Verhalten in sozialen Situationen. Intersituativität aufeinanderfolgender Situationen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2016

14 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Definierende Aspekte von sozialen Situation
1.1. Die soziale Situation nach Goffman
1.2. Karin K. Cetinas „Synthetische Situation“
1.3. Interaktion als Versammlung

2. Die Soziale Situation - ein Konzeptvorschlag

3. Intersituativität nach Hirschauer

4. Intersituativität aufeinander folgender Situationen
4.1. Das Modell des Rollenwechsels
4.2. Situationswechsel im Vernecular Video

Fazit

Literaturverzeichnis

Einleitung

Spricht man allgemein von einer „Situation“ (falls überhaupt möglich), so scheint jedem schon beim ersten Hören bewusst zu sein, was gemeint ist. Häufig wird darunter schlicht eine Akkumulation von Verhältnissen oder Umständen verstanden, in denen sich jemand oder auch mehrere Personen gleichzeitig befinden. Denkt man allerdings genauer über diesen Begriff nach, fällt einem schnell auf, dass es doch nicht ganz so einfach ist. Beispielsweise die Frage nach den Bestandteilen, die zusammengesetzt das große Ganze - also die Situation - ergeben, wirft schnell Uneinigkeiten auf. Oft ist nicht klar, welche Faktoren noch Teil der Situation sind und welche sie überhaupt nicht betreffen. Sitzt man, von einem spannenden Film gefesselt, vor dem Fernseher, so wirkt es für die Definition der Situation irrelevant, wie das Wetter außerhalb des Hauses ist. Sobald sich aber jemand, wegen Sturmwarnung, Sorge um die Qualität der Bildübertragung macht, wird das Wetter für diese Person zu einem beeinflussenden Faktor der Situation. Spezifiziert man noch die Situationen, die man be- trachten möchte, indem man nur die Situationen zur Untersuchung auswählt, welche einen sozialen Charakter aufweisen, erhöht sich die Komplexität dieses Problems. Hier kommen unter Anderem nämlich noch die Fragen hinzu, welche Situationen sozial sind und welche Faktoren diese zu sozialen Situationen machen.

In der Soziologie wurden diese Fragen schon früh durch Erving Goffman thematisiert, der sich in dem Buch „Behavior in Public Places: Notes on the social Organisation of Gatherings“ (1969) ausgiebig den sozialen Situationen gewidmet und so der Diskussion, um die Unterscheidung von Mikro- und Makrosoziologie, einen neuen Blickwinkel beigefügt hat. Auch spätere Soziologen, wie Bruno Latour und Karin Knorr Cetina, haben sich den sozialen Situationen angenommen und ihren Diskurs um Aspekte erweitert, die in Folge des technischen Fortschritts, in Form von z.B. Telekommunikation, emergiert sind. Bruno Latour und Karin Knorr Cetina behandeln ebenfalls erstmalig die Frage nach der Verbindung sozialer Situationen, welche Stefan Hirschauer kurz unter dem Begriff der Intersituativität zusammen- fasst (Hirschauer in: Zeitschrift für Soziologie 2014: S.109-133). Der Terminus „Inter- situativität“, wie ihn Hirschauer gebraucht, scheint für die direkte Verbindung von Situationen zu stehen. Betrachtet man allerdings die Teilwörter, aus denen das Wort zusammengesetzt wurde, so würde man eher auf einen Zustand zwischen (inter) zwei Situationen schließen. Was genau unter Intersituativität verstanden werden kann, wie zwei soziale Situationen mit- einander verbunden sind und ob man von einem Zustand zwischen einzelnen Situationen ausgehen könnte, sind die drei Kernfragen, die die vorliegende Arbeit behandeln soll. Vorgegangen wird hierfür wie folgt:

Um eine Grundlage für die Diskussion über zwischensituative Vorgänge zu schaffen und um überhaupt eine spezifische soziale Situation von einer anderen abgrenzen zu können, sollen zu Beginn erste Definitionsversuche der Situation von Erving Goffman dargestellt werden, welche anschließend durch Überlegungen von Cetina und Latour zu ergänzen sind. Anhand erster Ideen von Hirschauer wird dann in die Thematik der Intersituativität eingeleitet. Hier werden seine Ideen kurz wiedergegeben und diskutiert. Anschließend wird auf den gegeben Grundlagen eine eigene konkrete Vorstellung von Situationsübergängen gegeben. Diese Vorstellung wird am Ende der Seminararbeit am Beispiel eines „vernecular“ Videos diskutiert, in dem sich verschiedene Situationen sowie ihre Übergänge deutlich abzeichnen. In einem Fazit werden die Ergebnisse zu guter Letzt noch zusammengefasst und die Analysefähigkeiten des erarbeiteten Schemas für Intersituativität betrachtet.

1. Definierende Aspekte von sozialen Situationen

1.1. Die soziale Situation nach Goffman

Für Goffman scheint der Begriff Situation gleich dem Begriff der „sozialen Situation“ zu sein, wie folgendes Zitat deutlich macht: „Mit dem Terminus Situation bezeichnen wir diejenige räumliche Umgebung, welche jede in sie eintretende Person zum Mitglied der Versammlung macht, die gerade anwesend ist (oder dadurch konstituiert wird)“ (Goffman 1969: S.29). Betont wird der soziale Aspekt noch dadurch, dass Goffman die Situation als beendet sieht, wenn die vorletzte Person die Räumlichkeiten verlassen hat. Neben dem sozialen Charakter, deutet Goffman schon hier den Charakter der Gleichörtlichkeit an. Laut ihm macht nämlich der Raum die eintretenden Personen zum Mitglied der Versammlung und somit auch zum Mitglied der Situation. Bestimmt bzw. geprägt ist die Soziale Situation durch den „sozialen

nlass“ (auch „soziale Veranstaltung“ genannt), das heißt den Grund für die Zusammenkunft der Situationsteilhaber. Diese Erkenntnis ist wichtig, denn der soziale Anlass schafft so sowohl den Rahmen in dem die soziale Situation stattfindet und nach dem sie sich richtet als auch die Vorgaben der Ausstattungen, die die Teilnehmer benötigen um in die Situation eintreten zu können(vgl. ebd.: S.29). Treffen sich zum Beispiel mehrere Mitarbeiter eines Büros zum Bowlingspielen, ist jedem bewusst, wie er oder sie sich dort zu verhalten habe und dass es angebracht ist Bowling-Schuhe mitzubringen. In diesem Szenario stellt das Bowlingtreffen also die soziale Veranstaltung dar, während die Bowling-Schuhe der „dafür bestimmten Ausstattung“ (ebd.: S.29) entsprechen. Nach Goffman wären die verabredeten Mitarbeiter allerdings nicht die einzigen Teilnehmer der Situation. Auch die Bediensteten des Bowlingcenters sind (gewollt oder ungewollt) Teil der Situation mit je eigenen Rollen. Diese Vorstellung zeigt automatisch, dass sich einzelne Situationen auch überschneiden können. Gleichzeitig können verschiedene Situationen auch im Konflikt zu einander stehen. In unserem Beispiel wäre das der Fall, wenn die verabredeten Kollegen eine Bahn zugeteilt bekommen würden, die bereits vergeben ist oder wenn sie so laut feiern, dass der geregelte Ablauf des Bowlingbetriebes gestört würde (vgl. ebd.: S.30-32). Ein weiterer wichtiger Aspekt sozialer Situationen ist für Goffman, die gegenseitige Wahrnehmung. Damit meint er allerdings nicht lediglich eine Wahrnehmung der anderen Interaktionsteilnehmer, sondern auch das Bewusstsein darüber von anderen als wahrnehmend wahrgenommen zu werden (vgl. ebd.: S.28).

Aus gemeinsamer Anwesenheit resultiert, folgt man Goffmans Argumentation, eine besondere Form der Unterworfenheit oder auch des einander Ausgesetztseins(vgl. ebd.: S.33- 34). Befinden sich zwei oder mehr Personen in direkter Nähe zu einander, so bietet sich die

Möglichkeit einander physisch oder auch psychisch zu verletzen. Dass dies trotz zahlreicher Gelegenheiten nicht oder nur verhältnismäßig selten vorkommt, schreibt Goffman der öffentlichen Ordnung zu. Diese ist neben der rechtlichen und der ökonomischen Ordnung eine Unterart der sozialen Ordnung und bildet, auf Basis eines moralischen Normensystems, einen Rahmen für das Verhalten sowie für den Verlauf von Interaktionen innerhalb öffentlicher Orte. Die verschiedenen Arten sozialer Ordnungen bilden also gemeinsam den Handlungsrahmen für alle möglichen Interaktionen (vgl. ebd.: S.19-21, 33-34). Damit jede Person den Rahmen der sozialen Ordnungen in Interaktionen einhalten kann, setzt Goffman ein transsituatives Wissen der Teilnehmer voraus (vgl. Hirschauer 2014: S.112). Dieses Wissen beinhaltet Erinnerungen und bereits gemachte Erfahrungen über Beziehungen, der umgebenden Kultur und den Bildern, die man voneinander hat.

Diese, von Erving Goffman erarbeitete, Vorstellung der sozialen Situation ist bei genauerer Betrachtung zwar sehr umfassend und somit für die Beschreibung zahlreicher Situationen einsetzbar aber auch mindestens genauso unvollständig. Die Spätmoderne und die während ihr entstanden Medien sorgen nun nämlich für eine Ausdehnung der Situationen über die räumliche Dimension hinaus. Zwar hatte schon Goffman Telefonate in seiner Konzeptbildung beachtet, um allerdings komplexere soziale Situationen, die mittels neuen Medien überhaupt zu Stande kommen, analysieren und beschreiben zu können, bedarf es einer aktuelleren Perspektive, wie sie z.B. von Karin Knorr Cetinas Idee der synthetischen Situation präsentiert wird. Im folgenden Kapitel wird diese Idee als Ergänzung zu Goffmans Ansichten betrachtet und untersucht, welche charakterisierenden Faktoren sich daraus für die soziale Situation ergeben.

1.2. Karin K. Cetinas „Synthetische Situation“

In der heutigen Zeit finden wir uns noch immer häufig in face-to-face-Situationen, also in gemeinsamer Anwesenheit mit anderen Situationsteilnehmern, wieder. Sei es beim Arzt, im Café oder auf zuvor beschriebener Bowlingbahn, selten ist man die einzige Person im Raum. Doch die Häufigkeit dieser Situationen nimmt ab. Viele Handlungen des täglichen Lebens kann und macht man heutzutage schon elektronisch (vgl. Knorr Cetina (2012): S.84). Karin Knorr Cetina bezieht sich auf eine Verbraucherumfrage von IBM, wenn sie sagt, dass „ein erheblicher Teil des täglichen Lebens nicht in der physischen Kopräsenz anderer, sondern in virtuellen Räumen stattfindet“(ebd.: S.84). In dieser Studie gaben unter anderem 19 Prozent der Befragten an, mindestens sechs Stunden am Tag online zu sein. Jegliche Arten von sozialen Handlungen wie beispielsweise Geschäfte, Besprechungen oder Planungen können mittler- weile online abgewickelt werden. Die zunehmende Substituierung der face-to-face- Interaktionen durch die Nutzung elektronischer Medien, bringt Knorr Cetina auf den Schluss, dass auch die Mikrosoziologie und die Interaktionsordnung, die Existenz elektronischer Medien, sowie deren Einfluss auf soziale Situationen, in ihre Konzeptbildung miteinbeziehen müssen(vgl. ebd.: S84-85). Um diese Medien treffend bezeichnen zu können, führt Cetina den Begriff des Skops ein. Der Terminus Skop (griech.: scopein = „um zu sehen“) wird normalerweise mit Präfix verwendet und steht dann für ein Gerät, das das Sehen bzw. Beobachten erleichtert oder erst möglich macht, wie z.B. beim Teleskop. Cetina nutzt diesen Ausdruck ohne Präfix allerdings für nahezu jedes elektronische Medium, durch das man Interaktionen mit anderen Situationsteilnehmern trotz räumlicher Trennung ausführen kann. Als Beispiel für eine, durch ein Skop herbeigeführte Interaktion nennt Cetina den Devisen- markt. Welcher Händler auch immer am Handel innerhalb dieses Marktes teilnehmen will, benötigt technisches Equipment, das ihm den Zugang erst ermöglicht. Broker nutzen hierzu zahlreiche Displays sowie diverse Soft- und Hardware um die aktuelle Lage ihrer begehrten Wertpapiere im Blick behalten zu können. Diesen technischen Aufbau nennt Cetina das „skopische System“ (ebd.: S.85). uf Grundlage der Informationen, die das skopische System dem Broker liefert, kann dieser entscheiden wie er innerhalb des Marktes agieren möchte. Kauft oder Verkauft ein Broker bestimmte Wertpapiere ändert das die Informationen, welche die anderen Broker kurz darauf erhalten und als Grundlage für ihre Entscheidungsfindung nutzen. So synthetisiert (altgriechisch: sýnthesis = Zusammensetzung) das skopische System eine Gesamtsituation, wie sie Goffman nennen würde (vgl. Goffman (1969): S.29). Dass diese synthetische Situation komplexer ist als eine Situation in rein physischer Umgebung, ist leicht zu begründen. Ein Skop macht, wie im Beispiel des Devisenhandels, Informationen sichtbar, die dem menschlichen Auge sonst verborgen blieben, filtert allerdings auch andere Informationen aus, welche sonst sichtbar wären allerdings für die Verfolgung des Zieles höchstens nur eine geringe Relevanz aufzeigen. Globale Situationen kommen nur selten ohne Skop aus. Meist beinhalten diese Bildschirmprojektionen oder bestehen vollständig aus solchen (vgl. Knorr Cetina (2012): S.86). Nun ist es schwierig zu sagen welchen elektrischen Medien es bedarf um eine synthetische Situation vorzufinden. Um sich leichter davon eine Vorstellung machen zu können, unterscheidet Cetina vier Arten synthetischer Situationen:

Die erste Art bezeichnet Cetina als Face-to-screen-Situation und ist uns bereits bekannt. Für die face-to-screen-Situation ist nämlich der Devisenhandel das perfekte Beispiel. Die einzelnen Interaktionsteilnehmer richten ihren Blick auf den Bildschirm, über den sie ihre Informationen bekommen. Mittels der Informationen können sich dann die Akteure ein Bild von der Situation machen, in der diese interagieren möchten. Es ist möglich, dass andere Sinne, wie z.B. das Gehör auf die physische Umgebung gerichtet sind. Im Beispiel Devisenhandel wären das die anderen Händler desselben Unternehmens, die daneben sitzen und sich gegenseitig Anweisungen, Tipps und andere Informationen zurufen(vgl. ebd.: S.87- 88).

Der zweiten Version synthetischer Situationen gibt Cetina keinen genauen Namen. Es handelt sich hier um eine Art Mischform von einer face-to-face Situation und einer skopischen Komponente. Diese Mischform findet man vor, wenn zwei oder mehr Personen im Hintergrund eines Skops miteinander interagieren. Als Beispiel wählt die Knorr Cetina ein Ehepaar, das vor mehreren Bildschirmen diskutiert. Die Gesamtsituation setzt sich also aus der Interaktion des Ehepaares und dem zusammen, was auf den Bildschirmen projiziert wird (vgl. ebd.: S.88).

Den dritten Typ sieht Cetina als am wenigsten skopisch an. Er besteht aus einem elektrischen Medium, das nur ab und zu in die Aufmerksamkeit der Situationsteilnehmer gerät.

[...]

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Verhalten in sozialen Situationen. Intersituativität aufeinanderfolgender Situationen
Hochschule
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Veranstaltung
Affekt und Situation - Prozessorientierte Soziologie
Note
2,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
14
Katalognummer
V337603
ISBN (eBook)
9783668268494
ISBN (Buch)
9783668268500
Dateigröße
1130 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Intersituativität, Knorr Cetina, Hirschauer, Intersubjektivität, Latour, Cetina, Goffman, Situation, Rolle
Arbeit zitieren
Sebastian Gründig (Autor:in), 2016, Verhalten in sozialen Situationen. Intersituativität aufeinanderfolgender Situationen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/337603

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