er fühlt sich „im Käfig“, erfährt diese Welt nur mit Distanziertheit, bleibt außenstehend:

Ich stehe wie vor einem Raritätenkasten, und sehe die Männgen und Gäulgen vor mir herumrükken, und frage mich oft, ob`s nicht optischer Betrug ist.[11]

Im ersten Teil denkt Werther nie wirklich über den Zustand des Verliebtseins hinaus, macht sich keine Hoffnungen und Bilder von einer normalen Partnerschaftsbeziehung mit Lotte, von einem gemeinsamen Erwachsenendasein. Erst im zweiten Teil nach seiner erneuten Ankunft, als Lotte und Albert verheiratet sind und somit keine denkbaren Möglichkeiten für Werther mehr bestehen, malt er sich gedanklich das erste Mal als Mann an ihre Seite:

Ich - ihr Mann! O Gott, der du mich machtest, wenn du mir diese Seligkeit bereitet hättest, mein ganzes Leben sollte ein anhaltendes Gebet seyn. [...] - Sie meine Frau! Wenn ich das liebste Geschöpf unter der Sonne in meine Arme geschlossen hätte -[12]

Nun vergleicht er sich das erste Mal mit Albert -„sie wäre mit mir glücklicher geworden als mit ihm“[13] - und hofft auf Möglichkeiten, seine Stelle an der Seite Lottes anzunehmen: „wie, wenn Albert stürbe!“.[14] Erst unter den Bedingungen der Unmöglichkeit und der Rivalität werden Werthers Vorstellungen definitiv, so mutmaßt auch Lotte zum Ende: „Ich fürchte, ich fürchte es ist nur die Unmöglichkeit mich zu besitzen, die ihnen diesen Wunsch so reizend macht.“[15] Im ersten Teil, als der Platz zu ihrer Seite praktisch zunächst frei ist, drängt es ihn nicht in die einfache Position neben ihr, macht er sich keine Vorstellungen für eine gemeinsame Zukunft, sondern verharrt in einem Zustand der Möglichkeiten. Er scheint kaum Ambitionen zu haben sich festzulegen, sondern die Liebe scheint ganz andere Faszinationen als die einer konventionellen Partnerschaft zu schaffen.

[...]


[1] Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Paralleldruck der beiden Fassungen von 1774 und 1787 (Hg.: Matthias Luserke), Stuttgart: 1999. S. 54f. Brief vom 21. Juny. Ich zitiere im folgenden, wenn nicht anders angegeben, aus der ersten Fassung von 1774.

[2] Ebd. S.80. Brief vom 20. Juli.

[3] Ebd. S.82. Brief vom 24. Juli.

[4] Ebd. S.88. Brief vom 8. August.

[5] Ebd. S.8f. Brief vom 4. May.

[6] Ebd. S.36. Brief vom 16. Juny.

[7] Ebd. S.35. Brief vom 30. May. (aus der Fassung von 1787)

[8] Ich benutze den Begriff Identität hier in einer ganz allgemeinen Form, als ein Bewußtsein, Verständnis und einer Form von Definition von sich selbst.

[9] Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Paralleldruck der beiden Fassungen von 1774 und 1787 (Hg.: Matthias Luserke), Stuttgart: 1999. S. 22. Brief vom 22. May.

[10] Ebd.

[11] Ebd. S.136. Brief vom 20. Januar.

[12] Ebd. S.158f. Brief vom 29. Juli.

[13] Ebd.

[14] Ebd. S.162. Brief vom 21. August.

[15] Ebd. S.226. Brief vom 20. Dezember.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Goethes "Die Leiden des Jungen Werther" als Drama der Adolseszenz und gescheitertes Übergangsritual
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Germanistik)
Note
2
Autor
Jahr
2004
Seiten
13
Katalognummer
V340757
ISBN (eBook)
9783668302495
ISBN (Buch)
9783668302501
Dateigröße
535 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
goethes, leiden, jungen, werther, drama, adolseszenz, übergangsritual
Arbeit zitieren
Magister Heiko Michels (Autor:in), 2004, Goethes "Die Leiden des Jungen Werther" als Drama der Adolseszenz und gescheitertes Übergangsritual, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/340757

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