Das kulturelle Gedächtnis in der Kinder- und Jugendliteratur. Sprachliche Narben in Myron Lewoys "Der gelbe Vogel"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2015

23 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Gedächtnis und Erinnerung
2.1 Kulturelles Gedächtnis
2.2 individuelles und kollektives Gedächtnis
2.3. Trauma

3. Der „gelbe Vogel“- Vergangenheitsbewältigung und Identitätsbildung
3.1. Inhalt
3.2 Vergangenheitsbewältigung und Trauma als Hauptmotiv des „gelben Vogels“
3.3. Identität

4. Didaktik der zeitgeschichtlichen KJL
4.1. Der zeitgeschichtliche Adoleszenzroman und seine Verankerung im Kernlehrplan der Sek I für Realschulen in NRW am Beispiel des „gelben Vogels“
4.2 Unterrichtsvorhaben
4.3 Unterrichtsreihe – Tabellarische Darstellung der geplanten Unterrichtsreihe/ des Unterrichtsvorhabens
4.4 Reflexion der Unterrichtsreihe

5. Schlussbetrachtungen:

6. Literatur

1. Einleitung

„Nicht nur Individuen, sondern auch Kulturen bilden ein Gedächtnis aus, um Identitäten herzustellen, Legitimation zu gewinnen und Ziele anzustreben.“[1]

In dieser Arbeit soll auf die Frage nach der Relevanz der Geschehnisse im Dritten Reich für die heutige Lebenswelt der Kinder und den Sinn der Thematisierung im Unterricht eingegangen werden. Die schulische Vermittlung des Holocaust ist das Produkt der gesellschaftlichen Diskussion der letzten vier Jahrzehnte. Im Zusammenhangmit der bildungspolitischen Reformbewegung haben drei Tendenzen die Deutschdidaktik bestimmt: die engere Verknüpfung mit der Fachwissenschaft, die Übernahme der Lernzieltheorie und die Orientierung an gesellschaftlichen Fragestellungen.[2] Die vorliegende Arbeit folgt der These, dass der Vermittlung zeitgenössischen Kinder- und Jugendliteratur nach 1945 eine bedeutende Funktion in Hinblick auf die Ich- Findung der SuSzukommt. Zentral für die Behandlung zeitgenössischer Themen ist es, das Wissen über die Vergangenheit für die eigene Gegenwart brauchbar zu machen.

Im Zeitalter der neuen Verbreitungsmedien befinden wir uns in zweifacher Hinsicht in einem Epochenumbruch der Erinnerungskultur. Zum einen sind durch die vielzähligen Reproduktionstechniken und Vervielfältigungsmöglichkeiten unzählbare Zeugnisse für jeden frei verfügbar; zum anderen aber,weil sich die Chance dieser personalen Begegnung mit Zeitzeugen des Holocaust als ‚le­bendige’ Geschichte immer seltener bietet, stellt sich zwangsläufig die Frage, wie wir als Nachgeborene des Holocaust Vergangenheit erinnern. Den wichtigsten Beitrag zum Wandel des kulturellen Gedächtnisses leistet Jan Assmann in seiner Monographie „Das kulturelle Gedächtnis- Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen“, die 1997 erschienen ist.Das kulturelle Gedächtnis stabilisiert sich in Erinnerungsfiguren, die als epochale Wissensspeicher in die Gegenwart transportiert werden. Hierzu hat Aleida Assmann 1999 das Werk „Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses“ veröffentlicht, das beleuchten soll, wie die Erinnerungen einer Gesellschaft, Nation oder Gruppe über Generationen, mithilfe der in jeder Epoche zur Verfügung stehenden Mittel tradiert werden. Der Konstruktion von Identität kommt hierbei eine zentrale Funktion zu.Exemplarisch für die Analyse der Erinnerungsfiguren und -Räume in der zeitgeschichtlichen KJL soll „der gelbe Vogel“ von Myron Levoy dazu dienen, den Ausgangszustand der Protagonistin Naomi aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zu erklären.Anhand des Trauma- Motivs soll analysiert werden, welche massiven Auswirkungen der Kriegauf die Psyche jüdischer Heranwachsender im Zweiten Weltkrieg hatte. Es ist ein Medium des kulturellen Gedächtnisses, das die traumatischen Erinnerungen an die Vergangenheit im Narbengedächtnis unvergessen macht. Bei der Protagonistin äußern sich diese Gedächtnisnarben in Schizophrenie.

Im letzten Teil dieser Arbeitsoll das konkrete Unterrichtsvorhaben, den Roman im Deutschunterricht der Jahrgangsstufe neun an einer Dortmunder Realschule einzubinden, dargestellt werden. Hierbei sollen zunächst die Kompetenzerwartungen des Kernlehrplans der Sekundarstufe I skizziert und der Bezug zum Gegenstand der KJL hergestellt werden. Das Ziel dieses Kapitels soll die Konzipierung einer Unterrichtsreihe sein, die einem ca. vierwöchigen Unterrichtsvorhaben zugrunde liegt.Abschließend soll auf die eingangs formulierte Fragestellung zurückgekommen- und die praktischeUmsetzung des Unterrichtsvorhabenskritisch reflektiert werden.

2. Gedächtnis und Erinnerung

2.1 Kulturelles Gedächtnis

Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses ist stark von Jan Assmann geprägt. Assmann definiert es als „den Sammelbegriff für den in jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs- Texten, -Bildern und -Riten […], in deren Pflege sie ihr Selbstbild stabilisiert und ein kollektives Wissen über die Vergangenheit vermittelt, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.“[3] Es basiert auf Tradition und existiert durch die Weitergabe von kulturspezifischem Gut. Hierbei steht das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein einer Gruppe über den eigenen Stand im Vordergrund, denn es verpflichtet, die Erinnerungen an eine gemeinsame Vergangenheit in die Gegenwart zu transportieren. Jede Epoche verfügt über eigene mediale Stabilisatoren, die das Andenken in die Vergangenheit transportieren und auf diese Weise zum Prozess der Identitätsfindung und dem Bewusstsein über die eigene Herkunft beitragen. Der Wissensvorrat aller Mitglieder einer Gesellschaft kann nicht auf Dauer konserviert werden, sondern nur der einer bestimmten Gruppe oder Schicht, die durch die kulturelle Überlieferung ihre Identität festigt.[4]. Diese kulturelle Erinnerung an die Vergangenheit heftet an symbolischen Figuren, an Erinnerungsfiguren, auf die am Beispiel der Körper-Metaphorik noch ausführlich eingegangen werden soll.

2.2 individuelles und kollektives Gedächtnis

„Die Geschichte ist nicht die gesamte Vergangenheit, aber sie ist auch nicht das, was von der Vergangenheit übrig bleibt. (...) wenn man so will, gibt es neben der geschriebenen Geschichte eine lebendige Geschichte, die durch die Epochen hindurch fortbesteht oder sich erneuert und innerhalb der es möglich ist, eine ganze Anzahl jener ehemaligen Strömungen wieder zu finden, die nur scheinbar verschwunden waren.“[5]

Jan Assmann konstatiert in Anlehnung an Maurice Halbwachs Theorie des kollektiven Gedächtnisses, dass das Gedächtnis in erster Linie sozial bedingt ist.[6] Das kollektive Gedächtnis kann nur innerhalb eines sozialen Bezugsrahmens ausgebildet werden und setzt dabei soziale Interaktion als notwendig voraus. Es lebt vom und im kommunikativen Austausch am Leben.“[7] Das wichtigste Medium des individuellen Gedächtnisses, ist das Gespräch. Es wird nur an das Relevante erinnert, an das was kommuniziert wird und in den Bezugsrahmen des Kollektivgedächtnisses setzen kann.[8] Gedächtnis wächst dem Menschen erst im Prozess seiner Sozialisation zu. Der Einzelne ist hat ein individuelles Gedächtnis, aber es ist immer kollektiv geprägt. Jan Assman legt dar, dass Kollektive kein Gedächtnis haben, aber die einzelnen Glieder das kollektive Gedächtnis der Gruppe bestimmen.[9] „Wir erinnern nicht nur, was wir von anderen erfahren, sondern auch, was uns andere erzählen und was von uns als bedeutsam bestätigt und zurückgespiegelt wird (...) denn es gibt keine Erinnerung ohne Wahrnehmung.“[10] „Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung bleibt immer der einzelne Mensch, aber in Abhängigkeit von den „Rahmen“, die seine Erinnerung organisieren.“[11] „Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden.“[12] Jan Assmann konstatiert, dass es für Halbwachs wichtig ist, die Unterscheidung der Begriffe kollektives und individuelles Gedächtnis vorzunehmen, „auch wenn das individuelle Gedächtnis immer schon ein soziales Phänomen ist. Im strengen Sinne sind nur die Empfindungen und nicht die Erinnerungenindividuell. Denn die Empfindungen sind eng an unseren Körper geknüpft.“[13] Aleida Assmann legt dar, dass Individuen zwar unteilbar sein mögen, aber dennoch keineswegs selbstgenügsame Einheiten sind und immer als Teil größerer Zusammenhänge verstanden werden müssen.[14] Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe wird schon durch die Geburt festgelegt und erfolgt ohne eine bewusste Wahl wie im Fall der Familie, der Generation, der Ethnie oder auch Nation. Im Gegensatz dazu gibt es Zugehörigkeiten, die frei nach Stärken oder Interessen gewählt werden wie z.B. die Mitgliedschaft in einem Verein.[15]

2.3 Trauma

Wie im obigen Kapitel dargestellt sind individuelle Erinnerungen eng mit dem Körper verbunden. Sie werden bei A. Assmann als Gedächtnisnarben bezeichnet, die sich durch ein traumatisches Erlebnis auf Dauer in den Körper einschreiben und so automatisch erinnert werden können. „Körperschriften entstehen durch lange Gewöhnung, durch unbewusste Einlagerung und unter dem Druck von Gewalt. Sie haben die Stabilität und Unverfügbarkeit gemein. (...) Was dort im Innersten aufgeschrieben ist gilt als nicht löschbar, weil es unveräußerlich ist.“[16] Nietzsche beschreibt den Vorgang als Einbrennen in den Mark der Seele. „Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört weh zu tun, bleibt im Gedächtnis.“[17] Er macht außerdem geltend, „dass sich auch nach Abklingen des Schmerzes in Spuren und Narben ein körperliches Gedächtnis festigt. Es bleibt etwas zurück, ein unwiderruflicher Rest, die Spuren, die das Messer oder der Stein auf dem Körper hinterlässt.“[18]

Nitzsche konstatiert, dass das Körpergedächtnis zuverlässiger ist als das mentale Gedächtnis. Während die Erinnerung stets diskontinuierlich ist und Intervalle der Nichtpräsenz notwendig miteinschließt, ist die Körperschrift gegenwärtig präsent. Nur sie garantiere jene zuverlässigen Dauerspuren, die nicht durch zwischenzeitliches Vergessen unterbrochen sind. Das Trauma kann man in diesem Sinne als eine dauerhafte Körperschrift bezeichnen, die der Erinnerung entgegengesetzt ist.[19]

3. Der „gelbe Vogel“- Vergangenheitsbewältigung und Identitätsbildung

3.1 Inhalt

Der Roman „gelber Vogel“, welcher 1977 erstmals von M. Levoy veröffentlicht wurde, thematisiert die Lebenswelt zweier jüdischer Kinder, die im New Yorker Stadtteil Queens aufwachsen. Eines Tages begegnet Alan dem Mädchen Naomi, welche von den anderen Kindern im Haus aufgrund ihres verstörten Wesens als „irre Ida“ bezeichnet wird. Naomi ist mit ihrer Mutter aus Frankreich vor den Nazis geflüchtet und findet Unterkunft bei einer befreundeten Familie, die im selben Haus wohnt. Die Handlung beginnt damit, dass Alan von seinen Eltern gebeten wird, sich mit dem fremden Mädchen anzufreunden. Hieraus ergibt sichein Konflikt, da Alan sich zunächst nicht um Naomi kümmern möchte. Nach einem Gespräch mit seinem verständnisvollen und empathischen Vater, beschließt Alan, Naomi kennenzulernen. Es finden erste Treffen statt, die für Alan frustrierend sind, da er keine Möglichkeit sieht, an Naomi heranzukommen. Über eine Handpuppe versucht er, Kontakt zu ihr herzustellen. Sie ist stumm, apathisch, reagiert nicht und ist die meiste Zeit zwanghaft damit beschäftigt, Papier zu zerreißen. Es vergehen Tage und Wochen bis Alan es schafft, Naomi in kleinere Dialoge zu verwickeln. So spricht er z.B. französische Begriffe falsch aus, damit Naomi ihn korrigieren muss. In einem lang andauernden Prozess, in dem es Beiden gelingt, ihre eigenen persönlichen Hürden und Grenzen zu überschreiten. Sie vertrauen einander, sodass es Alan schließlich gelingt, Naomi ins Leben zurückzuholen. Er erkennt in ihr ein intelligentes Mädchen, das bald bereit sein wird, wieder in die Schule zu gehen.Naomi scheint abgelenkt und die Vergangenheit allmählich verarbeitet zu haben, als ein Ereignis folgt, dass die Erinnerung an die traumatischen Ereignisse wieder hervorruft.

[...]


[1] Bronfen, Elisabeth, In: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2009. S.425

[2] Spinner, Kaspar H.: Identität und Deutschunterricht. S.154

[3] Assmann Jan (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, in: Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. Frankfurt am Main1988. S.38f.

[4] vgl. Assmann Jan (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, in: Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. Frankfurt am Main1988. S.38f.

[6] Vgl. ebd. S.35

[7] vgl. Assmann, Jan. S.36

[8] vgl. ebd.

[9] vgl. ebd. S.37

[10] ebd.

[11] ebd. S.36

[12] ebd. S.35

[13] ebd.. S.37

[14] Vgl. Assman, Aleida: www.bpb.de/system/files/pdf/0FW1JZ.pdf, S.1

[15] vgl. ebd. S.2

[16] Assman, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999. S.243

[17] ebd. S.245

[18] vgl. ebd. S.247

[19] vgl. ebd. S.247

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Das kulturelle Gedächtnis in der Kinder- und Jugendliteratur. Sprachliche Narben in Myron Lewoys "Der gelbe Vogel"
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Germanistisches Institut)
Note
1,7
Autor
Jahr
2015
Seiten
23
Katalognummer
V339283
ISBN (eBook)
9783668291348
ISBN (Buch)
9783668291355
Dateigröße
631 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kinder- und Jugendliteratur, Erinnerungskultur, kulturelles Gedächtnis, Der gelbe Vogel, Myron Lewoy, Holocaust
Arbeit zitieren
Inga Mueller (Autor:in), 2015, Das kulturelle Gedächtnis in der Kinder- und Jugendliteratur. Sprachliche Narben in Myron Lewoys "Der gelbe Vogel", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/339283

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