Robert Jungks Kritik an der Atom-Euphorie im Buch „Der Atomstaat – vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit"


Hausarbeit, 2002

32 Seiten, Note: gut 1,8


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung in die Thematik und Zielsetzung
1. Charakteristika der Technikfolgenabschätzung
2. Das Wesen des Atomkonflikts 5

II. Robert Jungks Kritik an der Atomeuphorie im Buch „Der Atomstaat“
1. Wesen des Atomstaates
2. Homo Atomicus
3. Die Weiterverbreiter
4. Atomterroristen

III. Jungks Lösungsansätze in Bezug auf aktuelle Entwicklungen
1. Eine funktionierende Demokratie als Voraussetzung für den „sanften“ Weg
2. Aktuelle Entwicklungen auf dem Energiesektor
2.1 Die Sparten der erneuerbaren Energien im Einzelnen
2.2 Beispiel: Bundesmaßnahmen an Parlaments- und Regierungsbauten in Berlin

IV. Zusammenfassung und Ausblick Vita Robert Jungks

Literaturverzeichnis

I. Einleitung in die Thematik und Zielsetzung

Die Erforschung der Natur und die darauf aufbauende technologische Innovation bilden die Grundlage unserer Kultur und unseres Lebens. Wir haben uns längst in eine unauflösbare Abhängigkeit von der Wissenschaft begeben. Dies gilt sowohl in praktischer als auch in intellektueller Hinsicht.

Das von den Naturwissenschaften geschaffene Weltbild erweist sich als erfolgreich, da es theoretisch gesehen wesentliche Sachverhalte der Welt mit robuster Zuverlässigkeit erklärt. Erfolgreich bedeutet praktisch, dass wir, getragen von diesem Weltbild, im Vergleich zu unseren Vorfahren besser leben.

Aber wir sind verunsichert. Wir stellen uns, dringender als frühere Generationen, die Frage, wie es weitergehen soll. Anstatt die Hoffnung auf neue Basisinnovationen und neue Wachstumsmodelle zu gründen, richtet sich die Kulturkritik seit Ende der 60er Jahre gegen Wissenschaft und Technik. Dem Homo investigans – dem Wissenschaftler ebenso wie dem Ingenieur – wird die Verantwortung für die drohende Entgleisung des zivilisatorischen Fortschritts aufgebürdet. Die Krise unserer wissenschaftlich-technischen Kultur, der Umstand, dass wir das richtige Maß nicht gefunden haben, wird dem naturwissenschaftlich-technologischen Fortschritt angelastet.[1]

Die Bevölkerungsexplosion, die drohende Energielücke, das Artensterben, das CO2-Problem, das Ozonloch, die Gefährdung der Ozeane...alles wurde in der Wissenschaft überraschend schnell auch zu einem moralischen Problem. Des Weiteren haben Großtechnologien, die Lösungen zu den obigen Problemen versprechen, tiefgreifende Auswirkungen im politischen, sozialen und im Umweltbereich. Die enorme Beschleunigung der Veränderungen in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft erfordert von den Entscheidungsträgern, von dem Einzelnen und von der Gesellschaft „Schritt zu halten“. Daraus erwächst das Bedürfnis nach Orientierung und Abschätzung eventueller Folgen von einer Großtechnologie. Eine Antwort auf dieses Bedürfnis ist die Etablierung der Technikfolgenabschätzung als selbständige Disziplin und als Teildisziplin der Zukunftsforschung.

Noch dringender erscheint eine Beschäftigung mit den Folgen einer Großtechnologie in Anbetracht der hohen Komplexität, die die Durchsetzung neuer Erfindungen mit sich bringt – hier sind nicht nur die Experten auf dem jeweiligen Gebiet gefragt, sondern ihre Kollegen aus anderen Disziplinen, Politiker, Soziologen, Umweltschützer und vor allem die unmittelbar Betroffenen – die breite Öffentlichkeit. Dass die Eininselung bestimmter Eliten bei der Erfindung und Durchsetzung einer Hochtechnologie enorme Gefahren birgt, zeigen gescheiterte Zukunftsprognosen, die zum größten Teil auf der Euphorie der Erfinder und der Machthabenden beruhen und zum Zwecke eines „unaufhaltsamen“ Fortschritts und einer bedingungslosen Machtsicherung Grundsätze der Menschlichkeit und der Demokratie verletzt haben.

Vor diesem Hintergrund ist es Ziel dieser Arbeit anhand des Buches von Robert Jungk „Der Atomstaat – vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit“ aufzuzeigen, welche Gefahren eine übertriebene Euphorie über eine Großtechnologie (hier die Atomenergie) mit sich bringen kann. Ferner müssen Zukunftsprognosen kritisch hinterfragt werden, die in Zeiten der Hochideologien und des Kalten Krieges von einer Elite und den Machthabenden vorschnell instrumentalisiert wurden. Dabei soll aufgezeigt werden, wie das bewusste und organisierte Ausblenden des sozialen und umweltrelevanten Hintergrunds sowie der möglichen „Pannen“ und der breiten Öffentlichkeit zu staatlichen Gebilden führen kann, die an die erschreckenden Visionen George Orwells in „1984“ oder Eugen Kogons „SS-Staat“ erinnern. Die Bedeutung formeller und informeller gesellschaftlicher Strukturen, die die Interessen der unmittelbar Betroffenen und der breiten Öffentlichkeit präsentieren, soll unterstrichen werden. Darüber hinaus werden Wege zu einem menschlicheren Umgang mit der Technik und dem technologiebedingten Fortschritt erläutert und im Hinblick auf ihre Aktualität und Vorteile eingeschätzt. Zum Schluss werden Alternativlösungen aufgezeigt und mit der heutigen Entwicklung verglichen.

1. Charakteristika der Technikfolgenabschätzung

Eine technische Erfindung verspricht anfangs viel Fortschrittliches, ist jedoch ambivalenter Natur.[2] Daraus ergeben sich mit den erwünschten häufig unerwünschte Folgen, die Chancen schließen nicht automatisch Risiken aus und dem Fortschritt werden oft durch Definitionsmengen „Spielräume“ geboten, durch die man einer Technologie den humanen Grundstein zu sichern versucht. Das Abgrenzen und das Definieren dieser „Spielräume“ ist Gegenstand einer wissenschaftlichen Disziplin, der Technikfolgenabschätzung. Sie stützt sich auf wissenschaftliche Kompetenz und richtet sich nach den Standards der Wissenschaft.

Die Technikfolgenabschätzung hat die Aufgabe, die erwünschten und die unerwünschten Technikfolgen, die Chancen und Risiken, zu beurteilen, vorrangig mit dem Ziel, die Rationalität politischer und individueller Entscheidungen zu erhöhen. Daher ist die Technikfolgenabschätzung keine allein wissenschaftliche Herausforderung. Sie stellt zugleich eine gesellschaftliche Aufgabe da, die Politikberatung und den Diskurs mit der Öffentlichkeit einschließt.[3] Dem Wildwuchs der Techniken, aber auch einer verwilderten Technikkritik, sollen rational begründete Ordnungsparameter einer Technikgenese entgegengesetzt werden. Als Leitsatz gilt, dass die neuen Technologien „besser“ sein sollen als die alten. Damit ist nicht nur die wissenschaftliche Dimension angesprochen, sondern ebenso die Sozial- und Umweltverträglichkeit einer Technologie. Technikfolgenabschätzung hat also nicht nur die Aufgabe, die Auswirkungen vorhandener und absehbarer Technologien systematisch zu untersuchen, sondern darüber hinaus die Interdependenzen zwischen technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu beurteilen. Dies bedeutet, dass zu einer wissenschaftlich orientierten Analyse durch institutionalisierte Formen ein von außen gerichteter Diskurs gehört. Ohne eine derartige Ergänzung bliebe die Technikfolgenabschätzung ein gesellschaftlich weitgehend unverbindliches Element einer Selbsterforschung von Technik und Wissenschaft.

Eine gesellschaftliche Rückkoppelung muss immer gewährleistet werden, da eine Verständigung über technologische Entwicklungen mit den Menschen im Lande argumentativ erreicht werden muss. Dieser Prozess ist als gesellschaftlicher Diskurs bekannt. Die aus Technikfolgenabschätzung entstehenden Einsichten werden nur dann politische Geltung erlangen, wenn sie den Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik und der Mehrheit der Bürger schließlich einleuchten. Man kann nicht das Vertrauen aller gewinnen, aber man braucht die Zustimmung der Mehrheit, wenn es um die rationale Kontrolle der Technikentwicklung geht.

Man muss jedoch bei der Technikfolgenabschätzung berücksichtigen, dass sie kein Instrument darstellt, welches jegliche Konflikte vermeiden kann. Natürlich ist das Ziel zu verhindern, dass gesellschaftliche Konflikte eskalieren, aber nicht auf Kosten oder unter Preisgabe wissenschaftlicher Erkenntnis. Es kann nicht darum gehen, die Technikentwicklung um jeden Preis der faktischen Meinungsbildungslage anzupassen. Dazu bräuchte man eine Demoskopie im Stil des Politbarometers. Eine sachverständige Technikfolgenabschätzung, deren politische Neutralität respektiert wird, kann entscheidend dazu beitragen, den politischen Streit durch eine „Erwägungskultur“, in der dem kompetenten Urteil die tragende Rolle zukommt, zu vermeiden. In der Öffentlichkeit muss das Vertrauen gestärkt werden, so dass man in der Lage ist, die Innovationsschübe technisch, sozial und moralisch zu beherrschen.

2. Das Wesen des Atomkonflikts

Das Atomzeitalter dauerte mehr als fünfzig Jahre. Seit der Entdeckung der Atomkernspaltung durch Neutronenbeschuß, der ersten Atombombe, dem atomaren „Patt“ der Supermächte und der „friedlichen“ Nutzung der Atomkraft in Medizin und Kraftwerken hat sich transnational ein gewaltiger atomindustrieller Komplex entfaltet. Als Reaktion auf das blinde Fortschreiten und auf die möglichen und zum Teil Realität gewordenen Gefahren (man denke an Tschernobyl) entstand auch der organisierte Widerstand gegen die Atomkraft. Er richtete sich zunächst gegen die Atomwaffen, danach gegen die Atomanlagen und die Atomtechnologie überhaupt.

Die Ursachen für diesen Protest lagen hauptsächlich in zwei Problemkreisen.[4] Zum einen war es die unvollkommene technische Beherrschung, die Anlaß zur Kritik und zum Widerstand gab. Von kaum übersehbarer Brisanz war zum anderen die mangelnde gesellschaftliche Beherrschung der Atomkraft. Beide Problemkreise waren eng miteinander verbunden. Angesichts der vielen ungelösten Fragen mehrten sich die Stimmen, die die Atomkraftprobleme letztlich für unlösbar erklärten. Der Widerstand gegen die militärische und zivile Nutzung der Atomkraft wurde stellvertretend für den Widerstand gegen menschenfeindliche Großtechnik, Großorganisation und Wachstumsideologie schlechthin formiert. Der Atomkonflikt war somit nur die Spitze des Eisbergs inhumaner Entwicklungstendenzen. Symbole, die vor geraumer Zeit positiv besetzt waren, wie Autos, Computer, Raketen, Automaten und Atommeiler, wecken heute oft negative Reaktionen.

Anfangs waren es nur ein paar „Kulturkritiker“, die sich die machtgebundene, profitorientierte und folgenblinde Entwicklung der Industriewelt nicht länger einreden ließen. Dann folgten die Studenten und immer breitere Mittelstandskreise. Immer mehr Bevölkerungsschichten auf der ganzen Welt wurde bewußt, dass sie zwangsläufig den überrumpelten Fortschritt und die euphorischen Entwicklungsprognosen mit mehr Gesundheitsschäden, mehr Kontrolle, mehr Arbeitsplatzunsicherheit und mehr Zukunftsangst bezahlen müssen. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich in den unruhigen sechziger Jahren eine neue Internationale gegen die konzern-, staatskapitalistisch und großindustriell organisierten Herrschaftssysteme in West und Ost, die sich soziologisch auf eine viel breitere Basis stützen konnte als alle bisherigen gesellschaftlichen Veränderungsbewegungen. Ein wesentlicher Grund für die stärker gewordene Internationale war die Tatsache, dass alle wichtigen Beschlüsse bezüglich der Nutzung der Atomenergie weit oben und in weiter Ferne gefasst wurden. Diese mussten aber befolgt werden. Wer nicht mitlief, durfte auch nicht mitverdienen.

Diese Abhängigkeit ist vielen erst unerträglich geworden, als sie, über das Berufliche hinausreichend, den ganzen Alltag, die ganze Umwelt zu erfassen begann.[5] Da wurde innerhalb von ein paar Jahren aus der Wiese Beton, aus dem Baum ein Lichtmast, aus der Atemluft Abgasgestank, aus lebendiger Nachbarschaft wurden tote Immobilien. Wer entschied das eigentlich? Wer hatte ein Interesse daran? Weshalb wurde auf die Warnstimmen und auf die Proteste der Öffentlichkeit nicht geachtet? Wie ließe sich das verhindern? Dabei ging es nicht um die Verteidigung von politischen oder gesellschaftlichen Rechten, um mehr Lohn oder mehr Information, sondern um die ganze menschliche Existenz und um das Überleben der Gattung. Die neue Supertechnik war weder sozial, noch ökologisch, noch ökonomisch und schon gar nicht psychisch zu verkraften. Um sie trotzdem aufrechtzuerhalten, wurde von den Machthabenden ein staatliches Gebilde ins Leben gerufen, das der österreichische Journalist, Atomenergie-Gegner und Gründer der ersten Zukunftswerkstätten, Robert Jungk, in seinem gleichnamigen Buch den Atomstaat nennt und kritisch beleuchtet.

Die kritische Einstellung zu der Atomeuphorie hat bei Jungk tiefere Wurzeln. Der Autor selbst war aktiv an der Antiatombewegung beteiligt : an der Bewegung „Kampf dem Atomtod“, 1960 als Vorsitzender der österreichischen Anti-Atombewegung. Das soziale Engagement Jungks findet seinen Ausdruck in zahlreichen Veröffentlichungen und Büchern. Besonders bekannt sind: „Heller als tausend Sonnen“ (1956), „Strahlen aus der Asche“ (1959), „Die große Maschine“ (1966), „Der Jahrtausendmensch“ (1973), Zukunftswerkstätten“ (1981), „Menschenbeben“ (1983), „Und Wasser bricht den Stein“ (1986), „Projekt Ermutigung“ (1988).

Das Buch „Der Atom-Staat“ (1977) ist ein emblematisches Zeichen für die Kritik an einem inhumanen Fortschritt und für einen Aufruf zu mehr Wachsamkeit und Aktivität. Robert Jungk „erschafft“ mit den Mitteln eines polemischen Stils ein schreckhaftes Bild einer staatlichen Organisation, die die Freiräume des Einzelnen einengt, die Proteste gegen eine inhumane Technologie in seinem Entstehen erwürgt und die Euphorie über die Atomenergie von Technokraten und Machtbesitzern in ein unverantwortliches Handeln gegen die menschliche Sicherheit und Würde verwandelt. Der Autor wendet sich in seinem Werk gegen einen Zukunftsoptimismus, der sich Ende der fünfziger bis hinein in die siebziger Jahren vorwiegend in der westlichen Welt verbreitete. Gestützt waren die trügerischen Hoffnungen auf das technisch Machbare, darauf, dass der Mensch mit Hilfe der Technik jedes Ziel erreichen könnte. Die erste Mondlandung im Jahre 1969 war dafür ein scheinbarer Beweis. Damit war nicht nur ein uralter Traum – den Weltraum zu kolonisieren – Wirklichkeit geworden, sondern eine völlig neue Epoche der Menschheit schien angebrochen zu sein.

Aber das Blatt wendete sich. Die Technikbegeisterung wurde durch schwere technische Katastrophen erschüttert, die maßlose und rücksichtslose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen wurde offensichtlicher, der ökologische Zusammenbruch klopfte immer deutlicher an die Tür und das Wettrüsten nahm fast irrwitzige Ausmaße an. Die ursprüngliche Zukunftsbegeisterung schlug in Skepsis, Zukunftsangst und Pessimismus um. Viele haben vor dieser Weichenstellung der Politik gewarnt. Schon bevor sich weltweit die Ökologiebewegung entfaltete, gehörte Robert Jungk zu den ersten, die ihre warnende Stimme erhoben.

II. Robert Jungks Kritik an der Atomeuphorie im Buch „Der Atomstaat“

In seinem Buch „Der Atomstaat“ schildert Robert Jungk zwischen den zwei Polen „Der harte Weg“ im Vorwort und „Der sanfte Weg“ im Ausblick die charakteristischen Züge des Atomstaates. Die beiden Titel enthalten die Metapher „harter“ und „sanfter“ Weg, was inhaltlich die Einstellung auf die Folgen für Gesellschaft und Umwelt bezeichnet. Beim „harten“ Weg verfällt man einer Fortschrittseuphorie, bei der man die langfristigen Folgen in ihrer Ernsthaftigkeit ignoriert. Der „sanfte“ Weg ist eine Alternative zum „harten“, vielmehr eine entgegengesetzte in puncto Gesellschaft, Umwelt, Nachhaltigkeit. Hier wird der Fortschritt weder negiert noch „verlangsamt“. Es werden viel mehr alternative Energiequellen aufgezeigt und wichtiger noch gesellschaftliche Organisationen, die die demokratische Entscheidung in bezug auf neue Technologien und den kreativen und humanen Umgang mit denselben fördern.

Das Werk ist in 7 Kapiteln aufgeteilt, die jeweils bestimmte Akteure im Atomstaat präsentieren – z.B. „Die Spieler“, „Die Eingeschüchterten“, „Die Weiterverbreiter“, „Atomterroristen“, „Die Überwachten“.[6] Darunter nimmt das dritte Kapitel „Homo Atomicus“ eine zentrale Bedeutung ein. Darin wird eine neue Spezies charakterisiert und durch ihr Bild wird dem Leser eine Synthese der Eigenschaften nahegebracht, die den Homo Atomicus charakterisieren und von der Presse, den Politikern, den Technokraten und den Wissenschaftlern, die um jeden Preis die Weiterbetreibung der Atomenergie wollen, gefördert werden.

Die einzelnen Akteure agieren im Atomstaat – durchgehend werden typische Charakteristika desselben aufgezeichnet und durch aktuelle Beispiele veranschaulicht. Im darauffolgenden Abschnitt wird der Versuch unternommen, Robert Jungks Darstellung des Atomstaates im Hinblick auf eine Kritik der Atomeuphorie zu erläutern. Methodisch wird hierzu die Textanalyse und eine Auswertung der Tatsachenbeschreibung zu einer aufschlussreichen Analyse der Kritik an einer übertrieben positiven Zukunftsprognose verdichtet.

1. Wesen des Atomstaates

Die Definition eines Staates besagt, dass dies eine größere Gemeinschaft von Menschen innerhalb festgelegter Grenzen bedeutet, die sich unter einer hoheitlichen Gewalt befinden.[7] Die politische Bedeutung des Wortes ist im 17. Jahrhundert entstanden –und ist auf den französischen Begriff „etat“, was „Staatsverfassung, Staat“ bedeutet, zurückzuführen.

Robert Jungk benutzt die Metapher „Atomstaat“ als die Bezeichnung derjenigen menschlichen Gemeinschaft, die sich unter der hoheitlichen Gewalt einer Großtechnologie befindet. Diese Bezeichnung an sich gibt dem Leser bereits zu verstehen, dass wegen der Atomkraftenergie und deren Nutzung ein eigenes institutionelles Gebilde geschaffen wurde. In diesem Zusammenhang führt Robert Jungk die Überlegungen des Atomforschers Alvin Weinberg an, ehemaliger Chef des Pionierlaboratoriums Oak Ridge und zur Zeit der Bucherscheinung Leiter des Instituts, das sich mit der Projektierung einer „erträglichen nuklearen Zukunft“ befaßt. Alvin Weinberg „spielt kein Roulette mit der Zukunft“[8] wie die meisten Atomforscher, sondern er erinnere daran, dass es bei der Atomtechnologie um Menschen, Völker und geschichtliche Entscheidungen geht. In einer seiner Reden werfe der Atomforscher die Frage auf, welche technischen und institutionellen „fixes“ (so nennt er die jeweiligen Behelfe) notwendig seien, um die Kernenergie künftig akzeptabel zu machen.

Robert Jungk erläutert weiter:

Sein spezieller Beitrag zum Thema der Unfallverhütung durch gesellschaftliche Maßnahmen besteht in seinem sehr bekanntgewordenen Vorschlag, eine Art nuklearer „Priesterschaft“ heranzuziehen, deren sorgfältig ausgewählte Mitglieder über Jahrhunderte und Jahrtausende die Verantwortung für diese gefährlichste aller Techniken tragen sollten. Beispielhafte Elitenmannschaften müßten darüber wachen, dass alle Sicherheitsvorschriften stets genauestens eingehalten werden.[9]

Ferner werden diese Eliten „Kader“ und „Order“ genannt und sie sollen angesichts der schicksalhaften Bedeutung atomarer Sicherheit eine hohe Autorität für sich beanspruchen. An dieser Stelle stellt Robert Jungk die Weichen des Atomstaates. In diesem Staat wird mit allen Mitteln begründet, dass die Nutzug der Atomenergie unausweichbar ist und die damit verbundenen Sicherheitsmaßnahmen unbedingt notwendig seien. Da deren Einhaltung sehr entscheidend ist, verleiht dies den wenig Eingeweihten, der nuklearen „Priesterschaft“, viel Macht – diese Macht wird entsprechend institutionalisiert. Die Vorherrschaft dieser Atomenergie-Elite definiert schon ein typisches Charakteristikum des Atomstaates: Viel Macht und Autorität den Atomforschern, die in die Sicherheitsfragen bei der Nutzung der Atomenergie eingeweiht worden sind. Robert Jungk kritisiert sehr direkt den Vorschlag Weinbergs, eine neue Elite ins Leben zu rufen, und warnt vor einer Verletzung der demokratischen Grundsätze:

Er (der Vorschlag von Weinberg – Tz.) beinhaltet nicht nur, dass die nuklearen Hasardspieler und ihre Helfer bereit sind, die Demokratie zugunsten einer neuen hierarchischen Ordnung zu opfern, und dass sie die bestehenden ungerechten Machtverhältnisse aus Sicherheitsmotiven verewigen wollen, sondern hinter diesen Vorstellungen steht auch der Gedanke, es könnte gelingen einen „Menschentyp“ zu schaffen, der so „sicher“

ist ...[10]

Ein weiteres Charakteristikum des Atomstaates ist die Einschaltung der Polizei vor jeder neuen Einstellung in einem Atomkraftwerk. Robert Jungk bedient sich hierbei der Aussage O. Berners‘, Angestellter der Firma Kraftanlagen AG in Heidelberg, die Reparaturarbeiten in Kernkraftwerken durchführt, bezüglich Personalschwierigkeiten bei Kernbetreibern. Diese ergeben sich aus der Überprüfungsfrist von fünf bis zehn Jahren. Demzufolge sollte das Ausländerpersonal abgebaut werden, da die meisten ausländischen Arbeitskräfte noch nicht so lange in der Bundesrepublik gewesen seien. An diesem Punkt kritisiert Robert Jungk die Akzeptanz der Einschaltung staatlicher Überwachungsorgane für die Personalauslese in der Kernkraftindustrie. Er warnt vor einer fast allgegenwärtigen Kontrolle – in allen Betrieben, die mit Kernenergie zu tun haben. Nicht mehr nur angehende Beamte, sondern auch Arbeiter und Angestellte werden sich eine genaue Untersuchung ihrer politischen Einstellung gefallen lassen müssen.

Beinahe grotesk wirkt die Schubladisierung bestimmter Menschenkategorien, die Robert Jungk in seinem Buch anhand einer Tabelle veranschaulicht. Die Informationsquelle ist angegeben: Wirtschaftswoche, Düsseldorf, 4.3.1977. Die Tabelle enthält drei Spalten, die jeweils folgendermaßen betitelt worden sind: Gruppen, Kriterien, Maßnahmen. Allein diese Kategorisierung von Bevölkerungsgruppen verrät im Vorfeld eine Diskriminierung. Hier unterscheidet man nicht zwischen den Qualifikationen und der beruflichen Erfahrung eines jeden, sondern man ordnet beispielsweise nach Raucher, Homosexuelle, „falsche“ oder keine Religionszugehörigkeit, „falsche“ regionale Herkunft oder Dialekt, Frauen, Ausländer, Mitglieder von linksgerichteten Organisationen etc zu. Besonders diese Tabelle erinnert an das Werk George Orwells „1984“ – die Leute werden überwacht und kategorisiert.

Im Atomstaat nimmt man sich das Recht zu urteilen, ob eine Religionszugehörigkeit falsch oder richtig ist. Dasselbe gilt für die regionale Zugehörigkeit. Die Kontrolle geht so weit, dass auch Absolventen bestimmter Hochschulen, hier der Freien Universität, als solche abgestempelt werden, deren Herkunft auf vermeintlich marxistische Kaderschmieden hindeute. Dieses Beispiel ist ein eindeutiger Hinweis auf eine Diktatur, die keine „falsche“ Gesinnung duldet und selbst die Absolventen einer Hochschule diskriminiert. Bei den Maßnahmen ist u.a. zu lesen: Lebenslaufanalyse, Augenschein, psychologische Tests, Beauftragung eines Detektivs etc. Robert Jungk zeigt mittels dieser Auswahlkriterien welche Menschencharaktere bevorzugt werden – solche, die sich fügen, anpassen, gehorchen und sich nicht gegen das sinnlose Diktat eines Hochtechnologiesystems zu wehren vermögen.

Die Einengung des persönlichen Freiraums sowie die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung kritisiert Jungk anhand konkreter Beispiele. Er berichtet über Persönlichkeiten, die er kennt und die sich im Bereich Atomenergie bestens auskennen. Lew Kowalski gehört zu den Pionieren der Atomforschung. Als Mitarbeiter von Joliot-Curie, Halban und Perrin hat er den Ruf der „französischen Schule“ begründet. Er wurde während des Zweiten Weltkrieges in Kanada am Bau eines der ersten funktionierenden Reaktoren beteiligt. Jungk trifft den Atomforscher auf der internationalen Konferenz für die friedliche Nutzung der Kernenergie im Jahre 1955. In Bezug auf die Geschichte der Atombombe sagt Lew Kowalski:

Ach, ich könnte schon viel erzählen, aber wenn ich die ganze Wahrheit sagen sollte, müssten Sie (R.Jungk) mir vorher schon eine Million Dollar verschaffen. Denn das hätte zur Folge, dass ich dann nie mehr einen Job bekäme.[11]

Durch eine solche permanente existentielle Drohung, man könnte seinen Job verlieren, wenn man offen über die Gefahren einer Hochtechnologie berichtet, kontrolliert man im Atomstaat die einzelnen Beteiligten und zugleich auch die Betroffenen. Man bangt nicht nur um seinen Job und seine Position in der Gesellschaft, sondern auch um sein Leben. Lew Kowalski antwortet auf den Abschiedssatz Robert Jungks. „Ich hoffe, ich darf Sie bald wiedersehen“ mit den Worten: „Nur wenn die mich bis dahin nicht umgebracht haben.“ Sehr aussagekräftig wirkt der Vergleich der Summen - die eine wurde für die Bezahlung eines Reaktors ausgegeben. Und nur ein Tausendstel dieser Summe würde für die Bezahlung eines Killers ausreichen. An der Stelle bekommt der Leser fast „hautnah“ die Mechanismen und die Methoden des Atomstaates zu „spüren“. Das Leben des Einzelnen „kostet“ ein Tausendstel von dem, was ein Reaktor kostet. Hier stellt sich die Frage, ob diese Großtechnologie dem Menschen dient oder umgekehrt. Der Mensch sollte zum Opfer eines unkontrollierten Machtstrebens durch eine Hochtechnologie werden, die in ihren „Anforderungen“ an die Demokratie, an die Moral, an die Psyche des Einzelnen und an die Umwelt einen vernünftigen Rahmen verlässt und zu einem Selbstzweck mutiert. Die Machthabenden sind zu allem fähig: „Ils sont capables de tout!“

Die schrecklichste aller Maßnahmen des Atomstaates ist das Eliminieren eines jeden Wissenschaftlers, der an der Richtigkeit der Atomenergienutzung an sich zweifelt und somit das legitime Betreiben des Atomkraftkomplexes gefährden kann. Auch zu diesem Aspekt führt Robert Jungk konkrete Beispiele an:

S., Leiter einer deutschen Volkshochschule, hatte eine Vortragsreihe veranstaltet, in der er sich kritisch mit dem Thema Kernenergie auseinandersetzte. Vergeblich hatten die Stadtväter, die sein Vorhaben missbilligten, zunächst versucht, es mit Entschlossenheit zu unterbinden. „Kurz danach verunglückte S. auf der Autobahn tödlich, schrieb mir Focke.[12]

[...]


[1] Bullinger, H-J: Technikfolgenabschätzung, Stuttgart, 1994, S. 12

[2] Wachlin, K. und Renn, O.: Diskurse an der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg: Verständigung, Reflexion, Gestaltung, Vermittlung. TA-Informationen 2/98, S. 2-6.

[3] Mohr, Hans: Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis, Springer,1998; S. 2ff.

[4] Mez, Lutz: Der Atomkonflikt. Berichte zur internationalen Atomindustrie, Atompolitik und Anti-Atom-Bewegung; Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Hamburg; 1981; S. 41ff

[5] Mez, Lutz: Der Atomkonflikt. Berichte zur internationalen Atomindustrie, Atompolitik und Anti-Atom-Bewebung; Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Hamburg; 1981; S. 41ff.

[6] Jungk, Robert: Der Atomstaat, Wilhelm Heyne Verlag, München; 1991; S.6 ff (Benennung der einzelnen Kapiteln)

[7] vgl. Wahrig, Wörterbuch, Bertelsmann Lexikon Verlag, 1986.

[8] Jungk, Robert: Der Atomstaat, Wilhelm Heyne Verlag, München; 1991; S.78f

[9] Jungk, Robert: Der Atomstaat, Wilhelm Heyne Verlag, München; 1991; S. 79ff.

[10] Jungk, Robert: Der Atomstaat, Wilhelm Heyne Verlag, München; 1991; S. 83ff.

[11] Jungk, Robert: Der Atomstaat, Wilhelm Heyne Verlag, München; 1991; S. 105.

[12] Jungk, Robert: Der Atomstaat, Wilhelm Heyne Verlag, München; 1991; S. 107.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Robert Jungks Kritik an der Atom-Euphorie im Buch „Der Atomstaat – vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit"
Hochschule
Technische Universität Berlin  (Institut für Sprache und Kommunikation an der Technischen Universität Berlin)
Veranstaltung
Mediensoziologie
Note
gut 1,8
Autor
Jahr
2002
Seiten
32
Katalognummer
V34023
ISBN (eBook)
9783638343527
ISBN (Buch)
9783638704335
Dateigröße
584 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Robert, Jungks, Kritik, Atom-Euphorie, Buch, Atomstaat, Fortschritt, Unmenschlichkeit, Mediensoziologie
Arbeit zitieren
Teodora Tzankova (Autor:in), 2002, Robert Jungks Kritik an der Atom-Euphorie im Buch „Der Atomstaat – vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34023

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