Familienkohärenzsinn als Ressource für Familien in Belastungssituationen

Ein systematisches Review zur aktuellen empirischen Forschungsliteratur


Bachelorarbeit, 2015

65 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung / Abstract

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Anlagenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Das Familien-Kohärenzgefühl nach Antonovsky und Sourani
2.2 Operationalisierungsformen des Familien-Kohärenzgefühls
2.3 Family Sense of Coherence-Scale nach Antonovsky und Sourani
2.4 Konstruktvalidierung des FSOC-Fragebogens
2.5 Übersetzungen und Weiterentwicklungen der FSOC-Skala nach Antonovsky und Sourani
2.6 Sense of Family Coherence Scale nach Sagy
2.7 Zusammenhang des Familien-Kohärenzgefühls mit ähnlichen Konstrukten
2.8 Fragestellung und Arbeitshypothesen

3 Methode und Auswahl der Studien
3.1 Vorgehen
3.2 Ein- und Ausschlusskriterien für Literatur
3.3 Ausgewählte Studien

4 Ergebnisse
4.1 Zusammenhang mit potentiellen Schutzfaktoren
4.1.1 Zusammenhang mit familiären Adapatationsmaßen
4.1.2 Zusammenhang mit der familiären Funktionsfähigkeit
4.1.3 Zusammenhang mit allgemeinen Maßen des Wohlbefindens
4.1.4 Zusammenhang mit individuellen Ressourcen
4.2 Zusammenhang mit potentiellen Belastungsfaktoren
4.2.1 Zusammenhang mit dem Stresserleben
4.2.2 Zusammenhang mit depressiven Symptomen
4.2.3 Zusammenhang mit familiären Konflikten

5 Diskussion
5.1 Beantwortung der Fragestellung
5.2 Kritische Beurteilung der Studien sowie der vorliegenden Arbeit
5.3 Fazit und Ausblick

6 Literaturverzeichnis

7 Anlagen

7.1 Deutsche Version zur Ermittlung des Familien-Kohärenzgefühls

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1 Übersicht ber potentielle Schutz- und Belastungsfaktoren, die in Verbindung mit dem Familien-Koh renzsinn untersucht wurden

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1 Vierfeldertafel zu möglichen Perspektiven des familiären Kohärenzgefühls

Tabelle 2 Übersicht über die empirischen Studien

Anlagenverzeichnis

Anlage 1 Deutsche Version zur Ermittlung des Familien-Kohärenzgefühls .

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Autorenhinweis

Zur besseren Lesbarkeit wurde in dieser Arbeit überwiegend auf die Nennung beider Geschlechter verzichtet. Falls nicht explizit erwähnt, sind immer beide Geschlechter gemeint. Bezüglich der Formalia wurden die entsprechenden Gestaltungshinweise des Lehrgebiets Gesundheitspsychologie sowie die Richtlinien des APA Publication Manual 6th. Edition (American Psychological Association, 2009) befolgt.

Dank

Mein Dank geht an die Wissenschaftler, die mich bei der Literatursuche unterstützt haben und mir wichtige Artikel kostenlos zur Verfügung gestellt haben. Zudem danke ich meiner direkten Betreuerin, die mir jede eMail schnell und informativ beantwortet hat.

>> Wenn wir ganz fest daran glauben,

können wir die Sterne vom Himmel holen. <<

(o. V., 2015)

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage inwieweit der Familien-Kohärenzsinn - im Rahmen der Salutogenese - als Ressource für Familien in Belastungssituationen be- trachtet werden kann. Anhand der Analyse von 20 empirischen Primärstudien werden zwei Arbeitshypothesen untersucht, in denen Zusammenhänge des Familien-Kohärenzgefühls hinsichtlich potentieller Schutz- sowie Belastungsfaktoren geprüft werden. Die Ergebnisse belegen beide Hypothesen, indem sie zeigen, dass das Konstrukt mit diversen Schutzfak- toren signifikant positiv und mit den untersuchten Belastungsfaktoren signifikant negativ korreliert ist. Diese Erkenntnisse bilden die Grundlage für die Annahme, dass der Fami- lien-Kohärenzsinn als Ressource für Familien in Belastungssituationen dient.

Schlüsselwörter: Familien-Kohärenzsinn, Familien-Kohärenzgefühl, Ressourcen, Schutzfaktoren, Belastungsfaktoren, Salutogenese, Stress

Abstract

This review examines the family sense of coherence based on a salutogenetic model. The main question analyzed in this work is to what extent this construct can be seen as a re- source promoting resilience in families facing ongoing stress. By analysing 20 different empirical primary studies two hypotheses were explored, which examine the relationship between the family sense of coherence and potential factors of resilience on the one hand as well as potential factors of strain on the other. Both hypotheses can be confirmed. The results show that the family sense of coherence correlates significantly positive with fac- tors of resilience and significantly negative with factors of strains. Based on this discovery it can be presumed that the family sense of coherence indeed serves as a resource for families facing ongoing stress.

Keywords: family sense of coherence, sence of family coherence, resource, resilience, stress, strains, salutogenesis

1 Einleitung

Lange Zeit galt der wissenschaftliche Fokus in der Medizin der Frage: Was macht den Menschen krank? In verschiedenen Studien stellte sich allerdings heraus, dass es eine beträchtliche Anzahl von Menschen gibt, die emotional belastende und kritische Lebensereignisse überstehen und konstruktiv bewältigen, ohne dabei dauerhafte psychi- sche Beeinträchtigungen davon zu tragen (Antonovsky, 1997; Sack & Lamprecht, 1998). Diese Erkenntnisse brachten Wissenschaftler dazu, sich mit der Frage zu beschäftigten „Was hilft Menschen - trotz unvermeidlicher Belastungen - gesund zu bleiben?“. So wurde die pathogenetische Perspektive, welche sich vorwiegend auf Krankheiten konzentriert, durch eine salutogenetische Perspektive erweitert, welche Gesundheit, Ressourcen, Re- silienz und Prävention in den Vordergrund stellt (Antonovsky, 1997; Sack & Lamprecht, 1998; Lorenz, 2004; Sobczyk, 2007). Auf diesen Überlegungen entwickelte der israelisch- amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky (1979) das Konzept des Kohärenzsinn bzw. Kohärenzgefühls - den sogenannten Sense of Coherence (Abk. SOC). Kohärenzge- fühl wird nach Antonovsky als eine globale, affektiv-kognitive Orientierung definiert, die ausdrückt, in welchem Ausmaß eine Person darauf vertraut, dass Herausforderungen im Leben handhabbar, verstehbar und sinnvoll sind, sowie als Glaube daran, dass man über Ressourcen verfügt, diese Herausforderungen zu meistern (Antonovsky, 1997). Demnach sollen Menschen mit einem stark ausgeprägten Kohärenzsinn besonders widerstandsfähig in Bezug auf Belastungen sein und diese besser bewältigen können (Antonovsky, 1993, 1997; Sack & Lamprecht, 1998).

Auch innerhalb von Familien hat man beobachten können, dass Familien mit den gleichen Belastungen unterschiedlich umgehen. So erreicht beispielweise eine beträcht- liche Anzahl von Familien - trotz diverser Belastungen - eine gut funktionierende Bewälti- gung sowie eine positive Lebenseinstellung (Li-Tsang, Yau & Yuen, 2001; Sarimski, 1998). Hier stellt sich die Frage „Was unterscheidet diese Familien von anderen Fami- lien?“. Auch die Familienstressforschung beschäftigt sich mit der Frage wie Familien mit Stressoren umgehen und trotz diverser Belastungen ihr familiäres Gleichgewicht wieder- finden können (Patterson, 1988). Patterson beschreibt, dass das subjektive Stressemp- finden einer Familie stark von ihren gemeinsamen Überzeugungen und Glaubenssätzen beeinflusst wird. Hierbei handelt es sich um familiäre Konstruktionen gegenüber der sozia- len Umwelt und gemeinsame Überzeugungen darüber, wie die Welt funktioniert (Rolland, 1994). Aus diesen Erkenntnissen heraus entstand die Annahme darüber, dass es so et- was wie ein familiäres Kohärenzgefühl gibt - ein Glaubenssystem, das Familien dabei unterstützen kann, herausfordernde Lebensumstände zu bewältigen (Patterson & Garwick, 1994). Vermutet wird, dass es die Wahrnehmung und Bewertung von Stress- situationen, die Einschätzung der Ressourcen sowie die Wahl angemessener Coping- strategien beeinflusst und familiäres Handeln zur Bewältigung der Belastungen auslösen kann. Insgesamt gibt es zum familiären Kohärenzsinn bislang nur wenige Studien (Vossler, 2001; Anderson, 1994; Greef & van der Meerwe, 2004; Sagy & Antonovsky, 1992). Deshalb lautet die Fragestellung - welche die Basis der vorliegenden Arbeit dar- stellt:

Dient der Familien-Kohärenzsinn als Ressource für Familien in Belastungssituationen?

Zudem verdeutlicht Vossler (2001), dass es bis heute ungeklärt ist, wie das Fami- lien-Kohärenzgefühl als Ressource in Belastungssituationen genau wirkt. Deshalb gibt die vorliegende Arbeit einen Überblick darüber, welche weiteren Schutzaktoren mit dem Familien-Kohärenzgefühl empirisch zusammenhängen. Die Untersuchung der Zusammen- hänge familiärer Ressourcen in Verbindung mit dem Familien-Kohärenzsinn kann dabei helfen, konkrete Konstellationen ausfindig zu machen, die Familien dabei unterstützen, einfacher mit Belastungssituationen umzugehen (Anderson, 1998). Auch für die Entwick- lung möglicher Interventionen sowie für die präventive Unterstützung von Familien ist ein Verständnis der Zusammenhänge von hoher Relevanz (Müller, Hornig & Retzlaff, 2007). Die Begriffe Familienkohärenzsinn und -kohärenzgefühl werden in dieser Überblicksarbeit synonym verwendet. Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, im Rahmen der Fragestellung den aktuellen Forschungsstand zum Thema des familiären Kohärenzgefühls anhand empi- rischer Forschungsarbeiten aufzuzeigen und zu diskutieren. Dazu werden im weiteren Verlauf die theoretischen Hintergründe zum Konstrukt des Familien-Kohärenzgefühls dargelegt sowie entsprechende Erhebungsinstrumente und Abgrenzungen zu verwandten Konstrukten vorgestellt. Im Anschluss an eine kurze Erläuterung der Methodik dieser Arbeit werden zentrale Ergebnisse ausgewählter Studien vorgestellt und anschließend bezüglich der Fragestellung sowie zukünftigen Forschungsarbeiten diskutiert.

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Das Familien-Kohärenzgefühl nach Antonovsky und Sourani

Der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky und seine Doktorandin Talma Sourani übertrugen die Ideen des individuellen Kohärenzgefühls auf die familiäre Ebene - aufbauend auf der Annahme, dass Familien eine kollektive Weltsicht teilen. Hierzu entwickelten sie das sogenannte Familien-Kohärenzgefühl, welches Anto- novsky und Sourani (1988) als motivationales und kognitives Konstrukt beschreiben. Es geht dabei darum, wie eine Familie entsprechende Ressourcen und Fähigkeiten zur Be- wältigung der Herausforderungen des alltäglichen Lebens einschätzt und inwiefern sie ihr Zusammenleben als sinnvoll und verständlich betrachtet. Das Familien-Kohärenzgefühl umfasst dementsprechend - ebenso wie das individuelle Kohärenzgefühl - die drei Sub- skalen Handhabbarkeit, Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit. Dennoch unterscheidet sich das Konstrukt vom individuellen Kohärenzgefühl (Vossler, 2001). Nach Antonovsky (1997) sei das Kohärenzgefühl auf familiärer Ebene entscheidender als das individuelle Kohä- renzgefühl, wenn es um kollektive Stressoren (wie z.B. Krankheit eines Kindes) geht. Der Familien-Kohärenzsinn wird als wichtiger Faktor für die Entwicklung des individuellen Ko- härenzgefühls betrachtet (Sagy & Dotan, 2000). Es gibt unterschiedliche Ansichten zur Stabilität des familiären Kohärenzgefühls. Einige Forscher (Antonovsky & Sourani, 1988; Anderson, 1998) betrachten das Konstrukt als eine grundlegende Eigenschaft, andere (Vossler, 2001) gehen davon aus, dass es sich hierbei um eine veränderliche Variable handelt, deren Ausprägung unter anderem situativ bedingt ist. Retzlaff (2007) beschreibt, dass familiäre Glaubenssysteme auf den Lebenserfahrungen und der eigenen Geschichte von Familien basieren und sich somit grundsätzlich verändern können.

2.2 Operationalisierungsformen des Familien-Kohärenzgefühls

Da die Studien, welche in dieser Arbeit vorgestellt werden, die Ausprägung des Konstruktes auf unterschiedliche Arten berechnen, werden an dieser Stelle mögliche Ope- rationalisierungsformen zum familiären Kohärenzsinn vorgestellt. Insgesamt handelt es sich um ein abstraktes Konstrukt, dem man sich nur annähern kann (Vossler, 2001). Be- reits Antonovsky und Sourani (1988) haben sich mit der Frage auseinander gesetzt, wie man dieses Konstrukt am besten misst. Beide Forscher nahmen an, dass es zwei Blick- winkel gibt, aus denen der familiäre Kohärenzsinn betrachtet werden kann. Zum einen kann das Konstrukt aus individueller Sicht der einzelnen Familienmitglieder untersucht werden. Zum anderen kann man die Familie als Einheit für die Berechnung heranziehen. Aus beiden Perspektiven können jeweils entweder das Familienleben oder eine familiäre Weltsicht untersucht werden. Die folgende Tabelle fasst diese vier Betrachtungsformen des Familien-Kohärenzgefühls in Anlehnung an Vossler (2001) noch einmal zusammen.

Tab. 1: Vierfeldertafel zu möglichen Perspektiven des familiären Kohärenzgefühls

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Anm.: angelehnt an Vossler (2001)

Bisher liegen lediglich zwei quantitative Verfahren in Form von Fragebögen vor, um das Familienleben aus individueller Perspektive zu betrachten (siehe Tab. 1: Perspektive 1A). Diese werden im weiteren Verlauf vorgestellt. Messinstrumente, um das Familien- Kohärenzgefühl aus den drei anderen Perspektiven zu ermitteln (siehe Tab. 1: Perspek- tiven 1B, 2A & 2B), liegen bislang nicht vor. Dies kann unter anderem mit methodischen Schwierigkeiten zusammenhängen (Vossler, 2001). Die Betrachtung der familiären Welt- sicht ist bspw. abstrakter als die Betrachtung des alltäglichen Familienlebens. Bisher wur- de also versucht, durch die Kombination der individuellen Familien-Kohärenzwerte der einzelnen Familienmitglieder Annäherungen an den nicht direkt erfassbaren Familien-Ko- härenzsinn zu erhalten. Insgesamt gibt es laut Vossler (2001) vier unterschiedliche Be- rechnungsarten hinsichtlich der Betrachtung des Familienlebens aus individueller Pers- pektive. Zum einen kann der Familien-Kohärenzsinn als mittlere Summe der individuellen Werte der einzelnen Familienmitglieder gebildet werden (sogenanntes “aggregation model“). Zum anderen kann man den Konsens bzw. den Dissens zwischen den einzelnen Familienmitgliedern hinsichtlich der Kohärenz-Werte berechnen (sogenanntes “consensus model“). Familien mit einer großen Übereinstimmung (Konsens) in ihren Werten, haben dementsprechend ein stark ausgeprägtes Familien-Kohärenzgefühl. Eine geringe Überein- stimmung (Dissens) deutet auf ein schwaches familiäres Kohärenzgefühl hin (Antonovsky & Sourani, 1988). Es können auch beide Berechnungsarten parallel verwendet werden, um bspw. zu vermeiden, einer Familie mit hohen Werten im Kohärenzgefühl zu unter- stellen, sie hätten einen hoch ausgeprägten familiären Kohärenzsinn, obwohl die einzel- nen individuellen Werte stark divergieren. Eine andere Berechnungsmöglichkeit besteht darin, sich dem Konstrukt über die familiäre Wahrnehmung durch das “schwächste“ Fa- milienmitglied anzunähern (sogenanntes “pathogenic model“), indem der niedrigste indivi- duelle Wert den Familien-Kohärenzsinn widerspiegelt. Weiterhin kann das Konstrukt über die Wahrnehmung des “stärksten“ Familienmitgliedes und somit über den höchsten indivi-duellen Kohärenz-Wert bestimmt werden (sogenanntes “salutogenic model“). Alle vier Modelle wurden empirisch überprüft und es zeigte sich, dass alle - bis auf das „consensus model“ - hoch miteinander korrelierten (Sagy und Antonovsky, 1992). Die Befundlage spricht gegen eine Schätzung des familiären Kohärenzgefühls auf Basis des „consensus models“ und für eine Schätzung auf Basis der anderen drei Modelle (Sagy & Antonovsky, 1992). Anderson (1994) zeigt auf, dass es Sinn macht, den gemittelten Wert der Ehe-partner (Kollektiv-Wert) für die Berechnung zu benutzen. Insgesamt gibt es keinen ein-heitlichen Weg das Familien-Kohärenzgefühl zu berechnen. Im Folgenden werden die wichtigsten quantitativen Messinstrumente vorgestellt, mit denen das Konstrukt bisher operationalisiert wurde. Qualitative Herangehensweisen werden im Ergebnisteil berichtet, da sie bislang selten eingesetzt wurden.

2.3 Family Sense of Coherence-Scale nach Antonovsky und Sourani

Antonovsky und Sourani (1988) entwickelten, noch vor Prüfung der einzelnen Modelle, auf Basis des „consensus models“ ein eigenes und auch das erste Messinstru- ment in Form eines Fragebogens um den Kohärenzsinn bei Familien empirisch zu ermit- teln - die sogenannte Family Sense of Coherence Scale (Abk. FSOC-Skala). Die Basis dafür lieferte der bereits entwickelte Fragebogen zur Messung des individuellen Kohärenzgefühls - die Sense of Coherence Scale (Abk. SOC-Skala; Antonovsky, 1979). Antonovsky und Sourani formulierten einige der SOC-Items um, bzw. nahmen Items aus der Skala heraus, die nicht auf den Familienkontext adaptiert werden konnten. Zusätzliche Items kamen hinzu - wie bspw. Items zum alltäglichen Familienleben (Antonovsky, 1987). Die FSOC-Skala misst das familiäre Kohärenzgefühl in Form einer Selbsteinschätzung über die drei theoretischen Konstrukte Handhabbarkeit (neun Items), Verstehbarkeit (acht Items) und Sinnhaftigkeit (neun Items) und besteht insgesamt aus 26 Items. Vierzehn der Items sind negativ formuliert und wurden dementsprechend umgepolt, sodass hohe Werte immer einen hohen Familien-Kohärenzsinn indizieren. Die Fragen können über verbale Aussagen mit jeweils sieben Abstufungen und zwei Extrempolen an den jeweiligen Enden beantwortet werden. Ein Item (Nr. 16) aus der FSOC-Skala (Antonovsky & Sourani, 1988) lautet:

„ When the family faces a tough problem, the feeling is ... “

(von „ there ’ s no hope of overcoming the difficulties “ bis „ we ’ ll overcome it all “ )

Nach Antonovsky kann einer Familie ein starkes Familien-Kohärenzgefühl zugesprochen werden, wenn ihre Mitglieder “dazu tendieren, die Gemeinschaft als eine zu sehen, die die Welt als verstehbar, handhabbar und bedeutsam ansieht und zwischen denen ein hohes Ausmaß an Übereinstimmung bezüglich dieser Wahrnehmung besteht“ (Antonovsky, 1997, S. 157). Für ihre entwickelte FSOC-Skala fanden Antonovsky und Sourani (1988) eine interne Konsistenz von Cronbach’s α = .92.

2.4 Konstruktvalidierung des FSOC-Fragebogens

Bis vor einiger Zeit lagen laut Vossler (2001) keine empirischen Konstruktvalidie- rungen bezüglich der Fragebögen zum Kohärenzgefühl vor. Faktoranalysen ergaben (Doege, Aschenbrenner, Nassal, Holtz & Retzlaff, 2011a), dass die Unterskalen der FSOC-Skala Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit hoch miteinander korrelie- ren. Das heißt, dass die drei-faktorielle Struktur bisher empirisch nicht nachweisbar ist, sondern sich die drei Komponenten gegenseitig beeinflussen und somit voneinander ab- hängig sind. Dies impliziert, dass die Unterskalen nicht getrennt voneinander betrachtet werden sollten und man evtl. von einem Generalfaktor ausgehen kann. Insgesamt trägt jedes Item des Fragebogens zur Konsistenz der Skala bei (Doege et al., 2011a). Aufgrund der einfaktoriellen Struktur werden im Ergebnisteil die Gesamtausprägungen des Familien- Kohärenzgefühls betrachtet.

2.5 Übersetzungen und Weiterentwicklungen der FSOC-Skala nach Antonovsky und Sourani

Die FSOC-Skala von Antonovsky und Sourani (1988) wurde mittlerweile - teilweise als Kurzform - in mehrere Sprachen übersetzt. Zudem hat Vossler (2003) den Fragebogen zum Familien-Kohärenzsinn (Abk. FFKS) für Jugendliche und Erwachsene entwickelt. Es handelt sich hierbei um eine Kurzversion der FSOC-Scala mit 12 geschlossenen Items, die ebenso auf einer sieben-stufigen Likert-Skala eingeschätzt werden können. Die Durch- führung dauert ca. zehn Minuten. Vossler (2003) fand eine hohe interne Konsistenz für seinen Fragebogen (α = .84). Erst 2006 wurde die gesamte FSOC-Skala ins Deutsche übersetzt (Retzlaff, Hornig, Müller, Reuner & Pietz, 2006) und als „Fragebogen zum Famili ren Zusammenleben benannt (siehe Anhang). Hierbei werden die m tterlichen und v terlichen Gesamtwerte zu famili ren Kollektiv-Werten gemittelt. Die deutsche Fassung erwies sich bezüglich der internen Konsistenz (α = .90; Retzlaff et al., 2006) vergleichbar mit der englischen Originalfassung von Antonovsky und Sourani (1988). Beispielitems des deutschen FSOC-Fragebogens lauten:

Handhabbarkeit

“ Haben Sie das Gefühl, dass es in ihrer Familie jederzeit möglich ist, Hilfe voneinander zu erhalten, wenn Probleme auftauchen? ”

(von “ Sie können immer auf die Hilfe von Familienmitgliedern zählen. ” bis hin zu “ Sie können nicht auf die Hilfe von Familienmitgliedern zählen. ”)

Verstehbarkeit

“ Kommt es vor, dass bei jemandem in der Familie Unklarheit darüber besteht, welche Aufgaben er oder sie im Haus/in der Familie hat? ”

(von “ Dieses Gefühl besteht ständig. ” bis hin zu “ Dieses Gefühl besteht nur selten. ”) Sinnhaftigkeit

“ Das Familienleben erscheint Ihnen ”

(von “ Absolut interessant. ” bis hin zu “ Total eintönig. ”)

Çeçen (2007) hat zudem eine türkische Kurzform der FSOC-Skala entwickelt. Hierbei zeigten sich laut Çeçen ebenfalls befriedigende Ergebnisse hinsichtlich der Validi- tät und Reliabilität. 2011 wurde die chinesische Family Sense of Coherence Scale (Abk. C-FSOC-S-Skala; Ngai & Ngu, 2011) entwickelt. Diese beinhaltet 12 Items auf einer eben- falls sieben-stufigen Skala. Auch hier wurde eine hohe interne Konsistenz gefunden (α = .83; Ngai & Ngu, 2011).

Insgesamt kann man sagen, dass die FSOC-Skala von Antonovsky und Sourani (1988) die am meisten verbreitetste Skala zu diesem Konstrukt darstellt. Im Folgenden wird ein Messinstrument vorgestellt, welches ursprünglich für die Messung des FamilienKohärenzgefühls bei Kindern und Jugendlichen entwickelt wurde.

2.6 Sense of Family Coherence Scale nach Sagy

Sagy (1988) hat die Sense of Family Coherence Scale (Abk. SOFC-Skala) entwic- kelt um den familiären Kohärenzsinn aus der Sicht von Kindern bzw. Jugendlichen anstatt aus Erwachsenen-Sicht zu betrachten. Der Fragebogen beinhaltet lediglich 12 Items mit einer sieben-stufigen Likert-Skala und verbalen Verankerungen an den Enden. Eine ge- nauere Betrachtung des Fragebogens zeigt, dass die Formulierungen der Fragen Ähnlich- keiten zu denen der FSOC-Skala von Antonovsky und Sourani (1988) aufweisen. Insge- samt fokussiert die SOFC-Skala mehr auf die familiären Interaktionen. Der familiäre Kohä- renzsinn wird hierbei über die Durchschnittswerte aller Items berechnet. Hohe Werte indizieren, wie bei der FSOC-Skala, einen ausgeprägten familiären Kohärenzsinn. Sagy (1998) wies eine hohe interne Konsistenz des Fragebogens nach (α =.88).

2.7 Zusammenhang des Familien-Kohärenzgefühls mit ähnlichen Konstrukten

Es wird davon ausgegangen, dass es inhaltliche Überschneidungen des Familien- Kohärenzgefühls mit anderen Konstrukten gibt (Vossler, 2001). Hierzu kann bspw. das Konzept der kollektiven Selbstwirksamkeitserwartung von Bandura (1997) gezählt werden. Dabei handelt es sich um die geteilten Überzeugungen einer Gruppe, mittels ihrer Fähig- keiten notwendige Handlungen auszuführen, um bestimmte Ziele zu erreichen (Schwarzer & Schmitz, 1999). Dieses Konzept ähnelt inhaltlich den zwei FSOC-Komponenten “Hand- habbarkeit“ und “Verstehbarkeit“. Auch die Familienbögen (Abk. FB) von Cierpka und Frevert (1994) weisen eine starke Ähnlichkeit mit der FSOC-Skala auf. Mit den FB wird untersucht, wie Familien verschiedene familiäre Prozesse - bspw. hinsichtlich der Aufga- benerfüllung und Kommunikation - einschätzen. Bis heute ist es ungeklärt, inwieweit mit den FB ein anderes Konstrukt gemessen wird als mit der FSOC-Skala (Doege et al., 2011a). Auch das Konstrukt der familiären Hardiness steht in enger Verbindung zum fami- liären Kohärenzsinn. Familiäre Hardiness bezieht sich auf die Kontrollfähigkeit über die Auswirkungen der Lebensereignisse sowie auf eine aktive Haltung in der Anpassung und den Umgang mit stressigen Situationen (Greeff & van der Merwe, 2004).

2.8 Fragestellung und Arbeitshypothesen

Ein hoher Familien-Kohärenzsinn indiziert die familiäre Zuversicht, dass Ereignisse vorhersehbar sind, Sinn machen sowie die Überzeugung, dass Ressourcen erreichbar sind oder erzeugt werden können (Antonovsky, 1987). Für Therapien und Beratungsan- gebote sowie für die Entwicklung von Stress-Präventionsprogrammen für Familien in Be- lastungssituationen ist es hoch relevant die Fragestellung zu untersuchen, inwieweit der Familien-Kohärenzsinn als Ressource für Familien in Belastungssituationen dient (Retzlaff, 2007). Angelehnt an diese Fragestellung wird angenommen, dass das Konstrukt als Glaubenssystem Bewältigungsprozesse positiv beeinflusst, indem es mit familiären Schutzfaktoren verknüpft ist, die dabei helfen, negative Auswirkung von Belastungen zu reduzieren und Krisen zu überstehen. Schutzfaktoren sind Ressourcen, die Bewältigungs- potentiale stärken (Ahbe, 1997).

Die zwei Arbeitshypothesen für diese Überblicksarbeit lauten dementsprechend:

Hypothese 1: Ein hoher Familien-Kohärenzsinn korreliert signifikant positiv mit potenziel len Schutzfaktoren, die als Ressource betrachtet werden können.

Hypothese 2: Gleichzeitig gibt es einen signifikant negativen Zusammenhang zwischen einem hoch ausgeprägten Familien-Kohärenzsinn und potentiellen Belastungsfaktoren.

3 Methode und Auswahl der Studien

In der vorliegenden Arbeit werden die aufgeworfene Fragestellung sowie die beiden Arbeitshypothesen anhand der Ergebnisse eines systematischen Literaturreviews von empirischen Studien beantwortet.

3.1 Vorgehen

Die Literaturrecherche erfolgte hauptsächlich über den amerikanischen Datenbank- anbieter EBSCOhost®. Die erste EBSCOhost®-Suche mit dem Suchinhalt „family sense of coherence“ ergab sechs Treffer, der Suchbegriff „FSOC ergab 35 Treffer, von denen sich allerdings die meisten auf ein anderes Konstrukt („financial stability oversight council“) bezogen. Die Suchwörter „FSOC“ und „Stress“ verbunden mit dem Boleschen Operator ergaben 13 Treffer. Keine einzige Studie wurde über die Suche mit dem deutschen Begriff „Familien-Kohärenz“ gefunden. Um weitere thematisch passende Studien zu finden, wurde die Digitale Bibliothek der Fernuni Hagen hinzugezogen. Beim ersten Eingeben des Such- begriffes „Familien-Kohärenzsinn“ im Titel wurden zwei Publikationen gefunden. Bei der Suche mit dem Wort „Familien-Kohärenz“ im Titel wurden zehn und bei der Suche mit dem Titel „Family Sense of Coherence“ im Titel wurden 16 Studien gefunden, die tlw. mehrfach genannt wurden oder in anderen Datenbanken bereits aufgetaucht sind. Zu dieser Haupt- suche wurden Google Scholar sowie die Datenbanken PsycARTICLES®, Psychology and Behavioral Sciences Collection, PsycINFO®, PSYNDEX, WEB OF SCIENCETM, Science Direkt und ResearchGate bezüglich geeigneter Publikationen durchsucht. Die Suche wurde jeweils mit den englischen sowie den deutschen Begriffen durchgeführt. Relevante Studien, die online nicht kostenlos verfügbar waren, wurden über den direkten Kontakt zu den Autoren erworben. Neben der Datenbankrecherche wurden auch die Literaturver- zeichnisse bereits gefundener Publikationen hinsichtlich weiterer passender Studien durchsucht.

3.2 Ein- und Ausschlusskriterien für Literatur

Die Eingrenzung der zeitlichen Beschränkung der Studien auf die letzten zehn Jahre wurde aufgehoben, da die Forschung um das Konstrukt des Familien-Kohärenzgefühls noch sehr jung ist und sich die Anzahl relevanter Veröffentlichungen dementsprechend im Rahmen hält. Zu den Einschlusskriterien der Studien zählt, dass es sich hierbei um empi-rische Primärstudien handelt, welche Familien oder Familienmitglieder in Belastungssitua-tionen untersuchen. Weiterhin wurden nur Studien in die Analyse einbezogen, die - in Anlehnung an die Arbeitshypothesen - Zusammenhänge zwischen dem Familien-Kohä-renzsinn und potentiellen Schutzfaktoren sowie potentiellen Belastungsfaktoren betrach-ten. Zu den Ausschlusskriterien zählen Studien anderer Sprachen als Deutsch oder Englisch, da die Autorin in keiner weiteren Sprache flüssig bewandert ist.

3.3 Ausgewählte Studien

In der folgenden Tabelle (siehe Tab. 2) findet sich eine tabellarische Übersicht zu den Studien, die für das Literaturreview anhand der Ein- und Ausschlusskriterien ausge- wählt wurden. Insgesamt wurden 20 Studien ausfindig gemacht, die den vorher genannten Kriterien entsprechen. Die Studien wurden in dieser Tabelle anhand der Erstautoren alphabetisch geordnet. Zudem wurde das Jahr der Veröffentlichung mit berücksichtigt, wenn mehrere Artikel des gleichen Autors ausgewählt wurden. In der Tabelle sind die ein- zelnen Studien übersichtlich nach Autor, Veröffentlichungsjahr, Zeitschrift, Titel und Frage- stellung, Stichprobe, verwendeten Messverfahren bzw. -instrumenten sowie nach den zentralen Ergebnissen dargestellt.

Tab. 2: Übersicht über die empirischen Studien

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]

Ende der Leseprobe aus 65 Seiten

Details

Titel
Familienkohärenzsinn als Ressource für Familien in Belastungssituationen
Untertitel
Ein systematisches Review zur aktuellen empirischen Forschungsliteratur
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
2,7
Autor
Jahr
2015
Seiten
65
Katalognummer
V340283
ISBN (eBook)
9783668299122
ISBN (Buch)
9783668299139
Dateigröße
725 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Familien-Kohärenzsinn, Familien-Kohärenzgefühl, Ressourcen, Schutzfaktoren, Belastungsfaktoren, Salutogenese, Stress
Arbeit zitieren
Jana Kersten (Autor:in), 2015, Familienkohärenzsinn als Ressource für Familien in Belastungssituationen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/340283

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