Zur Stellung von Kunst und Kultur in der Gesellschaft. Eine soziologische Analyse des Theaterpublikums


Hausarbeit, 2014

17 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Warum Theater?

3. Bildung und Kunst

4. Zum Privileg des Genusses

5. Aneignungsweisen von Kunst

6. Wir alle spielen Theater?

7. Zusammenführung und Schlusswort

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das Drama auf der Bühne ist erschöpfender als der Roman, weil wir alles sehn, wovon wir sonst nur lesen“, dieses Zitat von Franz Kafka beschreibt recht deutlich, welchem Aspekt von Attraktivität das Theater unterliegt. Menschen gehen in das Theater um sich der Unterhaltung des Schauspiels hinzugeben, um es genauer mit den Worten von Bertold Brecht zu sagen: „Seit jeher ist es das Geschäft des Theaters wie aller anderen Künste auch, die Leute zu unterhalten.“ (Brecht 1967, S. 663). Das Theater nimmt im Bereich der Kunst eine gewisse Position in unserer Gesellschaft ein, die wohl vor allem mit dem Zwecke der Unterhaltung in Verbindung gebracht wird. Doch wie kommt es, dass sich das Theater über die Zeit von seinen historischen Anfängen bis heute einer so starken Präsenz bedienen konnte? Hierzu ist zunächst zu bedenken, dass das Theater ebenso wie alle anderen Betriebe und Unternehmen den wirtschaftlich- ökonomischen Regeln unterliegt. So stellt es z B. genauso wie diese Arbeitsplätze wie die des Regisseurs oder des Schauspielers bereit, die für ihre Arbeit entlohnt werden. Es kann nicht nur alleine von seinen Aufführungen und der Schauspielkunst seiner Akteure als Institution und Kulturbetrieb „überleben“. Eine genauso wichtige vielleicht sogar noch wichtigere Rolle nimmt hierbei das Publikum ein, denn ohne dieses wäre eine Vorstellung undenkbar – man bedenke alleine die Eintrittspreise, welche für eine jede Aufführung zu entrichten sind, damit sich das ökonomische Rad des Theaters als Kulturbetrieb weiterhin drehen kann. Doch aus welchen Personen bzw. welchen Gruppen von Menschen setzt sich dieses Publikum zusammen? Diese Frage mit der schlichten Antwort des Kunstinteresses zu beantworten wäre zu banal. Denn wer gilt als Kunst interessiert und wer nicht? Wie kommt dieses Interesse zu Stande? Und welche Unterschiede sind dabei zu verorten? Diese Fragen sollen im weiteren Verlauf dieser Arbeit anhand der Analysen des Soziologen Pierre Bourdieu untersucht werden. Anschließend daran soll versucht werden eine Verbindung zu dem Werk „Wir alle spielen Theater“ von Erving Goffman hergestellt zu werden. Doch zunächst soll ein kurzer Einblick in den Gegenstand des frühen, klassischen Theaters gewährleistet werden.

2. Warum Theater?

„Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch die Freude die jedermann an Nachahmungen hat“ (Aristoteles, S. 11).

Mit diesem Zitat behauptet Aristoteles, dass zum einen die Übernahme von bestimmten Handlungen und Verhaltensweisen, welche dem Menschen seit seiner Geburt zugrunde liegen, sowie die dabei empfundene Freude die zwei ausschlaggebenden Ereignisse waren, welche zur Bildung der Dichtkunst und des Schauspiels im Theater geführt haben. Das Nachahmen von bestimmten Handlungen anderer Personen in der eigenen Kindheit befähigt ein Kind z. B. erst dazu ein Verständnis dafür zu bekommen, wie viele Dinge in unserer Gesellschaft funktionieren - es dient somit ebenso als Lernprozess. Theater dient jedoch vor allem dem Zwecke der Unterhaltung, wie Bertold Brecht schreibt: „Theater besteht darin, daß lebende Abbildungen von überlieferten oder erdachten Geschehnissen zwischen Menschen hergestellt werden, und zwar zur Unterhaltung.“ (Brecht 1967, S. 663). Doch was macht das Theater so unterhaltsam für den Zuschauer auf seinem Platz vor der Bühne? Aristoteles schreibt hierzu: „Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z. B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen.“ (Aristoteles, S. 11). Der Zuschauer kann also von seiner Position aus die Rolle eines distanzierten Beobachters einnehmen und ist sich dessen bewusst, dass das, was sich vor ihm auf der Bühne abspielt, eben nur ein Schauspiel ist, welches keinerlei Konsequenzen für die Realität hat. Intrigen, Mord und Totschlag auf der Bühne wirken z. B. deshalb so interessant und unterhaltsam für den Zuschauer, weil der normale Bürger eher selten einer Konfrontation mit solchen Ereignissen in der Realität ausgesetzt ist. Kompliziert wird eine solche Form der Darstellung jedoch dann, wenn für den Rezipienten nicht mehr eindeutig klar ist, was auf der Bühne Realität ist und was Fiktion. Ein Beispiel hierfür ist die Aufführung „Lips of Thomas“ vom 24. Oktober 1975 in der Galerie Krinzinger in Innsbruck von der jugoslawischen Künstlerin Marina Abramovic. In dieser Vorstellung entledigte sie sich ihrer Kleidung und unterzog sich einer Art Selbstfolter auf der Bühne vor dem Publikum. „Sie mißhandelte ihren Körper unter entschiedener Mißachtung seiner Grenzen“ (Fischer-Lichte 2004, S. 10). Dies führte soweit, dass einzelne Zuschauer schockiert von der Szene die sich ihnen darbot in das Geschehen auf der Bühne eingriffen und Abramovic von ihrer Selbstgeißelung abhielten. An diesem Beispiel wird deutlich, dass sobald sich Realität und Fiktion auf der Bühne im Schauspiel vermischen und für den Zuschauer nicht mehr klar differenzierbar sind ein Konflikt auftritt. „Abramovic schuf in und mit ihrer Performance eine Situation, welche die Zuschauer zwischen die Normen und Regeln von Kunst und Alltagsleben, zwischen ästhetische und ethische Postulate versetzt“ (Fischer-Lichte 2004, S. 11).

3. Bildung und Kunst

Wie unterscheidet sich die Kunstwahrnehmung von Mitgliedern in der Gesellschaft? Die folgende Analyse erfolgt basierend auf den Untersuchungen des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Bourdieu geht in seinen Analysen davon aus, dass jedem Kunstwerk ein sogenannter Code zugrunde liegt, welchen es zu entschlüsseln bzw. zu decodieren gilt . Das Werkzeug, welches hierfür zur Decodierung eines jeden Kunstwerkes benötigt wird, bezeichnet er dabei als einen Schlüssel. Er geht im Weiteren davon aus, dass jede Betrachtung von Kunstwerken eine bewusste oder eine unbewusste Dekodierung innehat. (vgl. Bourdieu 1974, S. 159). Er differenziert somit zwei Arten von Decodierung:

„Eine erste Dekodierung, die sich unbewußt vollzieht. Ein unmittelbares und adäquates Verstehen wäre daher nur in dem speziellen Fall möglich und gewährleistet, in dem der kulturelle Schlüssel, der diese Dekodierung ermöglicht, dem Betrachter (aufgrund seiner Kompetenz oder seines Rezeptionsvermögens) unmittelbar und vollständig verfügbar wäre und mit dem kulturellen Code übereinstimmte, der dem betreffenden Werk zugrunde liegt“ (Bourdieu 1974, S. 159).

Jeder Betrachter eines Kunstwerkes interpretiert also mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln das vorliegende Werk, zunächst passiert dies unbewusst. Verfügt der Betrachter über genügend Kenntnisse, sogenannte Schlüsselqualifikationen, dann ist es ihm möglich, eine angemessene und zutreffende Interpretation des Werkes vorzunehmen, der Schlüssel passt sozusagen in das zugehörige Schloss. Falls diese Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt sind, kommt es zu Komplikationen . Die Illusion des Betrachters zu Glauben er verstünde den Sinngehalt bzw. er wisse das Kunstwerk angemessen zu interpretieren und somit zu decodieren führt zu einem illusorischen Verständnis des Werkes, welches durch einen falsch gewählten Schlüssel zustande kommt. Menschen, die nicht über die benötigten Kompetenzen einer solchen Entschlüsselung verfügen, wenden somit unbewusst denjenigen Schlüssel auf Erzeugnisse einer fremden ihnen unbekannten Tradition an, welcher für die alltägliche Wahrnehmung und somit für die Entschlüsselung der ihnen vertrauten Gegenstände zur Verfügung steht. (vgl. Bourdieu 1974, S. 161). Die Verwendung eines falsch gewählten Schlüssels kommt durch die Annahme zustande, dass das vorliegende Kunstwerk nicht codiert sei, der Aspekt, dass eine andere Art von Codierung vorliegen könnte wird dabei missachtet. Bei der zweiten Art der Decodierung nach Bourdieu handelt es sich um die bewusste Decodierung. Dem Rezipienten ist dabei bewusst, wie er das vorliegende Bild oder Theaterstück zu interpretieren hat, weil er über die nötigen Kompetenzen (Wissen) zur richtigen Entschlüsselung des Codes verfügt, er ist sozusagen im Besitz des passenden Schlüssels. Das Wissen, sowie das Nichtwissen um das Vorhandensein eines solchen Codes sowie deren Entschlüsselung sind durchaus dafür ausschlaggebend, wie ein Rezipient ein Kunstwerk bewertet. Man stelle sich vor, ein Besucher eines Theaters oder einer Kunstausstellung betrachte ein Kunstwerk oder schaue sich eine Aufführung an und stelle dann mit den Worten: „Das hätte ich auch machen können“ fest, dass er keinerlei Sinn in diesem Werk erkennen kann, weil er nicht über den Schlüssel und das Wissen verfügt, welches nötig wäre, um den wahren Code zu entschlüsseln. Dies könnte folglich durchaus Auswirkungen darauf haben, ob er sich weiterhin in Kunstausstellungen oder Theateraufführungen begibt, zumindest in solche desselben Künstlers.

„Überschreitet die Botschaft seine Verständnismöglichkeiten oder geht, genauer gesagt, der Code des Werkes aufgrund seiner Finesse und Komplexität über den Code des Betrachters hinaus, so hat dieser gewöhnlich kein Interesse an etwas, das ihm als ein Wirrwar ohne Sinn und Fug erscheint, als ein Spiel von Klängen oder Farben ohne jede Notwendigkeit“ (Bourdieu 1974, S. 177).

Dem Problem dieser fehlenden Kompetenzen zur Entschlüsselung kann dabei entweder durch eine Verminderung des Emissionsniveaus des Kunstwerkes oder durch eine Erhöhung des Rezeptionsniveaus des Rezipienten entgegengewirkt werden. Dabei besteht die einzige Möglichkeit einer Verminderung des Emissionsniveaus darin, mit dem Kunstwerk zugleich auch den Code zu liefern, welcher zur Entschlüsselung erforderlich ist, z. B. in verbaler oder grafischer Form (vgl. Bourdieu 1974, S. 177). Bourdieu begründet das Problem des falsch angewandten Codes zur Entschlüsselung mit der unterschiedlichen Verteilung von Kapital in der Gesellschaft. Hierbei unterscheidet er zwischen ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital. Als ökonomisches Kapital werden hauptsächlich materielle Ressourcen verstanden wie z. B. Besitz, Eigentum oder Einkommen. Bei sozialem Kapital handelt es sich um „(…) Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.“ (Bourdieu 1983, S. 191). Unter kulturellem Kapital versteht er das Bildungskapital, also diejenigen Wissensbestände und Fertigkeiten, welche durch Sozialisation zustande kommen und für das jeweilige Herkunftsmilieu typische Umgangsformen, sowie Verhaltensweisen darstellen (vgl. Bourdieu 1983, S. 186 ff.). Kapital, und somit auch Bildung ist in unserer Gesellschaft ungleich verteilt, so gibt es Menschen mit einem höheren Grad und Menschen mit einem niedrigeren Grad an Bildung. Er behauptet, dass diejenigen Personen, die der untersten Bildungsschicht unserer Gesellschaft zugehörig sind viel stärker dazu neigen, eine realistischere Darstellung von Kunst zu fordern, weil sie nicht über die entsprechenden Wahrnehmungskategorien verfügen. Aufgrund dieses Mangels tendieren sie vielmehr dazu, den ihnen bekannten Schlüssel anzuwenden, mit dessen Hilfe sie die Gegenstände ihres Alltags zu entschlüsseln wissen (vgl. Bourdieu 1974, S. 162). Die Gebildeten halten dagegen die Wahrnehmungsweise, die für eine solche Decodierung benötigt wird für natürlich, (d. h. zugleich selbstverständlich und quasi in der Natur begründet) (vgl. Bourdieu 1974 S. 163). Dem ist jedoch nicht so, weil diese Wahrnehmungsweise: „(…) doch nur eine unter anderen möglichen ist und durch eine mehr oder weniger dem Zufall überlassene oder zielgerichtete, bewußte oder unbewußte, institutionalisierte oder nicht institutionalisierte Erziehung erworben wird“ (Bourdieu 1974, S. 163). Menschen, die aus einer bildungsärmeren Schicht stammen verfügen somit nicht über die gleichen Kompetenzen zur Decodierung eines Kunstwerkes, weil sie diese Fähigkeiten nicht seit ihrem Kindesalter bewusst oder unbewusst institutionalisieren und somit verinnerlichen konnten. Es hat somit keine Habitualisierung der benötigten Kompetenzen stattgefunden (auf den Begriff des Habitus soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden). So ist anzunehmen, dass Kinder, welche aus einem Elternhaus stammen, in denen sich einer oder beide Elternteile stark für Kunst und Kultur interessieren, auch selbst ein größeres Interesse dafür haben. Im Gegensatz dazu werden Kinder, welche aus einem Elternhaus stammen, in dem sich keiner der beiden Elternteile für Kunst und Kultur interessiert auch ein dementsprechendes Defizit um das Wissen in solchen Fachbereichen vermerken und seltener Museen, Kunstausstellungen und Theater besucht haben. Diese Ungleichheit soll durch den Kunstunterricht in der Schule beglichen werden können.

„Selbst wenn [die Schule] weder eine spezifische Anregung zur kulturellen Praxis noch ein Arsenal zusammenhängender und z. B. spezifisch auf Werke der Bildhauerei zugeschnittener Begriffe liefert, flößt sie doch eine bestimmte Vertrautheit mit der Welt der Kunst ein (die konstitutiv ist für das Gefühl, zur gebildeten Klasse zu gehören), so daß man sich in ihr zu Hause und unter sich fühlt, als sei man der prädestinierte Adressat von Werken, die sich nicht dem ersten besten ausliefern“ (Bourdieu 1974, S. 185 ff.)

[...]

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Zur Stellung von Kunst und Kultur in der Gesellschaft. Eine soziologische Analyse des Theaterpublikums
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Soziologie)
Veranstaltung
Theorie 2
Note
2,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
17
Katalognummer
V338310
ISBN (eBook)
9783668277861
ISBN (Buch)
9783668277878
Dateigröße
535 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Theater, Goffman, Kunst, Gesellschaft, Soziologie
Arbeit zitieren
Christian Rauschert (Autor:in), 2014, Zur Stellung von Kunst und Kultur in der Gesellschaft. Eine soziologische Analyse des Theaterpublikums, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/338310

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