Sigmund Freud als Klassiker der Religionswissenschaft. Seine Leistungen und seine Rezeption


Seminararbeit, 2009

25 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Vorwort

1. Einleitung

2. Freuds Leben und Wirken
2.1. Biographie
2.2. Psychoanalyse
2.3. Position zur Religion

3. Freuds Schriften zum Thema Religion
3.1. Zwangshandlungen und Religionsübungen
3.2. Totem und Tabu
3.2.1. Inzestscheu
3.2.2. Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen
3.2.3. Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken
3.2.4. Die infantile Wiederkehr des Totemismus
3.3. Die Zukunft einer Illusion
3.4. Das Unbehagen in der Kultur
3.5. Der Mann Moses und die monotheistische Religion

4. Freuds Wirkung und Bedeutung
4.1. Religionspsychologie
4.1.1. Das Fach „Religionspsychologie“
4.1.2. Die Vertreter der Religionspsychologie
4.1.2.1. Carl Gustav Jung
4.1.2.2. Weitere Schüler Freuds
4.1.2.3. Die Ödipuskomplex-Vertreter
4.1.2.4. Die Narzismus-Vertreter
4.1.2.5. Weitere Vertreter
4.2. Religionswissenschaft
4.2.1. Das Fach „Religionswissenschaft“
4.2.2. Die Vertreter der Religionswissenschaft

5. Kritik an Freuds Ansichten
5.1. Totemismus und Tabu
5.2. Psychoanalyse
5.3. Analogie zwischen Religion und Neurose
5.4. Religionsdefinition
5.5. Religionspsychologie

6. Fazit
6.1. Freuds Leistungen für die Religionswissenschaft
6.2. Freuds Rezeption von der Religionswissenschaft und ihren Vertretern
6.3. Freud als Klassiker der Religionswissenschaft

7. Anhang
7.1. Endnoten
7.2. Literaturverzeichnis

0. Vorwort

Im Herbstsemester 2008 und Frühlingssemester 2009 habe ich das Proseminar „Systematische Religionswissenschaft“ bei Frau Dr. und Frau Dr. besucht. Das Ziel dieses Proseminars war es, uns „einen Überblick über Themen, Zugänge, Geschichte und wissenschaftliches Selbstverständnis der Religionswissenschaft, namentlich in Bezug auf ihre systematischen Aspekte“ zu geben.1 )

Wie im Vorlesungsverzeichnis der Universität Zürich (Herbstsemester 2008 und Frühlingssemester 2009) formuliert, wurden anhand „von Primärtexten für die Religionswissenschaft grundlegende Konzepte und Theorien vermittelt und diskutiert. Neben der Wissenschaftsgeschichte wurden ausserdem die einzelnen Disziplinen der Religionswissenschaft, ihre jeweiligen Fragestellungen und Vertreterinnen und Vertreter vorgestellt.“2 )

Anstelle einer schriftlichen Prüfung als Leistungsnachweis gab es auch die Möglichkeit einer schriftlichen Proseminararbeit. Ich entschied mich für diese Variante, da ich mich - als Student der Psychologie im Nebenfach - besonders mit dem Thema Religionspsychologie, die seit den 1970er Jahren neben anderen Fächern als Teildisziplin der Religionswissenschaft gilt, auseinandersetzten wollte, namentlich mit einem ihrer prominentesten Vertreter, dem österreichischen Arzt und Psychoanalytiker Sigmund Freud.3 )

1. Einleitung

Als Vorbereitung habe ich sämtliche Literatur, die gemäss RW-Literaturliste im Rahmen der Modulprüfung SRW I gelesen werden muss, und alle Primärtexte, die während des zweisemestrigen Proseminars SRW I als Vorbereitung gelesen wurden, erarbeitet und - soweit relevant - in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt bzw. integriert. Dabei erwies sich der Aufsatz von Hartmut Zinser zu Siegmund Freud im Buch „Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleichermacher bis Mircea Eliade“, herausgegeben von Axel Michaels, als sehr wertvolles Instrument für meine Arbeit, da ich es als Grundgerüst benützen konnte.

Zentral für meine Arbeit sind die einzigen fünf Schriften von Sigmund Freud zum Thema Religion, besonders „Totem und Tabu“, da es eines seiner frühsten und bekanntesten Werke ist und vor allem die Ursprünge aller Religionen zu erklären versucht:

1. Zwangshandlungen und Religionsübungen (Aufsatz aus dem Jahr 1907)
2. Totem und Tabu (Monographie aus dem Jahr 1913)
3. Die Zukunft einer Illusion (Monographie aus dem Jahr 1927)
4. Das Unbehagen in der Kultur (Monographie aus dem Jahr 1930)
5. Der Mann Moses und die monotheistische Religion (Monographie aus dem Jahr 1939)

Um Freuds Einfluss auf die Religionswissenschaft beurteilen zu können, habe ich auf die folgende Literatur zurückgegriffen:

1. Einführung in die Religionspsychologie (Nils G. Holm, 1990)
2. Theory and Method in Religious Studies (Frank Whaling, 1995)
3. Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe (Hubert Canik et al., 2001)
4. Einführung in die Religionspsychologie (Christian Henning et al., 2003) Meine Proseminararbeit soll folgende vier Teilfragen beantworten:

1. Was sind Freuds Kernaussagen zum Thema Religion?
2. Was waren Freuds Leistungen für die Religionswissenschaft?
3. Wie wurde Freud von der Religionswissenschaft und ihren Vertretern kritisch rezipiert?
4. Inwiefern kann man folglich Freud als Klassiker der Religionswissenschaft bezeichnen?

Anhand der oben genannten Literatur sollen diese Fragen erörtert werden.

Die Arbeit ist folgendermassen aufgebaut: Zuerst wird ein kurzer Überblick über Freuds Leben gegeben. Danach wird sein beruflicher Werdegang als Arzt und Psychoanalytiker aufgezeigt, um schliesslich auf seine Schriften, die für die Religionspsychologie als Teildisziplin der Religionswissenschaft relevant sind, einzugehen. In einem weiteren Kapitel wird erklärt, inwiefern andere Wissenschaftler von seiner Arbeit beeinflusst wurden und wie Freuds Wirkung auf und seine Bedeutung für die Religionspsychologie und die Religionswissenschaft insgesamt waren. Zum Schluss soll seine Arbeit kritisch hinterfragt werden und in einer Zusammenfassung Freuds Bedeutung für das Fach Religionswissenschaft unterstrichen werden.

2. Freuds Leben und Wirken

2.1. Biographie )

Sigmund Freud wurde4 am 6. Mai 1856 in Freiberg (im heutigen Tschechien) in eine jüdische Familie hineingeboren. Sein Vater war Kaufmann; seine Mutter war die dritte Ehefrau seines Vaters. Drei Jahre später zog er mit seiner Familie aus wirtschaftlichen Gründen in die österreichische Hauptstadt Wien.

Nach dem Gymnasium begann er als 17-Jähriger sein Medizinstudium, das er 1881 mit dem Doktortitel abschloss. Vier Jahre später war er als Privatdozent für Nervenkrankheiten an der Universität Wien tätig. Nach einem kurzen Studienaufenthalt in Paris, den er dank eines Reisestipendiums antreten konnte, begann er als Nervenarzt zu arbeiten. Kurz darauf heiratete er und zeugte insgesamt sechs Kinder.

1930 wurde Freud für seine Leistungen von der Stadt Frankfurt mit dem Goethe-Preis ausgezeichnet. Drei Jahre später wurden seine Schriften von den Nationalsozialisten verboten und verbrannt. Nachdem 1938 Österreich an Hitler-Deutschland angeschlossen worden war, emigrierte er in die englische Hauptstadt, wo er am 23. September 1939 mit 83 Jahren starb.

2.2. Psychoanalyse )

Als Nervenarzt behandelte 5 Sigmund Freud seine Patienten zunächst mit Elektrotherapie und hypnotischer Suggestion. Zusammen mit dem Arzt Josef Breuer entwickelte er daraus zuerst die so genannte „kathartische“ und später das „psychoanalytische“ Verfahren. Beide fanden heraus, dass die psychischen Krankheiten verschwanden, sobald deren Ursprung herausgefunden wurde und die der Entstehung zugrundeliegenden Ursachen vom Patienten „abreagiert“ werden konnten. Diese Erfahrungen zeigten Freud, dass seine Patienten eine Art Wissen über den Ursprung ihrer psychischen Leiden hatten. Dieses Wissen bezeichnete er später als das „Unbewusste“, da es durch Verdrängung entstanden und in den psychischen Problemen versteckt zum Vorschein gekommen sei.

Mit der Zeit entwickelte Freud einen Weg, um einen bewussten Zugang zum Unbewussten zu ermöglichen, indem er die Methode der „freien Assoziation“ entwickelte. Dabei musste der Patient alles sagen, was ihm durch den Kopf ging, während Freud als Analytiker versuchte, das Gesagte zu deuten, um so das „Verdrängte“ - d.h. die Ursache der psychischen Symptome - ans Tageslicht zu bringen. Diese Ursachen konnten so genannte Triebregungen oder Wünsche bzw. Ängste oder Aggressionen sein. Sie wurden verdrängt, weil sie entweder mit den eigenen Moralvorstellungen, mit den Anforderungen der Eltern oder mit den Normen der Gesellschaft nicht vereinbart werden konnten.

Mit der Zeit führte Freud alle psychischen Krankheiten auf Störungen der „Sexualfunktion“ zurück. Damit meinte er eine „nach Lust strebende Körperfunktion“, die nicht nur auf die Genitalien beschränkt war und somit auch die so genannte „Liebe“ beinhalten konnte. Den Ursprung dieser Störungen sah er bereits in den ersten Lebensjahren eines Menschen, sobald dieser das erste Mal mit Liebe und Hass konfrontiert wurde. Indem er die „infantile Sexualität“ bewusst machte, rührte er an ein kulturelles Tabu und verursachte grosse Ablehnung bei seinen Kollegen.

Den so genannten Ödipuskomplex (benannt nach einer griechischen Sage) entwickelte Freud als zentralen Baustein seiner Theorie bereits am Anfang seiner Karriere als Nervenarzt. Er war davon überzeugt, dass dieser Komplex das Grundproblem aller psychischen Neurosen sei: Aggression gegen den eigenen Vater und sexuelle Wünsche in Bezug auf die eigene Mutter.

Nachdem sich Freud von Josef Breuer getrennt hatte, arbeitete er zehn Jahre lang alleine. Danach bildete sich schliesslich ein kleiner Kreis von Schülern, der sich in Wien um ihn sammelte. 1902 erreichte er ausserdem sein langjähriges Ziel, dem er schon lang vergeblich nachgeeifert hatte: Er wurde zum ausserordentlichen Professor an der Universität Wien ernannt.

1908 fand ein erster Privatkongress mit mehreren Psychiatern aus Zürich (u.a. Eugen Bleuler und Carl Gustav Jung) statt, die sich sehr für Freuds Psychoanalyse interessierten. Im selben Jahr erschien auch die Zeitschrift „Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen“. Nach und nach breiteten sich die Ideen der Psychoanalyse in Europa aus; diese Entwicklung gipfelte in der Gründung der „Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung“ auf dem Nürnberger Kongress von 1910. Nach diversen Meinungsverschiedenheiten trennte sich Jung jedoch von Freud.

2.3. Position zur Religion)

Während Freud zunächst seine 6 analytische Methode allein auf die Erklärung psychischer Störungen anwandte, ging er später dazu über, diese Erkenntnisse auch auf die „gesunde“ Psychologie anzuwenden, indem er die Traumdeutung und daraus eine „allgemeine“ Psychologie entwickelte. Er versuchte zu zeigen, dass die psychischen Vorgänge sowohl bei Gesunden als auch bei Kranken dieselben waren. Daraus entstand nach einigen Jahren die so genannte „psychoanalytische Kulturtheorie“, mit der auch die Entstehung von Religionen erklärt werden konnte.

Freud betrachtete die Kultur und die Religion als „Produkt menschlicher Triebe“, die nötig waren, um durch ihre Triebeinschränkungen bzw. ihren Triebverzicht ein Zusammenleben der Menschen bzw. die „Zivilisation“ des Menschen zu ermöglichen. Natürlich erntete Freud für diese Ansichten viel Widerspruch von Theologen, Philosophen und Kulturtheoretikern.

Freud war der Meinung, dass die Religion der menschlichen Kultur einen grossen Dienst erwiesen hätte und zwar in dreifacher Hinsicht: Sie half erstens die Gewalten der Natur zu bannen, zweitens sich mit der Grausamkeit des Schicksals (inklusive Tod) zu versöhnen und drittens für die Leiden und Entbehrungen des Lebens eine Entschädigung zu erhalten.

Im Laufe der Zeit wurde der dritte Punkt erweitert, indem die Religion die Mängel und Schäden der Kultur, die unweigerlich entstanden waren, ausglich. Dies hätte die Religion auch bis zum heutigen Tag tun können, wenn die Aufklärung nicht ermöglicht hätte, die Funktionalität von Religion zu durchschauen und dank der menschlichen Vernunft die von der Religion übernommenen Aufgaben an andere Institutionen zu delegieren, mit der Hoffnung, dass diese die Aufgaben besser erledigen als die Religion. Freud meinte vor allem die Naturwissenschaften, die Kunst und natürlich die Psychoanalyse. Die Naturwissenschaften könnten die erste Aufgabe der Religion, das Bannen der Natur, die Psychoanalyse die zweite Aufgabe, die Erziehung der Menschen und die Kunst die dritte Aufgabe, die Entschädigung für den Triebverzicht, übernehmen.7 )

Nachdem Freud die Religion auf diese Weise funktionslos gemacht hat, definiert er sie - wie die Religionskritiker Ludwig Feuerbach (1804-1872), Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Nietzsche (1844-1900) - als „Symptom einer tiefergreifenden Zwangsneurose mit paranoiden Zügen“.8 )

So hielt Freud die Religion für eine Wunschvorstellung und somit für eine Illusion, obwohl er ihr keinesfalls die Funktion einer „triebeinschränkende bzw. zivilisatorischen Instanz“ absprechen wollte, und fand, dass sie trotz allem kein stabiles Fundament der Kultur wäre und in Zukunft nicht mehr in der Lage wäre, diese Rolle weiterhin innezuhaben.

In dieser Hinsicht war er gleicher Meinung wie der Theologe Friedrich Schleiermacher in seinem Buch „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ aus dem Jahr 1799, in dem er „Religion“ unter anderem folgendermassen charakterisierte: „Sie begehrt nicht das Universum seiner Natur nach zu bestimmen und zu erklären wie Metaphysik, sie begehrt nicht aus Kraft der Freiheit und der göttlichen Willkür des Menschen es fortzubilden und fertig zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl“.9 )10 )

Deutlich werden all diese Theorien und Ansichten in fünf Werken, die Freud zum Thema Religion geschrieben hat. Im nächsten Kapitel werden diese Werke kurz zusammengefasst.

3. Freuds Schriften zum Thema Religion

Im Verlauf seines Lebens verfasste Freud unzählige Aufsätze und Bücher. Fünf davon konzentrierten sich auf das Thema „Religion“ und sind in diesem Zusammenhang besonders für die Religionspsychologie von Interesse. Der Aufsatz „Zwangshandlungen und Religionsübungen“ wurde 1907 im ersten Heft der „Zeitschrift für Religionspsychologie“ veröffentlicht. „Einige Jahre später (1913) hat Freud seinen Ansatz in einer umfassenderen Theorie erweitert und unter Bezug auf religionswissenschaftliches Material zu vertiefen versucht“ und zwar im Buch „Totem und Tabu“. Die Texte „Die Zukunft einer Illusion“, „Das Unbehagen in der Kultur“ und „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ entstanden später und präzisieren Freuds Gedanken an konkreten Problemstellungen.11 )12 )

3.1. Zwangshandlungen und Religionsübungen )

Zu Beginn dieses Aufsatzes stehen Erläuterungen 13 zu den Zwangshandlungen und zum so genannten „Zeremoniell“. Danach geht Freud auf den Sinngehalt von Zwangsneurosen und tieferen psychischen Prozessen ein. Zum Schluss zeigt er die Parallelen zwischen Zwangsneurose und Religiosität auf.

Freud erkennt Parallelen zwischen den Zwangshandlungen psychisch erkrankter Menschen und den religiösen Verrichtungen gläubiger Menschen. Es bestehen nicht nur oberflächliche Ähnlichkeiten, sondern auch die zugrundeliegenden Strukturen und Prozesse sind analog. Übereinstimmend geht es bei beiden Phänomenen um den „Verzicht auf die Betätigung von konstitutionell gegebenen Trieben“ (S. 139). Der Unterschied: Bei der Zwangsneurose sind die Triebe sexueller, bei der Religion egoistischer Natur.

Der Text will zeigen, dass die Ähnlichkeit zwischen den Zwangshandlungen Nervöser und Religionsübungen nicht nur oberflächlich ist, sondern auch tiefere Strukturen betrifft. Freud begründet die Analogien an einer Reihe von Beispielen und erklärt sie durch die Gemeinsamkeit konstitutionell gegebener Triebe; er argumentiert dabei theoretisch und nutzt Beispiele aus seiner Arbeit als Psychoanalytiker eher zur Veranschaulichung.

Folgende Argumentation und zentrale Aussagen werden im Text präsentiert:

- Erstens sind Merkmale des Zeremoniells (eine Form der Zwangsstörungen): Gewissenhaftigkeit der Ausführung; Angst bei der Unterlassung; Verbot der Störung. Das zeigt deutliche Ähnlichkeiten zu „heiligen Handlungen des religiösen Ritus“ (S. 131).

- Zweitens besteht ein wichtigster (scheinbarer) Unterschied: Das religiöse Zeremoniell ist sinnvoll und symbolisch gemeint. Freud zeigt jedoch an einigen Beispielen, dass auch Zwangshandlungen „sinnvoll“ (S. 136) und deutbar sind.

- Drittens beschreibt er den „Mechanismus der Zwangsneurose“ folgendermassen: Eine im Verlauf des Lebens unterdrückte Triebregung kommt in den Zwangshandlungen zum Ausdruck. Der Verdrängungsprozess ist jedoch unvollkommen, d.h. der Trieb wird als Versuchung empfunden. Verbote werden notwendig. Die Person steht unter der „Herrschaft eines Schuldbewußtseins“ (S. 135).

- Viertens geht es in der Religion weniger um den Verzicht auf sexuelle Triebregungen, sondern um egoistische, sozialschädliche Triebe. Schuldbewusstsein, Erwartungsangst und die Unvollständigkeit der Triebunterdrückung finden sich auch bei den Religionsübungen - ebenso die zunehmende „Verschiebung“ (S. 138) auf das Detail. Mit letzterem ist die Tendenz religiöser Handlungen gemeint, sich immer detaillierter und strenger an bestimmte Abläufe zu halten.

Dieser Text ist ein sehr frühes Werk von Freud. Man erkennt hier bereits, dass es sein Grundanliegen ist, in den oberflächlichen Parallelen zwischen „Nervösen“ und „Religiösen“ tiefere strukturelle Gemeinsamkeiten zu erkennen. Freuds Beitrag zur Religionspsychologie bzw. Religionswissenschaft ist es, dass er den Sinn und die Bedeutung der Religion aus der Psyche des Individuums zu erklären versucht.

3.2. Totem und Tabu )

Freuds Schrift „Totem und Tabu“ 14 fasst vier Aufsätze zusammen, die sich mit dem Totemismus, dem Tabu und dem Verhältnis der beiden Phänomene beschäftigen. Während das Tabu auch in der heutigen Gesellschaft noch fortbesteht, lässt sich der Totemismus als „religiös-soziale Institution“ (S. 4) nur noch in primitiven Kulturen beobachten. Freud versucht vor dem Hintergrund der Psychoanalyse, die beiden kulturellen Phänomene zu erklären, indem er sie auf eine gemeinsame Wurzel in der individuellen frühkindlichen Entwicklung zurückführt.

Der erste Aufsatz zur „Inzestscheu“ stellt anhand vielfältiger Beispiele die Vorkehrungen primitiver Kulturen vor, Inzest zu vermeiden, indem Regeln des Totemismus aufgestellt werden. Das totemistische Gebot der Exogamie ist die Antwort auf das Inzest-Tabu. Der zweite Aufsatz geht auf das „Tabu und die Ambivalenz der Gefühlregungen“ ein und weist auf Parallelen zwischen dem Tabu in primitiven Kulturen und den Zwangsstörungen neurotischer Patienten hin. Der dritte Text „Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken“ stellt den Animismus als ein Denksystem vor, das dem Totemismus und dem Tabu zugrunde liegt, und unterstreicht Gemeinsamkeiten mit dem frühkindlichen Denken. Die „mutigsten“ Versuche zur Erklärung des Ursprungs der Religionen formuliert Freud schliesslich im vierten Aufsatz über die „infantile Wiederkehr des Totemismus“.

3.2.1. Inzestscheu

Das Studium der primitiven Völker - z.B. der Ureinwohner Australiens - ermöglicht nach Freud ein tieferes Verständnis der heutigen zivilisierten Gesellschaften. „An Stelle aller fehlenden religiösen und sozialen Institutionen findet sich bei den Australiern das System des Totemismus“ (S. 6), das letztlich den Zweck erfüllt, Inzest zu verhüten. Der Totem stellt in den meisten Fällen eine Tierart dar (seltener etwa eine Pflanzenart), nach der sich eine Sippe benennt.

Innerhalb dieser Sippe sind sexuelle Beziehungen strengstens verboten. Verständlich wird das „scheinbare Übermaß von Inzestvermeidung“ (S. 13), wenn man die in einfachen Kulturen ursprünglich verbreitete Institution der Gruppenehe in Betracht zieht. Häufig gibt es zusätzlich zur Inzestvermeidung im engeren Sinne umfassendere „Vermeidungsgebote“.

Freud sieht Parallelen zwischen der grossen Bedeutung der Inzestvermeidung bei den wilden Völkern einerseits und den „inzestuösen Fixierungen der Libido“ (S. 24) im Seelenleben der Individuen andererseits - letztere lassen sich am Kind oder am Neurotiker beobachten.

3.2.2. Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlregungen

Der Begriff des Tabu vereinigt scheinbar einander entgegengesetzte Dinge wie „einerseits: heilig, geweiht, andererseits: unheimlich, gefährlich, verboten, unrein“ (S. 26). Das Besondere gegenüber religiösen oder moralischen Verboten ist: „Tabuverbote entbehren jeder Begründung; sie sind unbekannter Herkunft“ (S. 27). Aus dieser Eigenschaft des Tabu, einfach gegeben zu sein, leitet Freud die Erwartung ab, dass „die Aufklärung des Tabu ein Licht auf den dunklen Ursprung unseres eigenen ‚kategorischen Imperativs’ zu werfen vermöchte“ (S. 32).

[...]


1) http://www.vorlesungen.uzh.ch/FS09/lehrangebot/fak-50000001/sc-50306474/cg- 50306478/cg-50308305/sm-50358411.modveranst.html

2) http://www.vorlesungen.uzh.ch/FS09/lehrangebot/fak-50000001/sc-50306474/cg-50306478/cg-50308305/sm-50358411/e-50432191.details.html

3) Figl, Handbuch Religionswissenschaft, S. 28

4) Michaels (Zinser), Klassiker der Religionswissenschaft, S. 90-92, 96

5) Michaels (Zinser), Klassiker der Religionswissenschaft, S. 92-96

6) Michaels (Zinser), Klassiker der Religionswissenschaft, S. 94, 95

7) Henning et al., Einführung in die Religionspsychologie, S. 33

8) Henning et al., Einführung in die Religionspsychologie, S. 34

9) Schleiermacher, Über die Religion, S. 28, 29

10) Cancik et al. (Zinser), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, S. 95

11) Cancik et al. (Zinser), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, S. 94

12) Hock, Einführung in die Religionswissenschaft, S. 136

13) Freud, Zwangshandlungen und Religionsübungen, S. im Text

14) Freud, Totem und Tabu, S. im Text

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Sigmund Freud als Klassiker der Religionswissenschaft. Seine Leistungen und seine Rezeption
Hochschule
Universität Zürich  (Religionswissenschaftliches Seminar)
Veranstaltung
Proseminar „Systematische Religionswissenschaft“
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
25
Katalognummer
V338699
ISBN (eBook)
9783668281929
ISBN (Buch)
9783668281936
Dateigröße
511 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sigmund Freud, Religionswissenschaft, Rezeption, Klassiker
Arbeit zitieren
Christian Rossi (Autor:in), 2009, Sigmund Freud als Klassiker der Religionswissenschaft. Seine Leistungen und seine Rezeption, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/338699

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