Einführung in die Synästhesie und Gedanken zur Pflege


Hausarbeit, 2002

27 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Synästhesie – ein alter Hut?

2. Die traditionelle Darstellung der Gehirnarbeit

3. Synästhetische Wahrnehmung: Fantasie oder reales Phänomen?

4. Häufigkeit der Synästhesie

5. Ursachen der Synästhesie

6. Was hat das denn mit Pflegeinhalten zu tun?

1. Synästhesie, eine alter Hut?

Der Begriff Synästhesie entstammt dem Griechischen. „Syn“ bedeutet „Zusammenlaufen“ und „aisthesis“ „Empfindung“.

In der Musik und auch in der Literatur ist der Begriff der Sinnesverschmelzung in der Vergangenheit wie auch heute aktuell, nicht nur in Abhandlungen über die Liebe, sondern auch im alltäglichen Sprachgebrauch.

Seit ungefähr 300 Jahren ist Synästhesie bekannt. Der Philosoph John Locke[1] berichtete 1690 von einem blinden Mann, der die Farbe scharlachrot mit dem Klang einer Trompete gleichsetzte. Auch finden sich erste „Laborversuche“ die klären sollten, was Synästhesie ist. Dort forderte man „Nichtsynästhetiker“ auf, sich Farben vorzustellen. Sicher keine probate Forschungsmethode.

Die erste medizinische „Spur“ findet sich im Jahr 1710. Der englische Augenarzt Thomas Woolhouse beschrieb den Fall eines Blinden, der von Tönen ausgelöste Farbvisionen hatte. Im weiteren Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts tauchte der Begriff Synästhesie nur noch sporadisch auf.

Während des neunzehnten Jahrhunderts widmeten sich zunehmend auch Wissenschaftler der Synästhesie, im Besonderen Naturphilosophen[2], Künstler und Psychologen. Sir Isaak Newton[3] versuchte 1704 eine Formel zu finden, die eine Gleichsetzung der Schwingungsfrequenzen von Schallwellen mit entsprechenden Wellenlängen des Lichtes erlaubte. Es gelang ihm zwar nicht, diese Formel zu entwickeln, die Idee des Translationsalgorithmus fand jedoch praktische Anwendung in der „clavecin oculaire“, einem Instrument, welches Töne und Licht hervorbrachte.

Die Idee der Vereinigung der Sinne ist ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts, die Beachtung durch eine große Künstlerbewegung fand.

Multimodale Konzerte, bei den mit Musik, Licht und sogar Düften gearbeitet wurde, fanden regen Zulauf. In der „gehobenen Gesellschaft“ gehörte der Begriff der Synästhesie zum guten Ton, wobei nicht auf exakte Terminologie geachtet wurde. Es war Mode und Glaubensbekenntnis zugleich, denn zu dieser Zeit war die Vorstellung von Geist oder Seele unter Wissenschaftlern nicht anerkanntes Gedankengut. Ein mechanistisches Denken herrschte vor, welches den menschlichen Körper mit einer Maschine verglich. Alles „objektiv“ Beweisbare war akzeptabel, Subjektivität- wie Emotion, Seele etc. hingegen nicht und galten als ein Gebilde der Fantasie.

Die Kunst war Ort der Entfaltung synästhetischer Ideen. Aleksander Skrjabin[4] (1871- 1975) versuchte seine eigene Synästhesie in seiner 1911 geschriebenen Symphonie „Prometheus“ zum Ausdruck zu bringen. Auch die Grundlage der „Color Symphony“ von Arthur Bliss unterlag synästhetischen Vorstellungen.

Einer der bekanntesten Synästhetiker ist Wassily Kandinsky[5], der 1910 die gegenständliche Malerei aufgab und sein Interesse mehr dem Ausdruck seiner “Visionen“ schenkte. Der Beziehung von Farbe und Klang galt sein Interesse. Er benutzte Begrifflichkeiten aus der Musik, um seine Bilder zu beschreiben. Seine einaktige Oper „der gelbe Klang“(1912) bezeichnete er als Mixtum compositum, denn sie verband Farben, Licht, Klang und Tanz.

Die Musik komponierte Thomas von Hartmann, ein Freund Kandinskys und wie er auch ein Mitglied der Avantgarde-Gruppe „die blauen Reiter“[6].

Kandinsky ging es bei seiner Arbeit weniger um eine künstlerische Analyse, als vielmehr um die Weitergabe der synästhetischen Erfahrung und die Korrektur des überbewerteten Objektiven.

In dieser Zeit wurde das Phänomen der Synästhesie nur deshalb von Medizinern und Psychologen anerkannt, weil zahlreiche unabhängige Beobachtungen von Forschern vorlagen.

Interessant war die Synästhesie für das frühe zwanzigste Jahrhundert, weil sich die Erfahrungsberichte von Synästhetikern gut in die Begrifflichkeiten der Psychologie kleiden ließen. Sigmund Freud[7] kam in Mode und der Aufstieg der Psychologie und der Psychoanalyse begann.

„Die Menschen begeisterten sich an der Vorstellung, dass die Synästhesie direkten Zugang zum Unterbewusstsein zu haben schien. So etwas passte in das intellektuelle wie künstlerische Klima der Zeit“ (Cytowic 1996, S. 73).

Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Synästhesie lenkte damals die Symbolismus-Bewegung[8], deren Hauptakteur Arthur Rimbaud[9] war, vermutlich selbst Synästhetiker.

Doch intellektuelle Strömungen änderten sich schnell und das Interesse an der Synästhesie und subjektiven Erfahrungen verlor sich. Die Aufmerksamkeit galt jetzt wieder dem objektiven Verhalten, das quantifiziert und gemessen werden konnte.

Der Behaviorismus[10], der menschliches Verhalten und Leben auf ein Reiz- Reaktions-Modell reduzierte, ist ein Beispiel der Zeit. In den dreißiger Jahren galt Synästhesie daher als „psychologischer Tick“. Es herrschte ein mechanistisches, uhrwerkgleiches Weltbild vor und sollte auch in den nächsten zwei Generationen vorherrschen. Die Mittel der Gehirnphysiologie waren noch nicht ausreichend, um die Synästhesie zu erklären.

Erst Einsteins Relativitätstheorie[11] sollte ein Umdenken hinsichtlich des naturwissenschaftlich, mechanistischen Denkens einleiten, welches auch heute noch den Blick auf die Welt prägt.

So ist es vorstellbar, welche Probleme der Neurologe Richard E. Cytowic[12] bei der Suche nach einer einheitlichen Definition hatte. Bei der anfänglichen Literaturrecherche wurde ihm sehr schnell klar, dass der Begriff sehr unter schiedlich gebraucht wurde. Sein erstes Anliegen war somit zu einer Begriffsdefinition zu gelangen. Festzustellen, ob das Phänomen der Synästhesie Realität oder Phantasie war! Wenn ja, in welchem Bereich des Gehirns findet synästhetische Wahrnehmung statt? In seinem Buch „Farben hören, Töne schmecken“ ( The man who tasted shapes)[13] stellt er auf sehr plastische und prägnante Art und Weise dar, wie schwer es ist, in Randbereichen der Wissenschaft, Wissenschaftstheorie und Kunst, außerhalb von traditionellen Denkmustern und gesellschaftlichern Normen zu forschen.

Die heutige medizinische Definition der Synästhesie gemäß medizinischem Wörterbuch lautet: „Abnorme Mitempfindung, z.b. akustischer Art bei Wahrnehmung von Lichtreizen oder optischer Art bei akustischen Wahrnehmungen.“ (Zetkin/Schaldach, Wörterbuch der Medizin, 1985, Band 2, S. 2050).

In meinen folgenden Ausführungen, die nur einen kleinen Einblick geben können in das Phänomen der Synästhesie, beziehe ich mich in der Hauptsache auf Cytowics obengenanntes Werk. Dabei werde ich die Grundthesen Cytowics zur Synästhesie darstellen und aufzeigen, welche neuen Fragestellungen sich daraus für die Pflege ergeben können.

2. Die traditionelle Darstellung der Gehirnarbeit

Die zentrale Information der tradierten Darstellung der Arbeit des Gehirns beruht auf der Annahme, dass der Informationsfluss linear ist. Alle Funktionen körperlicher und geistiger Art werden verschiedenen Teilen des Gehirns zugeordnet und in eine Hierarchie gesetzt. Der uns allen bekannte Kortex (Hirnrinde) stellt die oberste Position dar, welche alles andere unter ihm kontrolliert.

Nun, diese Standartversion in dieser Form hat an Gültigkeit verloren!

Richtig ist, dass die Sinnesorgane Informationen z.B. des Sehens (elektromagnetische Energie) oder während des Hörens (mechanische Energie) in Nervenimpulse umwandeln. Je nach Impuls wandern diese zu verschiedenen Relais im Hirnstamm und Thalamus und von dort zu Stationen im Kortex. Hier werden verschiedene Aspekte der externen Stimuli nach und nach aus dem Strom der Nervenimpulse herausgefiltert. Zuletzt werden diese Aspekte zu einer bewussten Erfahrung zusammengesetzt, sodass wir die Möglichkeit haben zu verstehen, was dort draußen in der Welt unsere Sinne erregt hat. Die zweite These des traditionellen Verständnisses ist, dass sich die Hirnfunktionen lokalisieren lassen. So ist der Hinterlappen am Sehen, der Scheitellappen am Fühlen und der Schläfenlappen am Hören beteiligt usw. Diese „Kartographierung“ des Gehirns basierte auf der unter dem Mikroskop sichtbaren Zellanordnung. Ziemlich überrascht war man als festgestellt wurde, dass sich die unter dem Mikroskop sichtbare Zellarchitektur keineswegs mit den natürlichen Begrenzungen und Furchen des Gehirnes deckte. Der Kortex ist die größte Komponente und zeigt auch den kompliziertesten Aufbau. Evolutionsgeschichtlich gesehen ist der Kortex der jüngste Teil des Gehirns beim Menschen und ist wesentlich weiter entwickelt als bei anderen Lebewesen. Deshalb wurde dem Kortex auch so große Bedeutung zugemessen, es war die Substanz, die uns von allen anderen Kreaturen unterschied. Außerdem war er für die Hirnforschung aufgrund ihrer Lage experimentell leicht zu erreichen. Das limbische System oder auch Paläocortex ist ältere Anteil. Diese Vorstellung und die von den drei Gehirnen - Reptil-Hirn (Hirnstamm und Basalganglien, Funktion der Selbsterhaltung), das limbische System (Zuständigkeit Emotion) und der Neokortex als „oberste Instanz“( erstmals 1949 von Paul MacLean vorgetragen) prägten den Gedanken der Dominanz des Kortex. MacLean[14] wollte allerdings nur zeigen, das das menschliche Gehirn drei Systeme unterschiedlichen Alters umfasst, die verschiedene Verhaltenskategorien steuern.

[...]


[1] Englischer Philosoph: * 29.08.1632 in Wrington, U29.08.1704 in Oates. Studium der Naturwissenschaften und Medizin in Westminster und Oxford. Hauptwerk: An Essay concerning human understanding, begründete mit diesem Werk den engl. Empirismus. Gegner Descartes Lehre von den angeborenen Ideen und ließ als Erfahrungsquelle nur die Sinneswahrnehmung und Selbstwahrnehmung zu.

[2] Auch ionische Philosophie; die Naturbetrachtung steht hier faktisch im Vordergrund. Richtiger wäre es trotzdem, statt von Naturphilosophie von Metaphysik zu reden; denn die Rede von den Ürgründen und Elementen meint die Prinzipien des Seins überhaupt...(Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Bd.1, S.17, 1980)

[3] Englischer Physiker und Mathematiker: *04.01.1643 in Woolsthorpe, U20.03.1727 Kensington. Studium in Cambridge trat dort auch 1669 die Professur der Mathematik an. Newtons folgenreichste Leistungen liegen auf den Gebieten der experimentellen Optik, der theoretischen Mechanik und der höheren Mathematik.

[4] Russischer Komponist: *06.01.1872 in Moskau, U 27.04.1915 in Moskau. S. strebte im theosophischen Sinn eine Vereinigung Künste an. Hauptwerke Klaviermusik; 3 Sinfonien; 2 Tondichtungen: Le poème de l`extase und Le poème de feu (Prometheus). Literarisch: Prometheische Phantasien, übers. von O.v. Riesemann.

[5] russischer Maler und Graphiker: * 04.12.1866 in Moskau, U 15.12.1944 Neuilly-sur-Seine. Studierte Jura und Volkswirtschaft, kam 1896 nach München, wo er Schüler von F.v. Stuck war. 1911 Mitbegründer des Blauen Reiters. Schriften: Über das geistige in der Kunst, Selbstbiographie; Punkt und Linie zur Fläche; Regard sur le passé.

[6] Künstlervereinigung 1911 von W. Kandinsky und F. Marc in München gegr. Es gehörten ihm P. Klee, A. Macke, G. Münter, H. Campendonk, A. von Jawlensky usw., aber auch Musiker und Tänzer wie Sacharoff, Schönberger an. Die Künstler des Blauen Reiters strebten eine Erneuerung der Kunst aus dem Geiste an. Sie wurde vom franz. Kubismus angeregt und gelangte zu abstrakten Formen und Farben. (Der große Brockhaus, Bd. 2, S.156, 1955)

[7] Nervenarzt: * 06.05.1856 in Freiberg, U 23.09.1939in London. Begründer der Psychoanalyse. Hauptwerke: Die Traumdeutung; zur Psychopathologie des Alltagsleben; der Witz und seine Beziehung zu Unbewussten; drei Abhandlungen zur Sexualtheorie; Totem und Tabu; usw. ( Der große Brockhaus:Bd.4, S.289, 1954)

[8] erstmals von J. Moréas 1886 verwendeter Name für eine literarische Richtung in Frankreich, vornehmlich in der Lyrik, die auf Anregungen der dt. Romantik (Novalis) und des angelsächsischen Schrifttums (E.A. Poe) zurückgeht, zum erstenmal in Baudelaire deutlich hervortrat und mit Verlaine, Rimbaud und Mallarmé ihren Höhepunkt erreichte.Abwendung vom Positivismus un vom wirklichkeitshörigen naturalist. Roman.( Der große Brockhaus, Bd.11, S.364, 1957)

[9] franz. Dichter: * 20.10.1854 in Charleville, U 10.11.1891 in Marseille. Hauptwerke: Les Illuminations; Une saison en enfer . (Der große Brockhaus, Bd. 9, S. 757, 1956)

[10] Psychologische Theorie, nach der man nur das Erkennen kann, was sich aus dem äußeren Verhalten des Menschen ablesen lässt. (Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd. 4, S. 40, 1997)

[11] von E. Mach; H.A. Lorentz und H. Poincaré vorbereitete, von A. Einstein geschaffene und von ihm und anderen Physikern und Mathematikern ausgebaute physikalische Theorie. Die spezielle Relativitätstheorie handelt von der Gleichberechtigung aller Inertialsysteme, die allgemeine Relativitätstheorie von der grundsätzlichen Gleichberechtigung aller raumzeitlichen Koordinatensysteme. (Der große Brockhaus, Bd. 9, S. 663, 1956)

[12] Richard E. Cytowic ist Professor für Neurologie an der Universität Washington D.C. und einer der weltweit führenden Experten auf dem Gebiet der Synästhesie. Für seine zahlreichen Veröffentlichungen erhielt er den Pulitzer Preis (Nominiert 1982).

[13] Richard E. Cytowic, Farben hören, Töne schmecken, 1996.

[14] Paul MacLean, amerikanischer Hirnforscher, Direktor des Instituts Brain Evolution and Behavior am National Institute of Mental Health in Maryland. Entdecker der unterschiedlichen Zeitalter des Gehirns, „Drei-einigen Gehirn“. Seine Entdeckung trug viel zum Verständnis der Zusammenhänge zwischen der Hirnstruktur und dem menschlichen Wesen und Verhalten bei. Sie ist die Grundlage der Biostrukturanalyse.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Einführung in die Synästhesie und Gedanken zur Pflege
Hochschule
Universität Witten/Herdecke
Note
1,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
27
Katalognummer
V34026
ISBN (eBook)
9783638343558
ISBN (Buch)
9783638687256
Dateigröße
555 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Einführung, Synästhesie, Gedanken, Pflege
Arbeit zitieren
Pflegewissenschaftlerin BScN Sabine Fiedler (Autor:in), 2002, Einführung in die Synästhesie und Gedanken zur Pflege, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34026

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