Online Apotheke „Doc Morris“. Rechtssache C-322/01


Seminararbeit, 2013

29 Seiten, Note: Gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2. Die Grundfreiheiten
2.1 Warenverkehrsfreiheit
2.1.1 Zollunion gemäß Art 30 AEUV
2.1.2 Verbot mengenmäßiger Beschränkungen und aller Maßnahmen gleicher Wirkung gemäß Art 34 bis 36 AEUV
2.1.3 Umformung staatlicher Handelsmonopole gemäß Art 37 AEUV
2.2 Personenfreiheit
2.3 Dienstleistungsfreiheit
2.4 Kapitalverkehrsfreiheit

3 Doc Morris Entscheidung

4 Weitere Entwicklungen
4.1 Veränderungen in der deutschen Rechtslage
4.2 Situation in Österreich

5 Schlusswort

6 Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Die vorliegende Seminararbeit befasst sich mit dem am 11. Dezember 2003 in der Rechtssache „Doc Morris“ ergangenen Urteil des EuGH sowie den Veränderungen und weiteren Entwicklungen der rechtlichen Situation von Internetapotheken in Deutschland und in Österreich.

Bezugnehmend auf einschlägige Fachliteratur und Zeitschriften sowie Internetrecherche habe ich mich mit der in den letzten zehn Jahren immer größer werdenden Bedeutung des Internets als Vertriebsweg für den Kauf von Produkten und somit auch für den Erwerb von Arzneimitteln über Versandapotheken auseinandergesetzt.

Das erste Kapitel der Arbeit enthält eine Darstellung der europäischen Grundfreiheiten mit besonderem Schwerpunkt auf der Warenverkehrsfreiheit.

Aufbauend auf den gesetzlichen Grundlagen wird in weiterer Folge das Urteil „Doc Morris“ zusammengefasst und anschließend werden die darin vorkommenden Rechtsfragen erörtert. In diesem Urteil geht es um die Frage, ob ein nationales Verbot des Arzneimittelversandhandels und der Werbung für diesen mit der europarechtlichen Warenverkehrsfreiheit vereinbar ist oder dagegen verstößt.

Danach werden die weiteren Entwicklungen und Veränderungen in der deutschen Gesetzeslage seit der Urteilserlassung geschildert und es wird die derzeitige rechtliche Situation von Internetapotheken aufgezeigt.

Abschließend wird auf die österreichische Rechtslage Bezug genommen und es werden die geltenden Bestimmungen über den Versandhandel mit Arzneimitteln besprochen.

2. Die Grundfreiheiten

2.1 Warenverkehrsfreiheit

Die Warenverkehrsfreiheit ist in Art 28 bis 37 AEUV geregelt und zielt darauf ab, alle Behinderungen im innergemeinschaftlichen Handel zu beseitigen. Bis zum Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 waren die Bestimmungen über die Warenverkehrsfreiheit in den Art 23 bis 31 EG zu finden.

Es werden drei Bereiche erfasst, um einen freien Warenverkehr zu verwirklichen, nämlich Regelungen zur Errichtung einer Zollunion gemäß Art 30 AEUV, das Verbot mengenmäßiger Beschränkungen und aller Maßnahmen gleicher Wirkung in Art 34 bis 36 AEUV sowie Art 37 AEUV zur Abschaffung diskriminierender Praktiken staatlicher Handelsmonopole.[1]

2.1.1 Zollunion gemäß Art 30 AEUV

Durch Art 28 Abs 1 und Art 30 AEUV wird ein einheitliches Zollgebiet in der EU geschaffen, das bedeutet, die Mitgliedstaaten dürfen untereinander keine Ein- und Ausfuhrzölle (Binnenzölle) bzw. keine Abgaben gleicher Wirkung einheben und gegenüber Drittländern muss ein gemeinsamer Zolltarif bestehen.[2]

2.1.2 Verbot mengenmäßiger Beschränkungen und aller Maßnahmen gleicher Wirkung gemäß Art 34 bis 36 AEUV

Art 34 AEUV verbietet einem Mitgliedstaat der EU durch nationale Regelungen und Maßnahmen den Warenverkehr in der Union zu behindern. Solche nationalen Regelungen können in Form von mengenmäßigen Einfuhr- oder Ausfuhrbeschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten (Kontingentierungen, die die Einfuhr/Ausfuhr von Waren bis zu einer bestimmten Menge oder einem bestimmten Wert begrenzen) oder als vollständiges Ein- bzw. Ausfuhrverbot (Verbringungsverbot) auftreten oder eben auch − weniger offensichtlich verglichen mit mengenmäßigen Einfuhr- u. Ausfuhrbeschränkungen – als staatliche Maßnahmen mit gleicher den Warenverkehr behindernder Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen gemäß Art 34 AEUV.

Eine genaue Definition solcher Handelshemmnisse steht nicht im AEUV, sondern ergibt sich aus der Rechtsprechung des EuGH. Eine sehr wichtige und genaue Abgrenzung, was unter „Maßnahme gleicher Wirkung“ iSd Art 34 zu verstehen ist, gibt der EuGH in der Entscheidung Dassonville von 1974.[3] In dieser Entscheidung legt der EuGH fest, dass jede staatliche Regelung, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, als Maßnahme gleicher Wirkung iSd Art 34 AEUV zu sehen ist.

Es handelt sich um einen sehr weiten Tatbestand und um ein Beschränkungsverbot. Im Unterschied zu einem Diskriminierungsverbot, welches grundsätzlich verbietet, Personen oder Waren aufgrund ihrer Herkunft anders zu behandeln als inländische Personen oder Waren, sieht ein Beschränkungsverbot einen Eingriff in die Grundfreiheiten schon dann als gegeben an, wenn nationale Maßnahmen die Grundfreiheiten und ihre Ausübung behindern können − damit ergibt sich auch eine Umkehr der Beweislast. Während die Kommission oder der Unionsbürger in einem Verfahren die Diskriminierung nachzuweisen hat, muss der Staat den Verstoß gegen die Grundfreiheiten rechtfertigen.[4]

Mit der Entscheidung „Keck und Mithouard“[5] begrenzte der EuGH den durch die „Dassonville Formel“ entstandenen weiten Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit.[6] Der EuGH beschränkte den Tatbestand von Art 34 AEUV, indem er bezüglich Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen verkaufs- und produktbezogen Beschränkungen differenziert.

Verkaufsmodalitäten, die unterschiedslos für in- und ausländische Produkte gelten und sich auf den Absatz im betreffenden Mitgliedsstaat rechtlich wie tatsächlich gleich auswirken, sind vom Anwendungsbereich des Art 34 AEUV ausgenommen.

Verkaufsbezogene Beschränkungen regeln die Modalitäten, zu denen ein Produkt in einem Mitgliedstaat verkauft wird, beispielsweise Ladenöffnungszeiten. Nationale Regelungen über Verkaufsmodalitäten sind durch die Keck-Rsp vom Anwendungsbereich des Art 34 AEUV ausgenommen, sofern sie unterschiedslos für in- und ausländische Produkte gelten. Es darf also keine Diskriminierung gegeben sein. Als weiteres Kriterium verlangt der EuGH, dass diese verkaufsbezogenen Beschränkungen nicht den Marktzugang für ausländische Erzeugnisse versperren oder stärker behindern als für inländische. Sollte durch solche verkaufsbezogenen Regelungen der Absatz ausländischer Produkte stärker be- bzw. gänzlich verhindert werden, liegt eine faktische Diskriminierung vor und die Regelung ist weiterhin vom Tatbestand des Art 34 AEUV erfasst.

Diskriminierende, verkaufsbezogene Beschränkungen sieht der EuGH bei einem allgemeinen Werbeverbot in der Entscheidung „Gourmet International Products“[7], im Verbot der Fernsehwerbung[8] und beim Versandverbot für apothekenpflichtige Waren[9] gegeben.

Produktbezogene Regelungen betreffen das Erzeugnis selbst und nicht die Art des Verkaufes. Diese fallen in den Tatbestand des Art 34 AEUV und es gilt die „Dassonville Formel“ ohne „Keck-Ausnahme“. Zur Rechtfertigung eines Verstoßes gegen Art 34 AEUV ist Art 36 AEUV bzw. die „Cassis de Dijon“−Formel heranzuziehen.

Art 36 AEUV nennt als Rechtfertigungsgründe für einen Verstoß gegen Art 34 AEUV Beschränkungen, „ die aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sind.[10] Art 36 AEUV ist taxativ und nach Rsp des EuGH grundsätzlich eng auszulegen. Bei einer Rechtfertigung nach Art 36 AEUV ist immer der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren. Das bedeutet, dass die beschränkende Maßnahme geeignet, erforderlich und angemessen sein muss. Sie muss erforderlich sein, um das angestrebte Ziel zu erreichen und geeignet in diesem Sinn, dass kein gelinderes Mittel zur Zielerreichung zur Verfügung steht.

„Die Gesundheit und das Leben von Menschen nehmen nach der Rechtssprechung des EuGH unter den durch Art 36 AEUV geschützten Rechtsgütern den ersten Rang ein.“[11] Wenn bezüglich dieser Rechtsgüter noch keine vollständige Harmonisierung auf EU-Ebene getroffen wurde, können die Mitgliedsstaaten selbst bestimmen, in welchem Umfang sie den Schutz gewährleisten wollen. Allerdings müssen alle Untersuchungen und Analysen, die in anderen Mitgliedsstaaten durchgeführt wurden, berücksichtiget werden.

Als weitere Rechtfertigungsmöglichkeit von beschränkenden Maßnahmen nennt der EuGH in seiner Entscheidung „Cassis de Dijon“ die zwingenden Erfordernisse des Allgemeininteresses. Ist mangels Vorliegen der in Art 36 AEUV abschließend aufgezählten Schutzgüter keine Rechtfertigung möglich, kann sich ein Mitgliedsstaat auf diesen – vom EuGH in der „Cassis de Dijon“ Entscheidung entwickelten – Rechtfertigungsgrund berufen.

Unterschiedslos für in- und ausländische Produkte geltende, mittelbar diskriminierende Maßnahmen können also unter Umständen durch zwingende Erfordernisse gerechtfertigt sein. Wie der EuGH in der Rechtssache „Cassis de Dijon“ erklärt, sind innerstaatliche Handelshemmnisse hinzunehmen, wenn „sie notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichen Gesundheit, der Lauterkeit des Handelsverkehrs und des Verbraucherschutzes“ und damit ein „im allgemeinen Interesse liegendes Ziel, das den Erfordernissen des freien Warenverkehrs, der eine der Grundlagen der Gemeinschaft darstellt, verfolgt wird.“[12]

Es handelt sich hierbei um keine taxative Aufzählung, sondern in seiner weiteren Rsp zu diesem Thema hat der EuGH auch den Verbraucherschutz und die Gewährleistung von Grundrechten, den Umweltschutz und Wirtschafts-, sozial- oder kulturpolitische Maßnahmen im Allgemeininteresse als „zwingende Erfordernisse“ gesehen.[13] Auch bei diesem ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund gilt wie bei Art 36 AEUV der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die beschränkende Maßnahme muss zur Erreichung des genannten Zwecks erforderlich, angemessen und in Anbetracht aller geeigneten Mittel zur Zielerreichung dasjenige sein, das den Warenverkehr am wenigsten behindert.

2.1.3 Umformung staatlicher Handelsmonopole gemäß Art 37 AEUV

Um einen freien Warenverkehr zu ermöglichen, verpflichtet Art 37 AEUV die EU-Mitgliedstaaten zur Umformung staatlicher Handelsmonopole, die aufgrund ihres ausschließlichen Rechts die Ein- und Ausfuhr von Waren rechtlich oder tatsächlich kontrollieren, lenken oder beeinflussen können.

Die Mitgliedstaaten müssen eine „grundlegende Änderung der Einfuhr- und Vertriebssysteme sowie eine Abschaffung der Exklusivrechte“[14] vornehmen. Ein Verstoß gegen Art 37 AEUV kann aber gemäß Art 106 Abs 2 AEUV durch Verrichten einer Dienstleistung von allgemeinen wirtschaftlichen Interesse gerechtfertigt sein, wenn diese nur durch Gewähren ausschließlicher Rechte erfolgen kann und der freie Warenverkehr nicht in einem solchen Ausmaß beeinträchtigt wird, dass Interessen der EU entgegenstehen.[15]

2.2 Personenfreiheit

Diese umfasst die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit. Art 45 regelt die Arbeitnehmerfreizügigkeit und zielt ab auf „ die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.[16] In Art 45 Abs 4 AEUV findet sich ein Vorbehalt bezüglich Tätigkeiten der öffentlichen Verwaltung, diese sind ausgenommen von der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Art 49 AEUV gewährleitstet Staatsangehörigen, sowohl natürlichen Personen als auch juristischen eines Mitgliedstaates, sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedsstaates frei niederzulassen. Sowohl natürliche Personen als auch juristische Personen haben das Recht auf „ Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von Gesellschaften.[17]

Art 51 AEUV normiert eine Ausnahme für Tätigkeiten in Ausübung hoheitlicher Verwaltung. Verstöße können durch den Vorbehalt der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit in Art 52 AEUV gerechtfertigt sein oder durch zwingende Erfordernisse.

2.3 Dienstleistungsfreiheit

Die Bestimmungen Art 56 bis 62 AEUV ermöglichen einen freien Dienstleistungsverkehr innerhalb der EU. Laut Art 62 AEUV sind Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt in einem Mitgliedstaat zusammenhängen, ausgenommen. Verstöße gegen die Dienstleistungsfreiheit können durch Art 62 AEUV, der auf Art 52 AEUV verweist oder durch „zwingende Erfordernisse“ iSd „Cassis de Dijon“−Formel gerechtfertigt sein.

2.4 Kapitalverkehrsfreiheit

Die Regelungen über die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit sind in Art 63 bis 66 AEUV zu finden. Nationale Bestimmungen, die den internationalen Kapital- und Zahlungsverkehr unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell behindern, stellen einen Eingriff in diese Grundfreiheit dar, auch ist eine Rechtfertigung aus bestimmten in Art 64 bis 66 AEUV genannten Gründen oder durch „zwingende Erfordernisse“ möglich.

3 Doc Morris Entscheidung

Im folgenden Text wird die Entscheidung „Doc Morris“ zusammengefasst.[18]

Das Urteil des EuGH in der Rechtssache „Doc Morris“ erging am 11. Dezember 2003 nach einem Vorabentscheidungsverfahren − vorgelegt durch das Landesgericht Frankfurt am Main, aufgrund eines dort anhängigen Rechtsstreits zwischen dem deutschen Apothekerverband als Kläger und als Beklagte das Unternehmen „Doc Morris“ und dessen gesetzlicher Vertreter und dort bis 2001 tätigen Geschäftsführer.

Die Situation zum damaligen Zeitpunkt war folgende: Die Firma „Doc Morris“ betrieb sowohl traditionelle Apotheken in den Niederlanden und bot zudem Arzneimittel über seine Internetseite zum Kauf an.

Kunden konnten verschreibungspflichtige wie nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel bestellen und erhielten diese dann über Versandweg und durch Kurierdienst an die genannte Adresse geliefert.

Der Internetauftritt von „Doc Morris“ erfolgte in deutscher Sprache. Es wurden nur Arzneimittel angeboten, die entweder in Deutschland oder in den Niederlanden zugelassen waren. Verschreibungspflichtige Medikamente wurden erst nach Vorlage des Originalrezeptes geliefert, wobei bezüglich Verschreibungspflicht die jeweils strengeren Regeln − verglichen zwischen Herkunftsland und Bestimmungsland der Lieferung − einzuhalten waren. Bei Fragen konnten sich Kunden über Telefon oder E-Mail von Apothekern des Unternehmens beraten lassen.

Der deutsche Apothekerverband hatte Klage beim Landesgericht Frankfurt am Main eingebracht, weil er der Ansicht war, dass dieser Versandhandel und das Anbieten von Medikamenten auf einer Internetseite gegen das deutsche Arzneimittelgesetz (AMG) und das Heilmittelwerbegesetz (HWG) verstoßen.

Nach § 43 Abs 1 AMG war der Versandhandel mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln verboten. Gemäß § 73 Abs 1 AMG durften „Arzneimittel, die der Pflicht zur Zulassung oder zur Registrierung unterliegen, ... in den Geltungsbereich dieses Gesetzes ... nur verbracht werden, wenn sie zum Verkehr im Geltungsbereich dieses Gesetzes zugelassen oder registriert oder von der Zulassung oder der Registrierung freigestellt sind und der Empfänger in dem Fall des Verbringens aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum pharmazeutischer Unternehmer, Großhändler oder Tierarzt ist oder eine Apotheke betreibt.“[19]

Nach § 73 Abs 2 Nummer 6a AMG waren Arzneimittel, die im Herkunftsland in Verkehr gebracht werden dürfen und ohne gewerbs- oder berufsmäßige Vermittlung in einer dem üblichen persönlichen Bedarf entsprechenden Menge aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder einem anderen Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum bezogen werden, vom Verbot in § 73 Abs 1 AMG ausgenommen.

§ 3a HWG verbietet Werbung für Arzneimittel, die zulassungspflichtig sind, und (noch) nicht zugelassen wurden.

Nach § 8 HWG ist jede Werbung die darauf abzielt, Arzneimittel, deren Verkauf Apotheken vorbehalten ist, über Versandhandel zu erwerben, untersagt.

§ 10 Abs 1 HWG bestimmt, dass für verschreibungspflichtige Arzneimittel nur bei Ärzten, Zahnärzten, Tierärzten, Apothekern und Personen, die mit diesen Arzneimitteln erlaubterweise Handel treiben, geworben werden darf.

Der deutsche Apothekerverband sah die Tätigkeit von „Doc Morris“ mit den Bestimmungen im AMG und im HWG unvereinbar, das niederländische Unternehmen hingegen war der Auffassung, dass jene Verbote im deutschen Recht gemeinschaftswidrig seien.

Im Vorlageersuchen des Landesgerichts Frankfurt am Main an den EuGH wurden daraufhin folgende Problemstellungen zur Vorabentscheidung gemäß Art 234 EG vorgelegt:

- „Verstößt eine nationale Regelung, nach der die gewerbsmäßige grenzüberschreitende Einfuhr von apothekenpflichtigen Humanarzneimitteln im Wege des Versandhandels durch zugelassene Apotheken aus anderen Mitgliedstaaten aufgrund individueller Bestellungen von Endverbrauchern per Internet untersagt ist, gegen die Grundsätze des freien Warenverkehrs nach Art 28 ff EG?“[20]
- Ist ein solches nationales Verbot eine Maßnahme gleicher Wirkung nach Art 28 EG?
- Wenn ein Verstoß gegen Art 28 EG vorliegt, ist ein solcher gemäß Art 30 EG zu rechtfertigen als für den Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen notwendig?
- Macht es bei der Antwort auf jene oben gestellten Fragen einen Unterschied, wenn es sich um den Import von Arzneimitteln handelt, die von der liefernden Apotheke zuvor von Großhändlern aus jenem Mitgliedsstaat, in den sie nun reimportiert werden, erworben wurden?
- Ist ein nationales Werbeverbot für den Versandhandel von Arzneimitteln mit den Art 28 und 30 EG vereinbar, insbesondere stellt sich die Frage, ob eine Internetseite mit Onlinebestellmöglichkeit als verbotene Werbung zu sehen ist?
- Verlangt der Grundsatz der Warenverkehrsfreiheit solche Internetauftritte von Apotheken unter Beachtung von Art 1 Abs 3 der Richtlinie 2000/31 vom Begriff der Öffentlichkeitswerbung in Sinne des Art 3 Abs 1 der Richtlinie 92/28 auszunehmen, um das Angebot bestimmter Dienstleistungen zu ermöglichen? Art 3 Abs 1 der Richtlinie 92/28 verbietet die Öffentlichkeitswerbung für Arzneimittel, die nur auf ärztliche Verschreibung abgegeben werden dürfen. Die Richtlinie 2000/31 soll nämlich den freien Verkehr von Diensten der Informationsgesellschaft zwischen den Mitgliedsstaaten gewährleisten.

Bei der Beantwortung dieser vorgelegten Fragen, unterscheidet der EuGH zwischen in Deutschland zugelassenen und nicht zugelassenen und zwischen verschreibungspflichtigen und nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln.

Bezüglich in Deutschland nicht zugelassener Medikamente verbietet § 73 Abs 1 AMG die Einfuhr und das Inverkehrbringen in deutsches Hoheitsgebiet. Art 3 der Richtlinie 65/66, der später durch Art 6 Abs 1 des Gemeinschaftskodex ersetzt wurde, bestimmt, dass Arzneimittel, die in einem Mitgliedstaat zugelassen sind, nur dann in einem anderen Mitgliedstaat in Verkehr gebracht werden dürfen, wenn sie entweder durch die zuständige Behörde des Mitgliedsstaates oder aufgrund von Gemeinschaftsbestimmungen eine Genehmigung erhalten haben.

Der EuGH sieht daher das Verbot in § 73 Abs 1 AMG, nicht zugelassene Arzneimittel in Verkehr zu bringen, als mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar und keinen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit in Form einer „Maßnahme gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen“ gegeben. Vielmehr kommt mit dieser Bestimmung Deutschland seinen Verpflichtungen aus der Richtlinie 65/66 und dem Gemeinschaftskodex nach. Das Verbot habe auch den Zweck, eine Umgehung der Zulassungspflicht zu hindern, die sonst wirkungslos wäre, da es ausreichen würde, die Genehmigung für den Vertrieb von Arzneimitteln in jenem Mitgliedstaat mit den am wenigsten strengen Vorschriften zu erhalten, um anschließend diese Produkte in anderen Mitgliedstaaten in Verkehr zu bringen.

In Bezug auf in Deutschland zugelassene Arzneimittel hatte der EuGH mehrere Fragestellungen zu prüfen, zuerst ob das in § 43 Abs 1 AMG festgelegte Verbot, Arzneimittel, die in Deutschland ausschließlich in Apotheken verkauft werden dürfen, im Versandhandel zu vertreiben, eine Maßnahme gleicher Wirkung im Sinne des Art 28 EG sei und ob im gegebenen Fall eine Rechtfertigung möglich wäre.

In den vor dem Urteil ergangenen Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten des Vorabentscheidungsverfahrens wurden folgende Meinungen vertreten:

Der deutsche Apothekerverband und die Kommission, unterstützt von der deutschen, der französischen, der griechischen und der österreichischen Regierung, sahen keinen Verstoß gegen die Warenverkehrsfreiheit gegeben, da sich das Verbot in § 43 Abs 1 AMG „auf die Vermarktung inländischer und aus anderen Mitgliedsstaaten stammender Erzeugnisse rechtlich wie tatsächlich gleich auswirke;

[...]


[1] Vgl Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union4 (2010) 378.

[2] Vgl ebenda 378.

[3] EuGH Rs 8/74, Slg 1974, 847.

[4] Vgl Thiele, Europarecht 9 ( 2012) 202.

[5] EuGH C-267/91 und C-268/91, Slg 1993, I-6097.

[6] Vgl Thiele, Europarecht 9 214.

[7] EuGH C-405/98, Gourmet International Products, Sgl 2001, I-1795.

[8] EuGH C-34/95 – C-36/95, de Agostini, Slg 1997, I-3843 Rdn. 42.

[9] EuGH C-322/01, Doc Morris, Slg. 2003, I-14887 Rdn. 68.

[10] Art 36 AEUV, zitiert nach Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union4 403 (Hervorh. d. Verf.).

[11] Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union4 405 (Hervorh. d. Verf.).

[12] EuGH Slg 1979, 649, zitiert nach Thiele, Europarecht 9 218.

[13] Vgl. Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union4 401 f.

[14] Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union 4 412 (Hervorh. d. Verf.).

[15] Vgl ebenda 413.

[16] Ebenda 414 (Hervorh. d. Verf.).

[17] Ebenda 415 (Hervorh. d. Verf.).

[18] EuGH C-322/01, Doc Morris, Slg 2003, I-14887.

[19] EuGH C-322/01, Doc Morris, Slg 2003, I- 14887 Rdn 26.

[20] EuGH C-322/01, Doc Morris, Slg 2003, I- 14887 Rdn 44.

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Online Apotheke „Doc Morris“. Rechtssache C-322/01
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Arbeits- und Sozialrecht)
Veranstaltung
Diplomandenseminar "Europäisches Arbeits- und Sozialrecht"
Note
Gut
Autor
Jahr
2013
Seiten
29
Katalognummer
V338531
ISBN (eBook)
9783668283909
ISBN (Buch)
9783668283916
Dateigröße
614 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Doc Morris, Internetapotheken, Versandhandel, Arzneimitteln, Rechtssache C-322/01, Versandapotheken
Arbeit zitieren
Amanda Reiter (Autor:in), 2013, Online Apotheke „Doc Morris“. Rechtssache C-322/01, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/338531

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Online Apotheke „Doc Morris“. Rechtssache C-322/01



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden