Tijuana. Fremd- und Selbstbilder einer Stadt und ihrer Bewohner


Hausarbeit, 2015

17 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Tijuana, ciudad del vicio
2.1. Die Geschichte der ciudad del vicio
2.2. Die ciudad del vicio in der medialen Darstellung
2.3. Wie tijuanenses die ciudad del vicio sehen

3. Tijuana als ciudad de paso
3.1. Die Entwicklung Tijuanas zur ciudad de paso
3.2. Arbeit in den maquilas

4. Fazit

1. Einleitung

Was ist das mexikanische an Mexiko? Was macht einen Mexikaner zum Mexikaner? Was unterscheidet ihn beispielsweise von einem Guatemalteken oder Chilenen? Was von einem US-Amerikaner?

Obwohl es eine eindeutige oder gar ein-eindeutige Antwort hierauf nicht geben kann, sind viele Versuche gemacht worden, Fragen dieser Art zu beantworten. Als herausragendes Beispiel für diese Antwortversuche kann auf Grund seiner Rezeption und seiner bis heute recht großen Unangefochtenheit Octavio Paz mit seinem „Laberinto de la soledad“ gelten, einer Essay-Sammlung, die die Essenz des mexikanischen einzufangen versucht. (vgl. Paz 2003)

Andere Antworten versucht die Bewegung der „mexicanidad“ zu geben, indem sie alles Europäische, also vornehmlich den Einfluss der spanischen Eroberer, aber auch den Einfluss der im Norden angrenzenden USA, zugunsten einer Neubewertung, ja einer Wertschätzung des indigenen Erbes der mexikanischen Nation verdammt. Dass dabei nicht nur tatsächlich überlieferte Bräuche, sondern auch nachträglich erfundene eine Rolle spielen, schadet dieser Art von mexikanischem Selbstverständnis anscheinend nicht. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, spielt die „mexicanidad“ im Alltagsleben nur eine marginale Rolle. Die allgemeine Tendenz scheint eher zur Ausklammerung alles Indigenen zu gehen (vgl. Yépez 2012: 51).

Wie also soll sonst der mexikanischen Identität auf die Spur zu kommen sein? Zunächst muss man die Feststellung, dass es sich bei einer Nation um eine vorgestellte Gemeinschaft handelt, ernst nehmen. Eine Nation ist dementsprechend keine natürliche Gruppierung, wie etwa eine Familie oder eine primordiale Stammesgemeinschaft, sondern eine sozial konstruierte Gruppe von Menschen, denen gewisse Eigenschaften zugeschrieben werden (vgl. Anderson 1988). Dies können gemeinsame geschichtliche Erfahrungen sein, wie zum Beispiel die spanische reconquista, die als gemeinsames Ziel die spanischen Regionen einte. Es können bestimmte rassistische Konzepte zur Nationenbildung oder -einigung herangezogen werden, wie zum Beispiel das Konzept der „Volksdeutschen“ im Nationalsozialismus. Des weiteren kann die Identität einer Nation auch durch die Gegenüberstellung mit einem real existierenden oder vorgestellten „Anderen“ geschehen, so zum Beispiel die Konstruktion des katholischen Spanien nach der convivencia durch Ausweisung aller Andersgläubigen - sogar derer, die vom Judentum oder Islam konvertiert waren, denen man aber aus wiederum rassistischen Gründen nachsagte, sie seien keine „echten“ Katholiken (vgl. Krümmer 2004: 10ff). Nach Assmann (2013: 135) ist die Herausbildung einer kollektiven Identität ohne diese Gegenüberstellung sogar undenkbar, da ansonsten diese Identität zu einer Selbstverständlichkeit werde, derer man sich unmöglich bewusst werden könne.

Der Eingangs gestellte Frage danach, was das mexikanische an Mexiko sei, möchte ich am Beispiel der Stadt Tijuana nachspüren, die - so meine Vermutung - durch ihre Nähe zum nördlichen Nachbarland USA solche Abgrenzungen deutlicher zeigt als beispielsweise die zentraler gelegene Hauptstadt. Dass von einer einzigen Stadt nur bedingt auf die ganze Nation zu schließen ist, steht außer Frage. Ich beschränke alle Aussagen dieser Arbeit daher strikt auf die Stadt Tijuana.

Den weiteren Verlauf dieser Arbeit werden zwei klischeehafte Vorstellungen über Tijuana bestimmen, nämlich die der ciudad del vicio und der ciudad de paso. Zur näheren Beschreibung dieser Stadtbilder werde ich einerseits die mediale Repräsentation derselben heranziehen und auf deren historischen Entstehungsbedingungen eingehen, andererseits werde ich auf Studien zur Stadt und ihren Bewohnern zurückgreifen.

Die theoretische Grundlage für diese Arbeit bietet Jan Assmans Konzept der „kulturellen Formation“. Dieses umfasst das gemeinsame Wissen und Gedächtnis, das sich über die Geschichte der Stadt entwickelt hat und zu einem Zeichensystem geführt hat, das die Eigenart Tijuanas zum Ausdruck bringt. Assmann zählt zu diesen Zeichen nicht nur die Sprache, sondern auch „Riten und Tänze, Muster und Ornamente, Trachten und Tätowierungen, Essen und Trinken, Monumente, Bilder, Landschaften, Weg- und Grenzmarken. Alles kann zum Zeichen werden, um Gemeinsamkeit zu kodieren.“ (Assmann 2013: 139). Ziel dieser Arbeit ist es, die kulturelle Formation Tijuanas in ihrer geschichtlichen Genese zu begründen und ihr heutiges Erscheinungsbild darzustellen.

2. Tijuana, ciudad del vicio

Welcome to Tijuana

Tequila, Sexo, Marihuana

Manu Chao (1998)

Aus dem Zitat, das ich diesem Kapitel voranstelle, lassen sich schon einige Dinge ablesen, die im weiteren Verlauf des Kapitels bedeutsam werden. Zum einen steht die Begrüßung „Welcome to Tijuana“ auf Englisch, die „verruchten“ Begriffe „Tequila, Sexo, Marihuana“ auf Spanisch. Es wird also mit nur sechs Worten suggeriert, dass die genannten zwielichtigen Lustbarkeiten mexikanischen Ursprungs seien, der Adressat dieser Angebote aber typischerweise US-Amerikanische Besucher der Stadt seien.

Im Verlauf dieses Kapitels werde ich zunächst auf die Geschichte Tijuanas als ciudad de vicio eingehen, die tatsächlich stark mit der Nähe zu den USA zusammenhängt. In einem zweiten Abschnitt folgt eine Auflistung medialer Darstellungen dieser Stadt, vor allem im Film, aber auch in der Literatur und der Musik. Im letzten Teil schließlich komme ich auf einige Untersuchungen zu sprechen, in denen die BewohnerInnen der Stadt und ihre Besucher Auskunft über die das Bild der ciudad del vicio geben.

2.1. Die Geschichte der ciudad del vicio

Tijuana wurde 1889 gegründet. Es bestand zunächst nur aus Acker- und Weideland für die Viehzucht (vgl. Kun & Montezemolo 2012a: 5). Ob sich der Name der Stadt tatsächlich von einer T í a Juana ableitet, der der Betrieb gehörte, ist anscheinend nicht historisch nachzuprüfen (vgl. Yépez 2012: 51). Wie dem auch sei, die landwirtschaftliche Prägung behielt Tijuana lange Zeit bei, so lange bis in den USA die Produktion, der Handel und der Konsum von Alkohol verboten wurde. In dieser Zeit, von 1918 bis 1935, bekamen in Tijuana die ersten Bars, Spielhallen und Bordelle einen großen Zulauf aus den USA, und zwar nicht nur in Form von Kunden, unter diesen vornehmlich Soldaten aus dem Marinestützpunkt von San Diego, sondern auch von Investoren aus dem Nachbarland, denen viele der Etablissements gehörten und bis heute gehören (vgl. Yépez 2012: 76). In der Zeit der Prohibition, so schreibt Cota-Torres (2008: 107f), entstand die leyenda negra von Tijuana, also das Bild einer Stadt, in der das Verbrechen und die Korruption regieren.

Mit dem Verbot des Glücksspiels in Mexiko von 1935 bis 1937 kam es in dieser Beziehung zwar zu einem kleineren Rückschritt, der jedoch mit Eintritt der USA in den zweiten Weltkrieg wieder ins Gegenteil verkehrt wurde. „With the war, the great Tijuana nightlife was reborn, after a brief lapse: the city filled up with marines coming from San Diego. Before they headed out to the Orient to kill Japanese, they slurped tequila and Mexican women in Tijuana.“ (Yépez 2012: 55) „Mit dem Krieg wurde das Nachtleben von Tijuana nach einer kurzen Auszeit wiedergeboren: Die Stadt füllte sich mit Marines aus San Diego. Bevor sie sich in den Orient aufmachten, um Japaner zu töten, schlürften sie Tequila und mexikanische Frauen in Tijuana.“ [Sämtliche Übersetzungen sind, soweit nicht anders angegeben, von mir.]

An dem so entstandenen Bild hat sich über die Jahre hinweg wenig bis nichts geändert. Es bleibt festzuhalten, dass es tatsächlich die Einflüsse der USA waren, die Tijuana zum Bild der ciudad del vicio verholfen haben.

2.2. Die ciudad del vicio in der medialen Darstellung

Was für die Realität gilt, gilt auch, und in diesem speziellen Fall ganz besonders, für das medial transportierte Bild: Es kommt aus den USA. Humberto Félix Berumen kompilierte eine Liste von Filmen über Tijuana, die in Hollywood (das ja keine 200 Kilometer entfernt liegt) produziert wurden. Sie alle, ob nun 1924 oder 2004 gedreht, entwerfen das gleiche Bild der Stadt, die von Verbrechen und Gewalt beherrscht wird. Des weiteren schreibt Berumen von Tijuana als (vielleicht unfreiwilligem) Mekka der Pornographie, zumindest in den 1930er und 1940er Jahren, einer Zeit, in der in Tijuana Pornofilme aller Arten, von „normalen“ Sexfilmen über solche, die in speziellen Situationen, wie zum Beispiel einem Romalager angesiedelt sind, bis zu speziellen Filmen pädo- oder zoophilen Inhalts.

Was für Berumen das Entscheidende ist, beschreibt folgender Absatz:

„Tijuana is a city that is continually reinvented, recreated, and imagined by and through the cinema. It is possible that the urban landscapes, the streets and familiar neighborhoods are the least important, which in large part they are. It could also be true that the reasons really matter very little, as in fact is true for the majority of these movies; cinematic objectivity is of minimal im- portance. It could also be that no one cares about their relative faithfulness to the reality of the setting or the details of the physical environs. What is most important in the end in all of these movies is the images that come off the screen; those that the viewer accepts as if they were a simple transposition of social reality.“ (Berumen 2012: 34)

„Tijuana ist eine Stadt, die beständig vom Film neu erfunden, neu erschaffen und neu erdacht wird. Es ist möglich, dass die urbanen Landschaften, die Straßen und die bekannten Stadtviertel nicht so wichtig sind, was sie größtenteils nicht sind. Es könnte außerdem sein, dass die Gründe sehr unwichtig sind, was in der Tat für den Großteil dieser Filme gilt; cineastische Objektivität ist von geringster Wichtigkeit. Außerdem könnte es sein, dass sich niemand für ihre relative Treue zur Realität des Settings oder die Details der physischen Umgebung interessiert. Was am Ende das Wichtige an diesen Filmen ist, sind die Bilder die von der Leinwand kommen; die, die der Zuschauer akzeptiert, als seien sie eine einfache Übertragung der sozialen Realität.“

Ähnliches könnte sicherlich auch von der literarischen Produktion über Tijuana behauptet werden, von der Berumen berichtet.

[...]

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Tijuana. Fremd- und Selbstbilder einer Stadt und ihrer Bewohner
Hochschule
Universität Kassel  (Institut für Romanistik)
Veranstaltung
Identität und nationales Bewusstsein in der spanischen und lateinamerikanischen Literatur
Note
1,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
17
Katalognummer
V337773
ISBN (eBook)
9783668271296
ISBN (Buch)
9783668271302
Dateigröße
510 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Assmann, Anderson, Tijuana, Mexico, Spanisch, Kulturelle Formation
Arbeit zitieren
Paul Wendel (Autor:in), 2015, Tijuana. Fremd- und Selbstbilder einer Stadt und ihrer Bewohner, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/337773

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