Analyse des Gedichtes "Im Eisenbahnhofe" von Justinus Kerner


Hausarbeit, 2004

24 Seiten, Note: 1 (-)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.) Einleitung

2.) Das Gedicht

3.) Kerner und die Volksliedstrophe

4.) Analyse des Gedichtes
4.1 Die Strophen 1 –3
4.2 Die Strophen 4 –8
4.3 Die Strophen 9 –11

Literaturverzeichnis:

1.) Einleitung

Justinus Kerner, dessen Gedicht „Im Eisenbahnhofe“ im Folgenden analysiert werden soll, gilt als Kuriosum der Literaturgeschichte. Seine literarischen Werke stoßen von den ersten Veröffentlichungen an auf geteilte Meinungen. Von Heinrich Heine wird er verspottet und von Ricarda Huch aufs höchste gelobt: „Den deutschen romantischen Ton im Bilde und in der Romanze hat außer Brentano keiner getroffen wie Justinus Kerner“ (Huch, zit. nach Klenner, 2002, 35). Während Anfang des letzten Jahrhunderts Kerners Werke noch überwiegende positiv rezipiert wurden, ändert sich diese Haltung spätestens ab den 1950’er Jahren. Dazu mag Heinz Büttiker mit seinem Urteil über den schwäbischen Landarzt Kerner beigetragen haben: „Justinus Kerner zählt nicht zu den bedeutenden Dichtern deutscher Sprache. Er figuriert bescheidentlich unter den zweit- oder gar drittrangigen Talenten […]. Von seinen dichterischen Werken gehören alle – einige wenige Gedichte ausgenommen – nur noch der Literaturgeschichte an.“ (Büttiker, zit. nach Klenner, 2002, 36)

So geriet Kerners Werk zusehends in Vergessenheit. Betrachtet man aber Kerners lyrisches Schaffen genau, so fällt Büttikers Urteil m. E. deutlich zu hart aus. Zwar finden sich in Kerners lyrischem Gesamtwerk sehr viele Gelegenheitsverse an Freunde, Verwandte und wichtige Persönlichkeiten wie Fürsten oder Künstler, doch lassen sich auch Gedichte ausfindig machen, die von großer Qualität zeugen, u. a. durch ihren romantischen Ton, einen strukturierten Aufbau, durch tiefe Einblicke in Kerners Denken und Empfinden sowie durch seine präzisen Charakterisierungen von Mitmenschen und den Umständen seiner Zeit.

Kerners „Im Eisenbahnhofe“ besitzt meiner Meinung nach genau diese Art von Qualität, wie die folgende Analyse des Gedichtes beweisen soll. Zuvor soll Kerners Bezug zur Romantik und der von ihm verwendete volksliednahe Ton näher bestimmt werden. Nachdem auf diese Art aufgezeigt wurde, welcher Tradition Kerners Lyrik entspringt und welcher Vorbilder er sich bediente, wird der Inhalt des Gedichtes in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Anhand der Analyse sollte deutlich werden, dass es sich zumindest bei diesem Gedicht nicht um eine bloße „Gelegenheitsdichtung“ handelt, die von einem „zweit- oder drittklassigen Talent“ verfasst wurde.

2.) Das Gedicht

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3.) Kerner und die Volksliedstrophe

Das Gedicht „Im Eisenbahnhofe“ wurde von Justinus Kerner 1852 in seinem Gedichtband „Der letzte Blütenstrauß“ veröffentlicht (Kerner, 1905b, 36 f.). Ein genaues Entstehungsdatum lässt sich für dieses Gedicht nicht ausfindig machen. In einigen Publikationen wird das Jahr 1850 als Entstehungszeitraum angegeben, dafür spricht eine längere Reise des Ehepaares Kerner im Jahre 1849, die zur Inspiration beigetragen haben mag.

Die im „letzten Blütenstrauß“ gesammelten Gedichte stehen, wie auch das gesamte Werk Justinus Kerners, in der Tradition der romantischen Dichtkunst. Der Einfluss der Romantiker ist schon im Frühwerk Kerners deutlich erkennbar. In seiner Studienzeit ab 1804 wirken Dichter wie Novalis und später vor allem Arnim und Brentano auf sein eigenes lyrisches Werk ein. Zusammen mit seinen Freunden Uhland, Mayer und Köstlin, die er während des Studiums kennen lernt, bildet er den Kreis der „Tübinger Romantiker“. Besonders der erste Teil des „Wunderhorns“ diente Kerner als literarisches Vorbild. In kürzester Zeit traten die volksliednahen Gedichte mit ihrer typischen Metaphorik und der einprägsamen Rhythmik in den Mittelpunkt der Tübinger Romantiker und somit auch in Kerners Schaffen: „In den Jahren nach dem Erscheinen des ,Wunderhorns’ verstärkte sich bei Kerner zunächst die formale Anlehnung an die dort gefundenen Muster weiter. Strophenformen, Lexik, Formeln und Wendungen, Reime, Diminutive und Syntax wurden getreu übernommen oder so geschickt nachgebildet, daß sie kaum noch vom Original zu unterscheiden sind.“ (Klenner, 2002, 42)

Die Hinwendung zur romantischen Lyrik wird Kerner sein ganzes Leben lang beibehalten. Formal, aber auch thematisch, ergeben sich kaum Veränderungen oder Weiterentwicklungen in seinem Œuvre, weshalb ihm im Nachhinein immer wieder „eine Erstarrung des poetischen Sprechens vorgeworfen“ wurde (Ammer, 1996, 314). So verwundert es nicht, dass Kerner bei dem hier ausgewählten Gedicht sich immer noch der Struktur des romantischen Volksliedes bedient, obwohl es in einer Zeit entstand, in der die Romantik längst von anderen literarischen Strömungen wie dem Biedermeier oder dem Vormärz abgelöst wurde. Schon der Aufbau des Gedichtes lässt auf eine volksliednahe lyrische Form schließen. Die Volksliedstrophe an sich besteht nach Kremer „aus vier jeweils drei- bis vierhebigen Volksliedzeilen, die nach dem Endreimschema ,abab’ verschränkt werden“ (Kremer, 2003, 278). Kerner verwendet bei seinem „Eisenbahnhofe“ elf Strophen, die jeweils aus vier Versen zusammengesetzt sind. Jeder Vers wiederum ist im alternierenden vierhebigen Jambus verfasst. Durchgehend setzt Kerner den Kreuzreim ein, der die Strophen mit dem Schema „abab“ – „cdcd“ – „efef“ - usw. durchzieht. Nur in der fünften und siebten Strophe wiederholen sich die Reimwörter „Straße/ Grase“, so dass sich das Schema für die siebte Strophe ändert in „imim“.[1] In der vierten und zehnten Strophe kommt es erneut zu einer Abweichung, die auf dem wiederholten Gebrauch des Wortes „geboren“ basiert. Allerdings wird hier nicht der gesamte Reim identisch wiederholt, da im Gegensatz zur vierten Strophe in der zehnten Strophe das Reimwort nicht „Sporen“, sondern „Ohren“ lautet. Bei den sich reimenden Wörtern handelt es sich überwiegend um reine Reime. Kerner weicht nur an drei Stellen von dieser Kontinuität ab, am stärksten in der dritten Strophe bei dem Reim „Getümmel/ Himmel“. In der fünften und siebten Strophe kommt es zu einer leichten Abweichung bei dem eben schon angesprochenen Reim „Straße/ Grase“, die sich durch die unterschiedliche Realisierung des s-Lautes ergibt. Ob und wieweit diese Verschiebungen durch den regionalen Dialekt des Schwäbischen zur damaligen Zeit wieder aufgehoben wurden, entzieht sich meinen Kenntnissen (vgl. Wagenknecht, 1999, 36). Auch wenn dieses nicht zutreffen sollte, bleibt die Frage nach einer bewussten, von Kerner intendierten Abweichung offen. Immer wieder wurde er auf Ungenauigkeiten in seinen Gedichten aufmerksam gemacht. Er selbst schreibt in einem Brief an Uhland im November 1810: „Wegen der langen und kurzen Worte ist alles an mir verloren. Ich habe durchaus kein Ohr für ein Silbenmaß und kann, so viel ich mir auch Mühe gebe, was Kurzes von was Langem, oder was Hartes von was Weichem durchaus nicht unterscheiden.“ (Kerner, zit. nach Klenner, 2002, 70)

Weiterhin typisch für die Volksliedstrophe sind die wechselnden Akzentuierungen der Endsilben, den männlichen und weiblichen Versenden. Diese besondere Form der Volksliedlyrik (Kreuzreim, vier Verse im vierhebigen Jambus und der Wechsel zwischen weiblicher und männlicher Kadenz) lässt sich nach Wagenknecht noch genauer bestimmen als gerade in der Romantik, aber auch schon im 16. Jahrhundert oft verwendete „Schäferliedstrophe“ (vgl. Wagenknecht, 1999, 65 u. 68).

Neben dem formalen Aufbau gibt es aber durchaus noch andere Charakteristika für den Volkston, den Kerner zu treffen bemüht war. Besonders die Anlehnung an die gesprochene Sprache wird in Kerners Gedicht sichtbar, z.B. wenn Kerner das Personalpronomen „es“ durch Apostrophierung kürzt (V. 4, 7, 11, 38, 41) oder durch das Fehlen anderer Wortteile wie bei den Synkopen „dämon’scher“ (V. 12), „lust’gem“ (V. 21), „Wandrer“ (V. 29) und den Apokopen „müd“ (V. 19), „wär’“ (V. 35), „eh’“ (V.35), „fahr’“ (V. 41) und „flieg’“ (V. 43). Aber auch die Verwendung von Interjektionen wie dem in Vers 41 verwendeten „o“ sowie der häufige Gebrauch der Konjunktion „und“ in der dritten bis neunten Strophe verweisen auf eine volksliedhafte Sprache (vgl. Klenner, 2003, 50f.).

Kerners Intention bei der Verwendung der Volksliedstrophe war wohl nicht nur eine Rückbesinnung in die Vergangenheit, eine Sehnsucht nach einem goldenen Zeitalter, wie es die Theorien der Romantiker proklamierten, sondern auch die Tatsache, dass im Volksliedton verfasste Gedichte oft in den mündlichen Gebrauch übergegangen sind (vgl. Kremer, 2003, 279). Erste Erfolge diesbezüglich hatte Kerner schon in den Anfangsjahren seines lyrischen Schaffens. Auf einer Wanderung 1809 dichtet er während einer Rastzeit „sein berühmtes ,Wanderlied’ […], das - mündlich überliefert – von Handwerksburschen schon gesungen wurde, bevor Kerner es selbst publizierte.“ (Segebrecht, 2002, 366)

Eine für Kerner beeindruckende Erfahrung, wie man einem Brief an seinen Freund Uhland entnehmen kann (vgl. Pfäffner, 1986, 7f.). Die gerade erwähnten theoretischen Schriften zur Romantik waren für Kerners Lyrik nicht von vorrangiger Bedeutung. Auch wenn ihm die Grundgedanken seiner Zeitgenossen vertraut waren, schon allein durch Auseinandersetzungen mit Freunden wie Uhland, Chamisso oder Fouqué, setzte er sich mit den theoretischen Konstrukten der Romantik wenig auseinander (vgl. Zybura, 1991, 36). Kerner sieht sich nur als „Gelegenheitsdichter“, wie er selbst über sich zu urteilen weiß: „Sie müssen auch bedenken: daß ich in meinem Leben nie ein Kunstdichter und auch kein wissenschaftlicher Dichter war. Meine Gedichte sind der größten Zahl nach nur Gelegenheitsgedichte, das heißt, Eingebungen zeitlich in mir erstorbener Gefühle, weder durch Kunst, Wissenschaft und bedächtlichen Verstand gemacht, gar nicht gemacht und daher wohl oft auch in Versmaß, Reimen und Rhythmus fehlerhaft. Wer nicht in meinen Liedern blos den Ausdruck eines tief fühlenden Menschenherzens, allerdings mehr im Leide als in der Freude fühlt und sie nach anderen […] Kunstprodukten der Poesie […] schätzen und beurtheilen will, - sollte sie lieber ungelesen lassen.“ (Kerner, zit. nach Klenner, 2002, 84)

Ohne Zweifel lässt sich sagen, dass Justinus Kerner Recht hat mit seiner Einschätzung über den individuellen Gefühlszustand, der in fast allen seinen Gedichten im Mittelpunkt steht. Seine in Worte gefassten Empfindungen, Ängste und Sehnsüchte scheinen immer die Basis seines lyrischen Schaffens darzustellen. Inwieweit allerdings sein Gedicht „Im Eisenbahnhofe“ nicht als „Kunstprodukt der Poesie“ oder nicht mit „bedächtlichen Verstand“ gemacht worden ist, wird sich in der nun folgenden Analyse zeigen. Durch Aufbau und Wortwahl trifft Justinus Kerner in diesem Gedicht den volksliedhaften Ton zumindest genau. Von einer Reduktion künstlerischen Anspruchs kann somit rein formal nicht gesprochen werden

4.) Analyse des Gedichtes

Aufgrund der Länge des Gedichtes und der zahlreichen Motive, die Kerner in seinem „Eisenbahnhofe“ entwirft, soll im Folgenden strukturiert vorgegangen werden. Meiner Meinung nach bietet sich eine Dreiteilung des Gedichtes an. Die Strophen 1 – 3, 4 – 8 und 9 – 11 können inhaltlich zusammengefasst werden. Jeder dieser Blöcke bietet einen eigenen inhaltlichen Schwerpunkt, den Gerhard Rademacher in seinen Ausführungen über dieses Gedicht folgendermaßen skizziert: „Die ersten drei […] Strophen bilden Konturen einer endzeitlichen veränderten Welt ab, die in scharfem Gegensatz zu der überlieferten Ordnung, Behaglichkeit und Schönheit naturnahen Seins und Wirkens steht. (Strophe 4 – 8) Die Strophen 9 – 11 sind auf die ersten drei Strophen zurückbezogen.“ (Rademacher, 1976, 30)

Dem offensichtlichen Motiv der ersten drei Strophen, der Darstellung des Bahnhofes, der Charakterisierung des Zuges und der dort anwesenden Masse, setzt Kerner in den folgenden fünf Strophen die Natur und die bisherigen Ideale entgegen. Insoweit möchte ich mich Rademacher anschließen. Dass sich der letzte Block allerdings nur auf die ersten Strophen beziehen soll, kann ich nur teilweise nachvollziehen. Mit Sicherheit sind Parallelen zwischen den ersten und letzten drei Strophen auszumachen. Allein die Anzahl der Strophen aber auch der motivische Rückgriff auf den technischen Fortschritt spricht für einen starken Bezug zwischen Anfang und Ende des Gedichtes, aber vielmehr ergibt sich m. E. eine Synthese

[...]


[1] Das gesamte Reimschema findet sich neben dem oben aufgeführten Gedicht.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Analyse des Gedichtes "Im Eisenbahnhofe" von Justinus Kerner
Hochschule
Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig  (Seminar für deutsche Sprache und Literatur)
Veranstaltung
Lyrik des 19. Jahrhunderts
Note
1 (-)
Autor
Jahr
2004
Seiten
24
Katalognummer
V33750
ISBN (eBook)
9783638341509
ISBN (Buch)
9783640250851
Dateigröße
3343 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Analyse, Gedichtes, Eisenbahnhofe, Justinus, Kerner, Lyrik, Jahrhunderts
Arbeit zitieren
Oliver Bock (Autor:in), 2004, Analyse des Gedichtes "Im Eisenbahnhofe" von Justinus Kerner, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/33750

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