Die Küstenprovinzen als Zentren der wirtschaftlichen Reformpolitik in China - Politische Ziele und Risiken der ungleichen Entwicklung


Diplomarbeit, 2004

94 Seiten, Note: 2,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Führungswandel
2.1 Führungsgenerationen und Wandel im Führungsstil
2.1.1 Führungsgenerationen
2.1.2 Informelle Machtstrukturen und Beziehungsnetzwerke
2.1.3 Einfluss der Technokraten
2.1.4 Zwischenfazit
2.2 Decision Making und Formalisierung
2.2.1 Entscheidungsfindung und Durchsetzung
2.2.2 Einflussfaktoren auf Entscheidungen
2.2.3 Zwischenfazit
2.3 Regionalismus
2.3.1 Gründe für eine stärkere Regionalisierung
2.3.2 Verhältnis zwischen Zentralregierung und Provinzen
2.3.3 Der Einfluss der Provinzen in der Zentralregierung
2.3.4 Zwischenfazit

3 Reformen
3.1 Grundsätzliche Reformen
3.1.1 Ausgangslage vor
3.1.2 Erste Reformen - Ziele und Inhalte
3.1.3 Zwischenfazit
3.2 Küstenentwicklung
3.2.1 Gezielte Küstenförderung
3.2.2 Gründe für eine einseitige Förderung
3.2.3 Fortschritt und Entwicklung der Reformen
3.2.4 Zwischenfazit
3.3 Wirtschaftliche und politische Freiheiten
3.3.1 Wirtschaftliche Effekte der Reform
3.3.2 Veränderte Einstellung der Politik
3.3.3 Wandel in der Bevölkerung
3.3.4 Zwischenfazit

4 Risiken und Probleme der Reformpolitik
4.1 Kontrolle der Wirtschaftsentwicklung
4.1.1 Inflation und Wirtschaftsentwicklung
4.1.2 Korruption
4.1.3 Kontrollverlust der Partei
4.1.4 Zwischenfazit
4.2 Regionale Verteilung
4.2.1 Verteilung von Ressourcen und Investitionen
4.2.2 Regionale Konflikte und Lokalprotektionismus
4.2.3 Steuersystem
4.2.4 Zwischenfazit
4.3 Soziale Verwerfungen
4.3.1 Eiserne Reisschüssel und Arbeitslosigkeit
4.3.2 Migrationsproblematik
4.3.3 Zwischenfazit

5 Schlussbetrachtung

6 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Wenn im Jahr 2008 die Olympischen Spiele in Beijing stattfinden, wird China einer breiten Masse von Menschen vor Augen geführt werden, die dieses riesige und bevölkerungsreichste Land der Erde bisher kaum wahrgenommen haben. So ist nicht nur durch die räumliche Distanz kaum etwas von diesem Land bekannt, sondern auch Schlagzeilen über China findet man in der Presse recht selten. Die Punkte, in denen China immer wieder einmal ins Kreuzfeuer gerät, beschränken sich meist auf die Verletzung der Menschenrechte und gelegentlich auf ein außerordentliches Wirtschaftswachstum.

Doch gerade das Wirtschaftswachstum ist es, welches bei Analysten und Unternehmern schon länger das Interesse für China geweckt hat, da es neue Märkte eröffnet und China in der Weltwirtschaft zu einem Partner geworden ist, der als Handelspartner durchaus ernst zu nehmen ist. Die Financial Times Deutschland schreibt in ihrem China Special in diesem November:

„China ist zu einem Global Player geworden. Das Land spielt eine aktive Rolle in internationalen Organisationen von UNO bis WTO. Seine Unternehmen expandieren ins Ausland, das Auf und Ab seiner ökonomischen Entwicklung betrifft unmittelbar die gesamte Weltwirtschaft.“[1]

Der Blick von Analysten, Anlegern und Unternehmern richtet sich nach Wirtschaftsdaten und Wachstumsentwicklung und sieht sich einem China gegenüber, das in seiner jetzigen Form noch gar nicht lange existiert und dessen Entwicklung bei Weitem noch nicht abgeschlossen ist.

In jeglicher Hinsicht war seine Entwicklung bis heute außergewöhnlich und hat gerade in der Phase der wirtschaftlichen Reformen im Transformationsprozess beträchtliche chinesische Eigenheiten hervorgebracht, die eine differenzierte Betrachtung erforderlich machen.

Die hier vorliegende Arbeit mit dem Titel: „Die Küstenprovinzen als Zentren der wirtschaftlichen Reformpolitik in China. Politische Ziele und Risiken der ungleichen Entwicklung“ betrachtet daher im Wesentlichen die Entwicklung der wirtschaftlichen Reformen und berücksichtigt dabei besonders die Zentren derselben, die hauptsächlich in den Küstenprovinzen zu finden sind, wobei in diesem Zusammenhang die politischen Ziele auf dem Reformweg und Risiken der ungleichen Förderung und Entwicklung gerade dieser Gebiete behandelt werden soll.

Die Chinaforschung seit Beginn der Reformära, die eine Zäsur in der Geschichte Chinas darstellt, hat die wirtschaftlichen und politischen Themenkomplexe oftmals vereint, da die wirtschaftlichen Reformen und die politischen Veränderungen hier fast immer untrennbar ineinander greifen und der Transformationsprozess des Landes sich auf nahezu alle Bereiche des Lebens und der Wirtschaft auswirkt.

Während in Deutschland die wissenschaftliche Betrachtung Chinas zumeist von Sinologen mit eher historischer Ausrichtung betrieben wird, hat sich im englischsprachigen Raum eine breite wirtschafts- und politikwissenschaftliche Betrachtungsweise herausgebildet, die eine wesentlich differenziertere Bearbeitung von Themen bietet und tiefer in einzelne Problemfelder eindringt. Hier sind besonders die in den USA lebenden Auslandschinesen zu betonen, die mit ihrem anderen Verständnis für die Kultur und Politik Chinas zu detaillierten Analysen fähig sind. Neben den Übersichtswerken finden sich daher oftmals sehr spezielle Abhandlungen oder Fallstudien, die nur einzelne Zeitspannen oder Themenkomplexe behandeln. Im Gegensatz dazu wird in dieser Arbeit der Zeitraum der Reformära themenbezogen in seiner gesamten Dauer betrachtet.

Ein Schwerpunkt meiner Untersuchung liegt auf den politischen Zielen der seit 1978 stattfindenden Reformpolitik und der dabei aufgetretenen einseitigen Förderung der Küstenregionen, was den Transformationsprozess direkt und indirekt wesentlich beeinflusste und zu großen Risiken in diesem Zusammenhang geführt hat und gleichzeitig den zweiten Schwerpunkt meiner Betrachtungen bildet. Die Auswahl ergab sich durch die Wichtigkeit der beiden Punkte für die Stabilität des Landes und des politischen Systems.

Da die Reformpolitik nicht in einem Schub das gesamte Land verändert hat, ergibt sich des Weiteren die Frage, weshalb es zu einer einseitigen Förderung der Küstenprovinzen durch die Politik kam und ob diese als Zentren der wirtschaftlichen Entwicklung die gesteckten Ziele erreichen konnten und welche Risiken und Probleme durch diese höchst präferentielle Politik aufgetreten sind.

Dies führt zu mehreren Fragen, die im Verlauf dieser Arbeit geklärt werden sollen.

Im ersten Komplex ist daher festzustellen, in wie weit der Einfluss der politischen Führung für die Entscheidungen in der VRC von Bedeutung ist und ob der Wandel in der Führung und in der Art, wie Entscheidungen getroffen werden, die Politik im Reformprozess beeinflusst. Weiterhin soll auch geklärt werden, welchen Stellenwert die Provinzen an sich im Verhältnis zur Zentralregierung und dadurch auch bei Entscheidungen haben.

Im zweiten Themenkomplex treten folgende Fragen auf: Welche grundsätzlichen Reformen gab es zu Beginn der Reformära? Wo und warum fand die einseitige Förderung der Küstenprovinzen durch die Politik statt? Welches waren die politischen und wirtschaftlichen Effekte der Reformen?

Im dritten und letzten Themenkomplex stellen sich die Fragen, welche Probleme die makroökonomische Kontrolle unter Berücksichtigung von Korruption und Inflation verursacht, welche Folgen die regionale Verteilung von Ressourcen und von Geldern im Steuersystem auf die unterschiedlichen Regionen hat und welche Risiken die sozialen Begleiterscheinungen wie Arbeitslosigkeit und illegale Migration auf die politische und soziale Stabilität des Landes haben.

Die hier zu behandelnden Fragen spiegeln den Schwerpunkt meiner Arbeit wieder und implizieren eine Konzentration auf die von mir gewählten neuralgischen Punkte des Themas.

Auf Grund der Begrenzung des Themas der Arbeit können andere vordringliche Probleme und Risiken des Landes, wie beispielsweise der im Transformationsprozess immer wichtiger werdende Aspekt des Umweltschutzes, ethnische Minderheiten oder die politische Einbindung in internationale Organisationen nicht behandelt werden.

Zudem spiegeln Punkte wie die Migrationsproblematik, Korruption und ihre Auswirkung auf die Wirtschaft und auch andere hier bearbeitete Themen meist so umfangreiche Problemstellungen wieder, dass die umfassende Behandlung der Themen mit detaillierter Analyse den Rahmen der Arbeit sprengen würde.

Weiterhin können auch die Einbindung Hongkongs und Macaos in Form von Sonderverwaltungszonen mit ihrer Bedeutung für China nicht behandelt werden. Auch der schwelende Konflikt mit Taiwan und die Bestrebungen es wieder einzugliedern unter der Prämisse „Ein Land – Zwei Systeme“, findet trotz der Wichtigkeit des Themas und der wirtschaftlichen Bedeutung aller drei Gebiete keine Beachtung, da auch hier der Umfang jedes einzelnen Themas keineswegs erschöpfend im Rahmen dieser Arbeit dargestellt werden könnte.

Um die Komplexität der Arbeit transparenter zu gestalten, habe ich eine thematische Herangehensweise gewählt und die Kapitel nach Themen geordnet. In den Kapiteln selbst findet sich dann zumeist ein chronologischer Aufbau, da die Entwicklung der einzelnen Aspekte des Reformprozesses aufeinander aufbaut, während die einzelnen Stränge in den Überkapiteln parallel verlaufen. Dadurch ergibt sich keine stringent verlaufende Linie in den drei Hauptabschnitten, jedoch ein in sich geschlossenes Bild des Reformprozesses durch eine thematische Gliederung.

Zur Bearbeitung der Fragestellung habe ich die Arbeit in drei Hauptgliederungspunkte unterteilt, zuerst der Führungswandel, im Anschluss den Komplex der Reformen und daraufhin die Risiken und Probleme der Reformpolitik.

Der Abschnitt über den Führungswandel umfasst zuerst die Definition der Führungsgenerationen, um die Unterschiede der Führungskader im Verlauf der Entwicklung der VRC darzustellen. Daraufhin gehe ich auf die informellen Machtstrukturen und die Beziehungsnetzwerke ein, da es mir unzweckmäßig erscheint, die formellen Strukturen, die noch immer nur einen geringen Einfluss auf reelle Entscheidungen ausüben, hier zu erläutern, so dass durch die hier gewählte Darstellung ein Einblick in die informelle Machtstruktur gegeben werden kann.

Eng damit verbunden ist der Wandel der Führung hin zu Technokraten, da hiermit die Herangehensweise chinesischer Politiker an Entscheidungen im Wandel der Zeit beobachtet werden kann. Daraus ergeben sich auch die folgenden Kapitel, die die Entscheidungsfindung und die Tendenz zu mehr Formalisierung und Institutionalisierung im politischen System Chinas beleuchten, um hieraus eine Veränderung und einen Einfluss auf gezielte politische Entscheidungen ableiten zu können. Um diese Einflüsse genauer lokalisieren zu können, wird daraufhin gezielt das Problem des Regionalismus erörtert, wobei zuerst die Gründe für einen stärkeren Regionalismus in der Reformperiode gesucht werden, um dann das Verhältnis von Provinzen und Zentralregierung zu betrachten und den Einfluss der Provinzen bei den Entscheidungen der Zentralregierung festzustellen, da dieser einen gewichtigen Faktor in der Implikation politischer Strategien darstellt.

Der zweite Abschnitt über die Reformen behandelt zuerst die Reformpolitik im Allgemeinen, wobei die Darstellung der Ausgangslage und die Ziele und Inhalte der ersten Reformen zur Einbettung der gezielten Küstenförderung in den Gesamtzusammenhang dient. Daraufhin stelle ich das geographische Ausmaß und die Entwicklung des Umfangs der als Küstenregion bezeichneten Gebiete dar, um im Anschluss daran die Gründe für eine gezielte Förderung dieser Landesteile zu finden, um die politischen Ziele zu definieren. Der sich anschließende Abschnitt erläutert den Fortschritt der Reformen aus ökonomischer Sichtweise.

Die lange Phase der Reformpolitik führte durch ihre schnelle Entwicklung zu Effekten und Nebeneffekten, die teils geplant, teils jedoch auch von einer bestimmten Eigendynamik geprägt waren. Ich werde dazu die wirtschaftlichen und politischen Freiheiten, die sich entwickelt haben erörtern, indem ich hier eine Dreiteilung vornehme, zuerst die wirtschaftlichen Effekte, die hauptsächlich die positiven Auswirkungen beschreiben, dann die veränderte Einstellung der Politik und schließlich den Bewusstseinswandel in der Bevölkerung, der durch die immer schneller voranschreitende wirtschaftliche Liberalisierung als Nebeneffekt auftritt.

Im letzten Abschnitt werden dann die Risiken und Probleme der präferentiellen Politik zu Gunsten der Küste an ausgewählten Aspekten erläutert. Dazu werfe ich die Kontrolle der Wirtschaftsentwicklung mit den Punkten Inflation und Korruption in Verbindung mit dem Kontrollverlust der Partei über die eigenen Kader und die Bevölkerung als beispielhafte Problemstellungen auf, die mit dem Transformationsprozess auf wirtschaftlicher Ebene einhergingen. Während diese Probleme Gesamtchina betreffen, werden im darauf folgenden Kapitel über die regionalen Verteilungen hauptsächlich die speziellen auf Regionalismus ausgerichteten Schwierigkeiten der Allokation von Ressourcen, der Entstehung von regionalen Konflikten und der Gelderverteilung durch das Steuersystem besprochen, um für den chinesischen Reformprozess typische Probleme der regionalen Ungleichentwicklung mit einem ökonomischen Hintergrund darzustellen.

Zu den wirtschaftlichen und makroökonomischen Problemen kommen die sozialen Verwerfungen. Das gewaltige Risikopotential für die Stabilität der Partei und des Landes stelle ich durch die Aspekte der Arbeitslosigkeit und der illegalen Migration dar, die mir als zwei der wichtigsten Problemfelder erscheinen. Somit werden im letzten Abschnitt die wesentlichen Risikofelder bearbeitet, die die ungleiche Entwicklung und Förderung hervorgebracht hat.

Die Literatur, die sich mit der Chinaforschung beschäftigt, ist hauptsächlich im englischsprachigen Raum zu finden.

Hier existieren Übersichtswerke, die einen breiten Überblick über das politische System der VRC geben und dadurch als Grundlage zum Verständnis dienen können. In dieser Kategorie sind besonders James Wang, Contemporary Chinese Politics und June Teufel Dreyer, China`s Political System hervorzuheben, da diese Werke historische und politikwissenschaftliche Grundlagen vermitteln.

Für speziellere Analysen über das politische System der VRC, die dennoch eine breite Betrachtungsweise bieten, eignen sich die Werke von Susan L. Shirk, The Political Logic of Economic Reform in China und von Kenneth Lieberthal, Governing China.

In der deutschsprachigen Literatur bieten lediglich Oskar Weggel mit mehreren Werken und Sebastian Heilmann mit Das Politische System Der Volksrepublik China, wobei ersterer sehr historisch orientiert und das Buch von Heilmann zwar faktenorientiert ist, jedoch oftmals Analysen vermissen lässt.

Wesentlich mehr Literatur wird jedoch durch regelmäßig erscheinende Fachzeitschriften in englischer Sprache bereitgestellt. Hier sind The China Journal, Asian Survey, The China Quarterly, The Australian Journal of Chinese Affairs und Modern China, die sich speziell mit chinesischen und asiatischen Fragen beschäftigen, wie auch allgemeine politikwissenschaftliche Zeitschriften, wie Journal of Democracy oder World Politics.

Zusätzlich impliziert das Thema die Nutzung von volkswirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Publikationen auf breiter Basis.

Auf Grund dieser Materiallage wurde die gesamte Bandbreite der hier angeführten Literatur genutzt, um möglichst viele unterschiedliche Ansätze mit einfließen zu lassen. Keine Verwendung fanden auf Grund der Sprachbarriere chinesische Originalquellen. Als problematisch stellte sich die Verwendung von Statistiken dar, die ungefiltert keine zuverlässige Datenquelle bereitstellen. Das chinesische statistische System ist sehr fehleranfällig und beinhaltet oftmals von den unterschiedlichen Regierungsebenen absichtlich verfälschte Daten. Möglichkeiten dies zu umgehen, bieten lediglich Gegenrechnungen durch unabhängige Institute, wissenschaftliche Publikationen, Berichte der Weltbank oder Außenhandelsdaten von Ländern, die Wirtschaftsdaten im Handel mit China erheben und bereitstellen. Daher wurden in dieser Arbeit lediglich gerechnete Daten aus der Sekundärliteratur verwendet.

Diese Arbeit soll daher eine Darstellung des wirtschaftlichen Reformprozesses in China seit 1978 liefern. Dabei sollen besonders die politischen Ziele und die Risiken der ungleichen Entwicklung zu Gunsten der Küstenregionen an ausgewählten Punkten verdeutlicht werden.

2 Führungswandel

2.1 Führungsgenerationen und Wandel im Führungsstil

Der Führungswandel und der Wandel im Führungsstil sind wesentliche Faktoren bei der Betrachtung der Entwicklung der VRC in jeglicher Hinsicht. Beginnend bei Mao Zedong, als die Entwicklung in der jetzt vorliegenden Form noch nicht absehbar war, bis hin zu der momentanen Situation, in der sich China immer mehr den Anforderungen an eine Einbindung in eine globalisierte Welt stellen muss, zeichneten sich die politischen Eliten maßgeblich für die Entwicklung verantwortlich. Daher ist es nötig, die Führung der VRC näher zu betrachten um über eine Darstellung der verschiedenen Führungsgenerationen und der Entwicklung und Herausbildung einer gänzlich anderen Führungsschicht unter Berücksichtigung der informellen Machtstrukturen und Beziehungsnetzwerke die Voraussetzungen und Hintergründe der gezielten Entscheidungen zu erläutern.

2.1.1 Führungsgenerationen

Die Einteilung der politischen Eliten Chinas in Führungsgenerationen ist zwar stark vereinfachend, jedoch lassen sich seit dem Beginn dieser Einteilung bis heute doch deutlich unterschiedliche Arten von politischer Führung und Problemlösung, wie auch Entscheidungsfindung beobachten. Als Basis nimmt man hier die unterschiedliche Lebenserfahrung, die Ausbildungshintergründe und die politische Orientierung.[2] Zudem lassen sich immer wieder Personen als Führungskern erkennen, die als symbolische Figur für die jeweilige Führungsgeneration gelten. Dennoch ist es natürlich nicht möglich klare Abgrenzungen zu treffen, da die Konturen verschwimmen und je nach Umfang und Einfluss einer solchen Generation der Führungswechsel nicht von einem Tag auf den anderen geschieht.

Die erste Generation lässt sich jedoch relativ klar um Mao Zedong herum einordnen. Durch den „Langen Marsch“ und die russische Oktoberrevolution 1917 geprägt wurde die Gruppe um Mao, zu der auch Zhou Enlai, Liu Shaoqi, Lin Biao und auch Deng Xiaoping gehörten[3] prägend für die politischen Geschicke Chinas bis die zweite Generation von Führern nach der kurzen Zwischenphase, beginnend mit dem Tod Maos bis ungefähr 1978 unter der berüchtigten Viererbande die Macht übernahm. Hier fand auch die starke Ideologisierung der Politik ein Ende[4] und ein Übergang zur zweiten Führungsgeneration, die jedoch noch Überhänge der ersten in Führungspositionen behielt fand statt.

Als herausragender Führer lässt sich hier Deng Xiaoping identifizieren. Deng hatte zwar schon unter Mao Schlüsselpositionen in der Parteizentrale eingenommen[5], war jedoch zweimal gestürzt worden. Die Charakterisierung dieser Gruppe um Deng findet ihr einendes Moment durchaus in der Behandlung unter Mao, wo sie unter der Kulturrevolution, der Anti-Rechts-Kampagne und dem Großen Sprung gelitten hat.[6] Deng war maßgeblich dafür verantwortlich, dass die weit reichenden ökonomischen Reformen begonnen wurden und avancierte so zum Symbol für die Politik der Marktöffnung. China unter Deng wurde somit von Pragmatismus, Reformen und Öffnung geprägt.[7] Man kann sagen, dass diese Generation war somit auch die letzte Generation war, die eine charismatische Führungspersönlichkeit hatte und sie markierte insofern einen Wechsel in der Art der Führungsgenerationen, als dass die revolutionären Parteieliten, die mit Masse ihre Karriere der Parteiloyalität zu verdanken hatten langsam keine politischen Ämter mehr ausübten. Der Bildungsstandard und die Ausbildung dieser Kader waren insgesamt niedrig und so gab es durchaus Führungseliten in Politbüro und Zentralkomitee, die Bauern oder Textilarbeiter waren.[8] Dass diese Voraussetzungen den Anforderungen an die von der zweiten Führungsgeneration initiierten Reformen nicht genügten war deutlich und wurde durch gezielte Patronage von technokratischen Führungseliten verbessert.[9] Die dritte Generation von Führern mit Jiang Zemin als tragender Persönlichkeit unterscheidet sich zu ihren Vorgängern deutlich in Bildungsstandard und internationaler Erfahrung. So haben die Mitglieder des fünfzehnten Zentralkomitees zu über 90 Prozent einen College Abschluss und die Abgeordneten des fünfzehnten Parteikongresses besaßen zu über 70 Prozent einen College Abschluss.[10] Die Erhöhung des Bildungsstandards setzte sich in der vierten Führungsgeneration fort, die um Hu Jintao herum entsteht und zeigt deutlich die Anpassung an die geänderten ökonomischen und politischen Umstände. Während in der dritten Führungsgeneration die technischen Kompetenzen bei den Führungseliten deutlich überproportioniert waren zeigt sich jetzt ein Anstieg der Ökonomie- und der Managementausbildung.[11] Die Folgen der geänderten Ausbildung werde ich in einem gesonderten Kapitel betrachten.

2.1.2 Informelle Machtstrukturen und Beziehungsnetzwerke

Die Kommunistische Partei Chinas ist eine nach sowjetischem Vorbild gegründete Partei, die die Grundsätze einer Kaderpartei mit alleinigem Führungsanspruch in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft übernommen hat.[12] Dieser Anspruch erklärt auch die ständige Präsenz der Partei in allen Bereichen des Lebens. Hier ist eine Verknüpfung der Partei mit sämtlichen staatlichen Institutionen, die Kontrolle der Legislative, Exekutive und Judikative wie auch der wesentlichen Lebensumstände der gesamten Bevölkerung zu erkennen. Somit steht in der formalen Struktur des Staates die Partei an oberster Stelle und übt ihre Macht aus.

Die Macht konzentriert sich in diesem System auf einen kleinen Personenkreis, der im Wesentlichen durch das Politbüro und seinen ständigen Ausschuss gebildet wird. Dieser führt die täglichen Geschäfte bezüglich der politischen Linie und der Parteiangelegenheiten.[13] Da die Besetzung der politischen Spitzenpositionen nicht mit der in einer uns bekannten Demokratie vergleichbar ist, muss die Nachfolge von Führungseliten hier näher betrachtet werden. Einerseits gibt es die zu besetzenden Spitzenpositionen im Politbüro und seinem ständigen Ausschuss, was auch die Ämter als Generalsekretär der KPC, Vorsitzender der Militärkommission und weiterer Spitzenämter mit einer breiten Machtbasis beinhaltet. Andererseits ist auch bedingt durch das Kadersystem und durch Netzwerke die Besetzung von anderen Ämtern in Partei und Verwaltung von persönlichen und politischen Faktoren abhängig.

Die Möglichkeit in der KPC Karriere zu machen war bis in die frühen 1980er Jahre bestimmt durch vier Hauptkriterien. Erstens zählte die Parteizugehörigkeit und die Teilnahme an der Revolution, beispielsweise am Langen Marsch oder am Anti-Japanischen Krieg, zweitens war das ideologische Bekenntnis zum Marxismus und zu den Gedanken Maos unerlässlich, drittens wurde politische Loyalität und Aktivität im Klassenkampf erwartet und zuletzt zählte die Herkunft aus einer proletarischen Familie.[14] Bis zum Ende Maos war die Besetzung von Spitzenämtern nach seinen persönlichen Vorstellungen vorgenommen worden. In den Machtkämpfen und Wirren der nachfolgenden Phase, in der Deng seine Macht konsolidierte, wird deutlich, dass die Besetzung von Spitzenämtern zum Ausbau der eigenen Position diente und eine breite Machtbasis sichern sollte. Für Deng gab es diese Möglichkeit im Rahmen des Dritten Plenums des Elften Zentralkomitees, als Hu Yaobang zum Generalsekretär der KPC designiert wurde und somit schon Hua’s Macht einschränkte. Zudem sicherte ihm die Wahl von Chen Yun, Deng Yingchao, Hu Yaobang und Wang Zhen als zusätzliche Mitglieder des Politbüros einen sicheren Stand, da diese zu seinen Unterstützern zählten.[15] Dies eröffnete ihm die Möglichkeit seinen Einfluss so weit auszudehnen, ohne selbst eines der Spitzenämter in dieser Phase zu besetzen. Zudem versuchte er eine Verjüngung der Führung unter gleichzeitiger Schwächung der älteren Führungseliten. Dadurch wurde eine Einrichtung geschaffen, die den „Älteren“ einen würdevollen Abschied aus der Politik ermöglichen sollte, jedoch zu einem Phänomen führte, welches als gerontokratische Führung bezeichnet werden kann. Die Central Advisory Commission bestand aus älteren Führungseliten, die durch die Bestimmung ihrer eigenen Nachfolger eine zweite Machtbasis gegenüber der formalen Verantwortlichkeit aufbauten.[16] Der Einfluss erklärt sich somit wiederum aus der persönlichen Beziehung zwischen den „Älteren“ und ihren selbst ernannten Nachfolgern, denen sie durch gezielte Patronage diese Aufstiegsmöglichkeit ermöglicht hatten.[17] Dieser nicht unwesentliche Einfluss erstreckte sich nahezu über die gesamte Periode der Deng-Ära und endete durch die Abschaffung der Central Advisory Commission und das natürliche Aussterben dieser Generation.

Während in der Generation um Deng Xiaoping der revolutionäre Hintergrund und gemeinsame Erfahrungen während der Kulturrevolution bindende Elemente darstellten und zu gegenseitiger Patronage führten, änderte sich in den folgenden Generationen merklich die Ausprägung und Wichtigkeit dieser informellen Netzwerke, die auf allen Ebenen auftreten. Die Grundlagen für die veränderte Führungsgeneration wurden von Deng gelegt, indem er und Hu Yaobang schon in den frühen 90er Jahren öffentlich eine Abkehr von der Trennung von Führung und Bildung befürworteten.[18] Personell zeigte sich diese Entwicklung in Reformen, aus denen regelmäßig jüngere und besser ausgebildete Führungskader hervorgingen,[19] was zum größten friedlichen Elitenwechsel in der Chinesischen Geschichte führte.[20]

Abbildung 1 Schulbildung der Führungskader

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Li Cheng, 2000, S. 19.

Der allgemeine Anstieg des Bildungsniveaus setzt sich in der vierten Führungsgeneration unvermindert fort und führt zu allgemein gut ausgebildeten Führungspersönlichkeiten mit hohem Bildungsstandard. Die obenstehende Übersicht zeigt die deutliche Überzahl an universitären Abschlüssen im Vergleich zu anderen.

Eine Möglichkeit eine Führungsposition in China zu bekommen ist immer noch die verwandtschaftliche Beziehung zu einem Spitzenkader. Diese, auch als „Prinzen“ bekannten Protegés haben meistens eine hochwertige Ausbildung genossen und ihre persönlichen Beziehungen durch den Kontakt mit Gleichen verbessert, was zu guten Positionen in Militär und Verwaltung führt. Sie sind jedoch gerade auf Grund der familiären Hintergründe und der häufigen Ausnutzung ihres Status unbeliebt und treffen immer öfter auf Widerstände.[21] Neben diesen Beziehungen, die zu einer Position als Führungskader verhelfen treten Universitäts-Netzwerke, hier besonders das der Qinghua-Universität in den Vordergrund. Die Ursprünge dieses Netzwerks sind auf Jiang Nanxiang, den Präsidenten der Universität von 1952 bis 1966 zurückzuführen. Er führte ein System von politischen Beratern ein, die auf zweifache Weise ihre zukünftigen Aufgaben meistern sollten, einerseits die technische, andererseits die politische Führung.[22] Gelungen ist dieses Vorhaben durchaus, betrachtet man die Entwicklung der Präsenz von Abgängern der Qinghua-Universität in der politischen Führung in der Post-Mao-Ära und die deutliche Überrepräsentation in der vierten Führungsgeneration.[23] Nicht nur die Spitzenpositionen in der Zentralregierung, sonder weitere Tausende von Führungskadern auf allen Ebenen in Partei, Verwaltung und Wirtschaft haben ihren Abschluss an der Qinghua-Universität gemacht,[24] was deutlich die weite Verbreitung und die gute Organisation dieses Ehemaligen-Netzwerks zeigt. Die stark verbreitete Patronage im chinesischen Rekrutierungssystem für Führungskräfte wird durch derartige Einrichtungen begünstigt und beinhaltet nicht den Widerstand, der der gezielten Patronage durch familiäre Bindungen entgegentritt.

2.1.3 Einfluss der Technokraten

Der Elitenwechsel von der zweiten Führungsgeneration um Deng Xiaoping zur dritten um Jiang Zemin stellte in mehrfacher Hinsicht ein Novum dar, denn einen solchen friedlichen Wechsel von Eliten hatte es bis dato in der VRC noch nicht gegeben und zudem war der Wechsel einer Führungsgeneration auch erstmals mit einem Wandel der persönlichen Hintergründe der neuen Eliten verbunden. Dies bedeutet jedoch keinen abrupten Umschwung der gesamten Politik, da die vorige Führungsgeneration aus den oben bereits genannten Gründen noch wesentlichen Einfluss ausübte, der sich jedoch reduzierte und mit dem fünfzehnten Parteikongress nur noch marginal vorhanden war.[25]

Dennoch ist eine deutliche Veränderung in der Entscheidungsfindung und im Formalisierungsgrad festzustellen, was ich im nächsten Kapitel bearbeite. Hierzu ist es jedoch nötig, den Einfluss und die Entstehung der ungewöhnlich hohen Anzahl an Technokraten näher zu betrachten.

Der Ursprung dieser Entwicklung liegt in der Auffassung Dengs, die besagt, dass China sowohl technisch, als auch organisatorisch ausgebildete Führungskräfte benötige, um die wirtschaftliche Entwicklung schnell vorantreiben zu können.[26] Die während der Kulturrevolution unterdrückte Bildungsschicht hatte jedoch keinerlei Möglichkeit in dieser Phase in politische Führungspositionen zu gelangen. Dadurch bestand der Großteil der politischen Eliten aus Revolutionären, die zumeist Bauern und Arbeiter mit relativ geringem Bildungsniveau waren. Die Aufhebung der Trennung von Bildung und Führung war vor diesem Hintergrund dringend nötig und wurde von der Führung schnell erkannt und umgesetzt. Die kommenden Eliten sollten alle besser ausgebildet sein. Dieses Umdenken wurde auch bei verschiedenen Anlässen in die Öffentlichkeit getragen, um somit die Akzeptanz zu erhöhen.[27] Die Strategie stellte sich als erfolgreich heraus. Wie die folgende Abbildung zeigt, hat sich die Zahl der Technokraten in allen hochrangigen Führungsebenen immens erhöht und belegt den Wandel zu einer besser ausgebildeten Führungsschicht.

Abbildung 2 Präsenz der Technokraten

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Li/White, 1998, S. 251.

Hinzu kommt die Tatsache, dass der Wandel der Führungseliten sich noch weiter an die Erfordernisse der Reformen in der VRC anpasst. Während in der dritten Führungsgeneration sich die Bezeichnung technokratisch im Wesentlichen tatsächlich auf eine technische Ausbildung bezog und die meist vertretenen Studiengänge der politischen Führung durchaus technischer Natur waren, stellt die vierte Generation einen wesentlich erhöhten Anteil an ökonomisch und betriebswirtschaftlich geschulten Kadern.[28] Auch die Anzahl der Juristen hat zugenommen und wird sich als wichtig für den Aufbau eines modernen Rechtssystems erweisen.[29]

Der Wandel basiert grundsätzlich auf zwei Überlegungen. Einerseits wird durch den gemeinsamen Faktor der Ausbildung und des Studiums das benötigte einende Element unter der Elite in der immer stärker dezentralisierten politischen Landschaft in China dargestellt und gibt ihnen damit eine Gruppenidentität und Ideologie vor.[30] Diese ist im Laufe der Entwicklung von ideologisch geprägten Kadern und revolutionären politischen Eliten zu technokratisch geschulten und modern angehauchten Politikern stark ins Hintertreffen geraten. Andererseits ist auch die Fähigkeit zur Problemlösung ein Grund.[31] Die Herangehensweise an Probleme im Zusammenhang mit marktwirtschaftlichen und ökonomischen Erfordernissen, wie auch technischen Innovationen ist für diese Generation wesentlich leichter und reflektiert die technische oder ökonomische Ausbildung und den stärkeren Kontakt zu neuen Methoden, wie auch zum Ausland, wo eine nicht unerheblich Anzahl der Studienabgänger in Führungspositionen ihren Abschluss gemacht hat.

2.1.4 Zwischenfazit

Der Führungswandel in der VRC zeigt schon hier deutlich, dass eine Anpassung an die Erfordernisse der Reformen stattgefunden hat. Diese Entwicklung war nicht zufällig, sondern ist auf die Bemühungen der zweiten Führungsgeneration um Deng Xiaoping zurückzuführen. Die Rehabilitation von Kadern, die in der Mao-Ära zurückgedrängt worden waren und die Wiederherstellung einer Bildungselite in Partei und Politik mit einer gleichzeitigen Verjüngung der Führung schaffte die Grundlagen für die jetzige Führungselite, die den Aufgaben, die die Marktöffnung und die Einbindung Chinas in die Weltwirtschaft mit sich brachten besser gewachsen ist. Die Veränderung betrifft das gesamte politische Handeln in der VRC und zeigt den Wandel von einer kommunistischen Ideologie in der Führung hin zu problemorientiertem Handeln.

2.2 Decision Making und Formalisierung

Die VR China ist durch eine Einparteienherrschaft gekennzeichnet, in der die Kommunistische Partei Chinas (KPC) sämtliche Macht auf sich konzentriert und den gesamten Staat, so wie die Bevölkerung durchdringt. Hier ist eine Verknüpfung der Partei mit allen staatlichen Institutionen, der Kontrolle der Legislative, Exekutive und Judikative wie auch der wesentlichen Lebensumstände der gesamten Bevölkerung zu erkennen. Obwohl sich die Verhältnisse seit dem Ende der Mao-Ära ständig gewandelt haben ist die Macht der KPC noch immer vorhanden und dominiert die gesamte Politik. Dies führte bis dato oftmals zu Entscheidungen, die von oben nach unten durchgegeben wurden. Besonders prägnant war diese Art der Entscheidungsfindung unter Mao. Der Wandel seit dem Ende der Mao-Ära hat jedoch auch auf die Entscheidungsfindung und Durchsetzung, wie auch auf die Akteure in diesem Prozess und den Prozess selbst eingewirkt.

2.2.1 Entscheidungsfindung und Durchsetzung

Die Entscheidungsfindung und Durchsetzung von Entscheidungen sind in der Geschichte der VRC einem ähnlichen Wandel unterworfen, wie die Führungseliten. Die Macht über die Entscheidungen auf allen Ebenen war in der Ära Mao Zedongs einzig und allein ihm überlassen und Mao duldete auch keinerlei Widerspruch gegen seine Entscheidungen. Dies entwickelte sich zu einem Despotismus ohne Gleichen fort[32] und setzte somit faktisch alle Institutionen auf Partei- und Staatsebene außer Kraft. Die geschickte Kontrolle Maos über China erstreckte sich sowohl auf die Partei, die staatliche Bürokratie und auf das Militär. Dies gab ihm die Möglichkeit einer de facto Alleinherrschaft, ohne die Beteiligung anderer an Entscheidungen.

Nach dem Tod einer solchen, übermächtigen Führungspersönlichkeit folgt eine Phase der Oligarchie, auch „kollektive Führung“ genannt, die den Normalzustand in einem leninistischen System darstellt. Aus mehreren Machtkämpfen entsteht wieder eine stark personalisierte diktatorische Führung. Dies wird als Grundsatzmodell für alle kommunistischen Systeme angesehen.[33] Für Deng Xiaoping gilt dieses Modell durchaus. Dennoch ging aus ihm keineswegs eine so dominante Führungspersönlichkeit hervor, wie Mao es war. Schon der Weg Dengs, die Macht zu übernehmen basierte auf der gezielten Verteilung seiner Unterstützer in vitalen Positionen der Partei und der Verwaltung. Durch die Rehabilitierung gestürzter Kader sicherte er sich auch hier wertvolle Rückendeckung.[34] Durch gezielte Absetzungen alter Kader und der damit verbunden Schwächung seiner politischen Gegenspieler hatte Deng gegen Ende des Jahres 1980 die Kontrolle über die Partei, die Regierung und das Militär übernommen.[35] So konnte er seine Macht konsolidieren, ohne selbst neurale Punkte und Spitzenämter persönlich zu besetzen. Aus der Oligarchie war wieder die Herrschaft eines einzelnen entstanden. Die Art seiner Machtausübung war jedoch eine gänzlich andere als bei Mao. Er verstand es, die Verantwortlichkeiten und Aufgaben so weit zu delegieren, dass er keine Detailentscheidungen treffen musste, sondern lediglich in Personalentscheidungen eingriff.[36] Dennoch besaß Deng, im Gegensatz zu Mao keinen Freibrief bezüglich seiner Entscheidungen, sondern wurde mehr als „Primus inter pares“ angesehen. Trotzdem stand er über der Bürokratie,[37] was ihm die Durchsetzung seiner Politik wesentlich erleichterte. Der Wandel in der Entscheidungsfindung auf höchster politischer Ebene kam erst mit Jiang Zemin, der als ein wesentlich schwächerer Führer als Mao und Deng anzusehen ist und nicht diese Autorität besaß. Dadurch entstand eine Politik der ausgedehnten Konsultationsprozesse innerhalb der Führung.[38] Zudem manifestierte sich die Stärkung der Institutionalisierung von politischen Prozessen, die auf Deng zurückzuführen ist. Dieser war der Ansicht, dass Systeme und Institutionen Entscheidungsfaktoren seien. Schon hier war erkennbar, dass im Entscheidungsprozess mehr Konsultationen durchgeführt, mehr Fachkompetenz von Spezialisten und Wissenschaftlern eingeholt und die Vorgänge mehr bürokratisiert wurden.[39] Die eigene Macht Dengs wurde dadurch nicht beschnitten, für die nachfolgende Führungsgeneration erwies sich diese Entwicklung jedoch als wichtig, denn Jiang Zemin war in keiner Weise eine so starke Führungspersönlichkeit wie Mao oder Deng.

Mit dieser Vorgehensweise konnten Entscheidungen auf höchster politischer Ebene auf eine solide Basis gestellt werden und andere Faktoren konnten beteiligt werden.

2.2.2 Einflussfaktoren auf Entscheidungen

Die oben beschriebene Veränderung in der Führung der VRC lässt es nicht mehr zu, dass politische Entscheidungen und Prozesse direkt von der Spitze und von einer Person nach unten durchgegeben werden. Zu viele Einflüsse auf eine Entscheidung oder einen Entscheidungsprozess fallen hier ins Gewicht. Waren es zu Zeiten Dengs und zu Beginn der Ära Jiangs im Wesentlichen die Parteiälteren, die Einfluss auf Entscheidungen nahmen, gestaltet sich die Implementierung und Erarbeitung von Politik heute wesentlich differenzierter. Die Entscheidungsfindung im heutigen China wird von vielen Faktoren beeinflusst. Spezialisten, Politikberater, innerstaatliche Akteure und Dezentralisierung haben darauf einen starken Einfluss. Die Konsensfindung und Verhandlungen hierüber nehmen einen großen Stellenwert in der Politik ein.[40] Drei der Faktoren, die auf die Politik Einfluss ausüben werde ich hier näher betrachten. Erstens ist der gestiegene Einfluss der Provinzen und der Provinzregierungen in Beijing von großer Bedeutung, zweitens sind im Laufe der Zeit nach Mao Verfahrensabläufe in der Politik immer mehr formalisiert worden, was zu einem Wandel in der Politik und der Machtausübung geführt hat. Drittens ist durch den starken ökonomischen Wandel bestimmten Einrichtungen und Ämtern eine erhöhte Verantwortung zugekommen, die diese auch in Machtpotential umsetzen.

Bezüglich des Einflusses der Provinzen verweise ich auf das folgende Kapitel, das diesen wesentlichen Aspekt genauer beleuchtet, denn der Einfluss der Provinzen ist im Dezentralisierungsprozess auf wirtschaftlicher Ebene politisch ebenfalls gestiegen und wirkt sich auf die Entscheidungen der Zentralregierung aus, die sich für die grundsätzlichen politischen Entscheidungen verantwortlich zeichnet.

Die Formalisierung von Verfahren und die Institutionalisierung haben sich auf vitale Bereiche der chinesischen Politik ausgewirkt.

[...]


[1] Financial Times Deutschland, 29.11.2004, S. 15.

[2] Vgl.: Sebastian Heilmann, Das politische System der Volksrepublik China, Wiesbaden 2002, S. 46.

[3] Vgl.: Cheng Li, China’s Leaders, Lanham 2001, S. 9.

[4] Vgl.: Lucian W. Pye, Jiang Zemin’s Style of Rule: Go For Stability, Monopolize Power And Settle For Limited Effectiveness, in: The China Journal, Nr. 45, 2001, S. 122.

[5] Vgl.: Heilmann, 2002, S. 48.

[6] Vgl.: June Teufel Dreyer, China’s Political System, London 2000, S. 108.

[7] Vgl.: Pye, 2001, S. 122.

[8] Vgl.: Li, 2001, S. 33.

[9] Ebd.: S. 35.

[10] Vgl.: Cheng Li, Lynn White, The Fifteenth Central Committee of the Chinese Communist Party: Full-Fledged Technokratic Leadership with Partial Control by Jiang Zemin, in: Asian Survey, Vol. 38, No.3, 1998, S. 248.

[11] Vgl.: Cheng Li, Jiang Zemin’s Successors: The Rise of the Fourth Generation of Leaders in the PRC, in: The China Quarterly, Nr. 161, 2000, S. 21.

[12] Vgl.: Heilmann, 2002, S. 65.

[13] Vgl.: James C.F. Wang, Contemporary Chinese Politics, New Jersey 2002, S. 74f.

[14] Vgl.: Li, 2001, S. 33.

[15] Vgl.: Wang, 2002, S. 107.

[16] Vgl.: Dreyer, 2000, S. 118f.

[17] Vgl.: Frederick C. Teiwes, The Paradoxical Post-Mao Transition: From Obeying the Leader to ‘Normal Politics’, in: The China Journal, Nr.34, 1995, S. 81.

[18] Vgl.: Li, 2001, S. 34.

[19] Vgl.: Kenneth Lieberthal, Governing China, From Revolution Through Reform, New York 1995, S. 231.

[20] Vgl.: Li, 2001, S. 34.

[21] Vgl.: Heilmann, 2002, S. 59f.

[22] Vgl.: Cheng Li, University Networks and the Rise of Qinghua Graduates in China’s Leadership, in: The Australian Journal of Chinese Affairs, Nr.32, 1994, S. 3.

[23] Vgl.: Li, 2001, S. 16.

[24] Vgl.: Heilmann, 2002, S. 59f.

[25] Vgl.: Li, 1998, S.232.

[26] Vgl.: Lieberthal, 1995, S. 145.

[27] Vgl.: Li, 2001, S. 34.

[28] Vgl.: Li, 2000, S. 21.

[29] Ebd.: S. 22f.

[30] Vgl.: Li/White, S. 234.

[31] Vgl.: Joseph Fewsmith, The New Shape Of Elite Politics, in: The China Journal, Nr. 45, 2001, S. 88.

[32] Vgl.: Lieberthal, 1995, S. 185.

[33] Vgl.: Jiaqi Yan, The Nature of Chinese Authoritarism, in: Carol Lee Hamrin and Suisheng Zhao (Hrsg.), Armonk 1995, S. 5.

[34] Vgl.: Dreyer, 2000, S. 109f.

[35] Vgl.: Wang, 2002, S. 112.

[36] Vgl.: Lucian Pye, An Introductory Profile: Deng Xiaoping and China’s Political Culture, The China Quarterly, Nr. 135, 1993, S. 424.

[37] Vgl.: David Bachmann, The Limits On Leadership in China, Asian Survey, Vol. 32, No. 11, 1992, S.1049.

[38] Vgl.: Heilmann, 2002, S. 63f.

[39] Vgl.: Teiwes, 1995, S. 85.

[40] Vgl.: Heilmann, 2002, S. 43.

Ende der Leseprobe aus 94 Seiten

Details

Titel
Die Küstenprovinzen als Zentren der wirtschaftlichen Reformpolitik in China - Politische Ziele und Risiken der ungleichen Entwicklung
Hochschule
Helmut-Schmidt-Universität - Universität der Bundeswehr Hamburg  (Institut für Innenpolitik und vergleichende Regierungslehre)
Note
2,1
Autor
Jahr
2004
Seiten
94
Katalognummer
V33786
ISBN (eBook)
9783638341783
Dateigröße
1028 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Küstenprovinzen, Zentren, Reformpolitik, China, Politische, Ziele, Risiken, Entwicklung
Arbeit zitieren
Michael Ziegler (Autor:in), 2004, Die Küstenprovinzen als Zentren der wirtschaftlichen Reformpolitik in China - Politische Ziele und Risiken der ungleichen Entwicklung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/33786

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