Wilhelm Reichs Beitrag zum psychoanalytischen Erkenntnisprozess


Hausarbeit, 2015

34 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Verzeichnis der Abbildungen

Zusammenfassung

1 Einleitung

2 Historischer und Biographischer Hintergrund
2.1 Reichs Kindheit
2.2 Reich wird Psychoanalytiker
2.3 Reich und die I.Psa.V
2.4 Die Funktion des Orgasmus und die Konsequenzen
2.5 Berlin und Sexpol
2.6 Emigration und Ausschluss aus der IPV
2.7 Von Oslo nach Amerika

3 Die Orgasmustheorie
3.1 Sexualität, Trieb und Libido
3.2 Die orgastische Potenz
3.3 Die Sexualstauung - Energiequelle der Neurose

4 Die Charakteranalyse
4.1 Verdrängung und Widerstand
4.2 Von der Widerstandanalyse zur Charakteranalyse
4.3 Der Charakterpanzer
4.4 Von der Charakteranalyse zur Vegetotherapie

5 Fazit

Literaturverzeichnis

Verzeichnis der Abbildungen

Abbildung 1: Phasenmodell des Geschlechtsaktes mit orgastischer Potenz Entnommen aus Reich, 1987, S. 82

Abbildung 2: Schema zur ödipalen Neurosenätiologie Entnommen aus Reich, 1987, S. 89

Zusammenfassung

Diese Hausarbeit beschäftigt sich mit dem Werk des Psychoanalytikers, Sexualforschers und Soziologen Wilhelm Reich, der von 1897 bis 1957 lebte. Die Fragestellung mit welcher sich diese Arbeit vordergründig auseinandersetzt lautet: Welchen Beitrag leistete Wilhelm Reich für die psychoanalytische Gegenstands- und Erkenntnisbildung und wie gestaltete sich die theoriegeschichtliche Entfaltung seiner psychoanalytischen Thesen? Um diese Fragen zu beantworten werden biographische wie historische Bedingungen des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses von Wilhelm Reich skizziert und wichtige Etappen auf diesem Weg dargestellt. Des Weiteren wird die wissenschaftliche Entwicklung und gesellschaftliche Entfaltung seiner sexualökonomischen Theorie erläutert. Sie stellt einen wichtigen psychoanalytischen Beitrag zur Ätiologie der Neurosen dar und führte Reich später auf ein noch unbekanntes Forschungsgebiet, der Orgonforschung. Darüber hinaus setzt sich die Arbeit mit Reichs charakteranalytischen Studien auseinander und beschreibt den Erkenntnisprozess von der psychoanalytischen Widerstandsarbeit bis hin zur Formulierung der Charakteranalyse, Reichs bedeutendster Beitrag für die psychoanalytische Gegenstandsbestimmung. Abschließend werden seine vielfältigen wissenschaftlichen Beiträge zusammengefasst und diskutiert.

1. Einleitung

Diese Hausarbeit entstand im Rahmen des Seminars „Gegenstand, Erkenntnisinteresse und Erkenntnismethoden der Psychologie und der Psychoanalyse“ an der International Psychoanalytic University. Das Seminar vermittelte einen Überblick über die klassisch psychoanalytischen Theorieansätze und stellte spezifische Charakteristika des Erkenntnisprozesses heraus. Hierbei ging es vor allem um die theoriegeschichtliche Entstehung und Entfaltung psychoanalytischer Theorien mit ihren diskursiven Bedingungen. Bei der Vielzahl an grundlegenden psychoanalytischen Theorien und den damit einhergehenden kontroversen Debatten anerkannter Psychoanalytiker blieb innerhalb des Seminars wenig Raum, sich eingehender mit der Person Wilhelm Reich und seinem Beitrag zur psychoanalytischen Erkenntnisbildung auseinanderzusetzen. Dies soll nun in Form der vorliegenden Hausarbeit geschehen. Sie beschäftigt sich vordergründig mit den folgenden zwei Fragen: Welchen Beitrag leistete Wilhelm Reich für die psychoanalytische Gegenstands- und Erkenntnisbildung? Wie gestaltete sich die theoriegeschichtliche Entfaltung seiner psychoanalytischen Thesen?

Die Arbeiten von Reich werden heute wie damals kontrovers diskutiert und passen gut in die Thematik der diskursiven Entfaltung psychoanalytischer Theorien. Sein wissenschaftliches Denken und Forschen war darauf ausgerichtet, die Probleme oder Kritikpunkte bestehender Theorien zu erfassen, sie theoretisch wie praktisch zu analysieren und daraus die logischen Schlüsse abzuleiten. Diese Vorgehensweise ist charakteristisch für Reich und verläuft wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk. In diesem Zusammenhang schreibt der Psychotherapeut und Begründer der Biosynthese David Boadella (2008):

Wilhelm Reich ließ sich bei der Verfolgung seiner wissenschaftlichen Arbeit zwar nicht von irgendwelchen vorgefassten Ideen leiten, aber er hat immer betont, dass es eine stets gleichbleibende Denkweise, eine ganz bestimmte Logik war, die ihn von einem Forschungsbereich zum anderen führte. Seine frühen Studien in Wien sollte er im Rückblick mit dem Betreten eines Küstenstreifens vergleichen, dessen Erkundung ihm einen völlig neuen Kontinent der Erkenntnis erschloss. (S. 13)

Im Folgenden soll dieser Erkenntnisprozess grob umrissen werden. Zum einen, um den roten Faden in Reichs Werk zu verdeutlichen, zum anderen, um einen ersten Überblick über die vielfältigen Forschungstätigkeiten Reichs zu vermitteln. Ausgehend von Freuds Libidotheorie entwickelte er durch langjährige klinische Beobachtungen die Orgasmustheorie. Sie bildete das theoretische Fundament seiner weiteren Arbeit und wird im Kapitel 3 besprochen. Ein anderer theoretischer Ansatz den Reich aufnahm, klinisch untersuchte und schließlich weiterentwickelte war die psychoanalytische Widerstandsanalyse. Im „Wiener Seminar für psychoanalytische Theorie“ erforschte er systematisch die Widerstände der Patienten und deren spezifische Abwehrmuster (Boadella, 2008, S. 49 f.). Aus diesen Studien ging Reichs Charakteranalyse hervor. Sie lieferte einen wichtigen Beitrag zum psychoanalytischen Erkenntnisprozess hinsichtlich der „negativen therapeutischen Reaktion“ und der psychoanalytischen Widerstandsarbeit und wird im Kapitel 4 beschrieben. Des Weiteren führte Reich auf Grundlage der Orgasmustheorie, der Charakteranalyse und des Konzeptes der „vegetativen Strömung“, welche er von dem Physiologen Friedrich Kraus übernommen hatte (Boadella, 2008, S. 126), weitere Untersuchungen durch und entwickelte die Vegetotherapie. Diese Therapieform war die erste seiner Zeit, welche den Körper aktiv in die Psychotherapie miteinbezog und kann heute als wichtiger Entwicklungsansatz für verschiedene Körperpsychotherapieverfahren betrachtet werden. Parallel zur Entwicklung der Vegetotherapie versuchte Reich im skandinavischen Exil seine bioelektrischen Hypothesen über die vegetative Strömung auf mikrobiologischer Ebene experimentell zu fundieren und führte in einem Forschungslabor in Oslo biophysikalische Versuche durch. Er beobachtete unter anderem eine dermatologische Spannungserhöhung bei Lustempfinden und ein Absinken bei Unlustempfinden ( vgl. Boadella, 2008, S. 159 ff.). Diese und weitere Ergebnisse seiner bioelektrischen Untersuchungen an der Hautoberfläche interpretierte Reich als eine Bestätigung seiner Spannungs-Ladungs-Formel aus der Orgasmustheorie und als Indiz für die Richtigkeit seiner klinischen Aussagen zum sexualökonomischen Gegensatz von Lust und Angst (Boadella, 2008, S. 162).

Die Experimente zur Bioelektrizität bildeten die Brücke zwischen Reichs sexualökonomischer sowie vegetativer Arbeit und seiner späteren Orgonforschung (ebd.). An dieser Stelle ist der Hinweis angebracht, dass sich die vorliegende Hausarbeit primär mit dem Werk des „frühen Reich“, also mit seinen Arbeiten auf psychoanalytischem Gebiet auseinandersetzt. Reichs Orgonforschung in Oslo und insbesondere später in Amerika wird dem „späten Reich“ zugeordnet und soll in dieser Arbeit nicht tiefergehend beschrieben werden. Dennoch ist es wichtig, den logischen roten Faden aufzuzeigen, der von Reichs vorhergehenden Arbeiten in die biologische Forschungsphase hineinführte. Dabei wird deutlich, dass und wie die biologischen Forschungen wiederum den Weg zur biophysikalischen Orgonforschung eröffneten (Boadella, 2008, S. 165). Ausgehend von der Frage nach dem Wesen der „biopsychischen Energie“ und seinen bioelektrischen Erkenntnissen über den funktionellen Gegensatz innerhalb des vegetativen Nervensystems wollte Reich nun die Plasmaströmungen in Einzellern untersuchen, um herauszufinden, ob die Formel Spannung-Ladung-Entladung-Entspannung allgemeingültig war, beziehungsweise ob sie auch einfache Lebensformen beherrschte (ebd.). Bei der Kultivierung von Einzellern aus Heu und Wasser beobachtete er durch extra angefertigte Mikroskope mit bis zu 6000-facher Vergrößerung kleine aufsteigende Blasen, die sich zu Blasenhaufen zusammensetzten (Boadella, 2008, S. 169). Diese Blasenhaufen nannte er „Bione“. Sie führten spezifische Bewegungen aus und schienen nach Reich ein rudimentäres Organisationsprinzip aufzuweisen (vgl. Boadella, 2008, S. 169-172). Er führte weitere Untersuchungen durch und entdeckte eine Strahlung, die von seinen Bionenkulturen ausging. Reich war der Überzeugung, dass er eine unerforschte biologische Energie gefunden hatte, die überall zu wirken schien. Diese biologische, sich organisierende Energieform nannte er „Orgon“.

Mit dieser Entdeckung betrat Reich nun ein neues Forschungsfeld, welches nur noch ansatzweise mit dem psychoanalytischen Gedankengut in Verbindung stand und von vielen Psychoanalytikern sehr skeptisch betrachtet wurde. Nach seiner Übersiedlung nach Amerika setzte er seine Orgonforschung fort und beschäftigte sich vor allem mit dem Krebsprozess sowie mit den Strahlungseigenschaften der Bione. Er führte mittels selbstgebauter Orgon- Akkumulatoren eine experimentelle Krebstherapie mit 15 Patienten durch und erzielte mitunter positive Ergebnisse (vgl. Büntig, 2006, S. 57). Allerdings waren die Reaktionen auf Reichs Krebstherapie sehr unterschiedlich. Sie reichten von blindem Glauben über nachdenkliches Interesse bis zu blinder Feindseligkeit, aber letztendlich waren die negativen Reaktionen der offiziellen medizinischen Fachwelt in den USA der Anfang vom Ende von Reichs Orgonforschung (Büntig, 2006, S. 57).

Bei all der Kritik darf jedoch nicht vergessen werden, dass, wenn die Orgontheorie wahr wäre, dies keine einzige Aussage der Psychoanalyse beweisen oder widerlegen würde (Hoevels, 2001, S. 12). Aus diesem Grund kann die kontroverse Diskussion über die Orgonlehre in der vorliegenden Arbeit, die sich mit Reichs Beitrag zur Psychoanalyse beschäftigt, unberücksichtigt bleiben. Der Psychoanalytiker Fritz Erik Hoevels (2001) gibt in diesem Zusammenhang folgenden Vergleich:

Es handelt sich um Themen, die nur durch den Zufall der Person, aber nicht durch die Sache verknüpft sind; ließe sich beweisen, dass Einstein schlecht Geige gespielt hat, so wäre das keinerlei Argument gegen die Relativitätstheorie, (...) Bestreitet etwa irgend jemand die grundsätzliche Rationalität von Einsteins physikalischer Argumentation, so kann er dies keineswegs damit begründen, daß er ihm musikalische Lapsus oder politische Fehleinschätzungen nachweist; er muss auf dem Feld der Physik bleiben und sich an Einsteins physikalische Argumentation halten. (S. 12)

Das gleiche gilt ebenso für Reich und die Psychoanalyse. Die Kritik und Entwertung der Orgonforschung ist nicht übertragbar auf Reichs psychoanalytische Beiträge, denn der Inhalt und die sozialen wie räumlichen Bedingungen der jeweiligen Forschungsfelder sind klar voneinander zu unterscheiden.

Um Reichs psychoanalytischen Erkenntnisprozess in einem historischen sowie biographischen Hintergrund einzubetten, wird in Kapitel 2 der Werdegang vom jungen Reich zum Psychoanalytiker und Naturwissenschaftler beschrieben. Das Kapitel 3 beschäftigt sich mit der Weiterentwicklung von Freuds Libidotheorie zur Orgasmustheorie und erläutert das theoretische Fundament für Reichs weitere Forschungstätigkeiten. In Kapitel 4 werden wichtige Entwicklungsschritte zur Formulierung der Charakteranalyse aufgezeigt und die grundlegenden Aspekte der Theorie besprochen. Abschließend werden in Kapitel 5 die wichtigsten psychoanalytischen Erkenntnisse Reichs zusammengefasst und im Hinblick auf ihre Bedeutung für die psychoanalytische Gegenstands- und Erkenntnisbildung diskutiert.

2 Historischer und biographischer Hintergrund

Das Kapitel 2 vermittelt einen Überblick über Reichs vielseitiges und turbulentes Leben. Es werden wichtige Lebensereignisse beschrieben und historisch relevante Geschehnisse erläutert. Ziel dieses relativ umfangreichen Kapitels ist zum einen, die spezifischen Lebensund Arbeitsbedingungen von Reich aufzuzeigen, zum anderen sollen bedeutende Beiträge oder Aktivitäten hervorgehoben werden.

2.1 Reichs Kindheit

Über Reichs Kindheit und Jugend ist wenig bekannt. Wilhelm Reich wurde am 24. März 1897 als erster von zwei Söhnen des Gutsbesitzers Leon Reich und dessen Frau Cecilia in der Ortschaft Dobrcanica1 im östlichen Teil Galiziens geboren. Kurz darauf zog die Familie auf das Gut bei Jujinetz in der Bukowina2, auf dem der Vater Ackerbau und Rinderzucht betrieb (Bronner, 2009, S. 146). Beide Eltern stammten aus assimilierten jüdischen Familien und fühlten sich der deutschen Kultur verbunden, dementsprechend wurde nur Deutsch gesprochen (ebd.). Für Reich und seinen drei Jahre jüngeren Bruder Robert war es verboten mit den ukrainischen Bauernkindern sowie mit den traditionell jüdischen Kindern zu spielen (ebd.). Sein Vater war eine Autoritätsperson und besonders streng. Dies geht auch aus einem anonymen Fallbericht hervor, den Reich als junger Psychoanalytiker geschrieben hatte und den er später gegenüber seiner Tochter Eva als Selbstanalyse bezeichnete:

Von seinem Vater war er sehr streng erzogen worden, musste immer mehr leisten als die anderen (...), hing seit frühster Kindheit mit inniger Zärtlichkeit an der Mutter, die ihn oft vor tätlichen Ausschreitungen des Vaters schützte. Die Ehe war in sofern keine glückliche, als die Mutter unter seines Vaters Eifersucht > schrecklich zu leiden < hatte; er hatte (...) hässliche Eifersuchtsszenen mit angesehen, es sei auch oft zu Tätlichkeiten seitens des Vaters gekommen (...). (Bronner, 2009, S. 146 f.; zitiert nach Reich, 1929, S. 79)

Mit 14 Jahren erfährt Reich ein erstes einschneidendes Erlebnis. Seine Mutter begeht Selbstmord, nachdem herausgekommen war, dass sie ein Verhältnis mit einem der Hauslehrer hatte. Reich gibt sich an diesem traumatischen Ereignis eine Mitschuld, da er über längere Zeit die Affäre beobachtet und schließlich seinem Vater indirekte Hinweise dafür gegeben hatte (Bronner, 2009, S. 147). Dieser machte nun seiner Frau das Leben schwer, sodass sie keinen Ausweg mehr sah als sich umzubringen. Sie trinkt ein Putzmittel, welches ihre Eingeweide verätzt, und leidet tagelang an starken Schmerzen, bevor sie stirbt (ebd.). Reichs Vater war nun ein gebrochener Mann und erkrankte drei Jahre nach dem Tod der Mutter an einer Lungenentzündung, die er sich in suizidaler Absicht beim stundenlangen Angeln im eiskalten Wasser zuzog. Grund hierfür war eine Lebensversicherung, die Leon Reich zugunsten seiner Kinder abgeschlossen hatte. Aus der Lungenentzündung entwickelte sich eine letale Tuberkulose, sodass Reich mit 17 Jahren Vollwaise war. Die Versicherung wurde nicht ausgezahlt. (Bronner, 2009, S. 148) Reich übernahm nun die Leitung des Guts und machte 1915 sein Abitur am humanistischen Gymnasium in Czernowitz. Kurz darauf wurde er von der österreichischen Armee zum Kriegsdienst einberufen und ein Jahr später zum Leutnant befördert (ebd.). Nach dem Kriegsende 1918 konnte er nicht mehr zu seinem Familiengut zurück da es nun auf russischem Gebiet lag. Den Ort seiner Kindheit sah Reich nie wieder (Boadella, 2008, S. 14).

2.2 Reich wird Psychoanalytiker

Im Herbst 1918 folgte Reich seinem Bruder nach Wien und immatrikulierte an der Juristischen Fakultät der Universität, aber schon nach einem Semester wechselte er in die Medizinische Fakultät über (ebd.). Boadella (2008) beschreibt Reich als einen sehr eifrigen und wissbegierigen Studenten:

Er erwies sich als hervorragender Student mit rascher Auffassungsgabe und der Fähigkeit zu gründlicher und systematischer Arbeit. (...) Er verbrachte wenig Zeit in geselliger Runde, sondern trachtete mit größter Ungeduld danach, sich auf kürzestem Weg mit den wissenschaftlichen und philosophischen Problemen seiner Zeit vertraut zu machen. (S. 14)

Um eine zu enge Spezialisierung zu vermeiden, befasste er sich nicht nur mit der Medizin, sondern las auch biologische, philosophische, belletristische, sexualkundliche und psychologische Literatur (Boadella, 2008, S. 14). Die entscheidende Frage, die ihn antrieb, war „Was ist Leben?“. Sie begleitete Reich sein ganzes Leben und führte ihn von einem Wissenschaftsbereich zum anderen.

In Kontakt mit der Psychoanalyse kam Reich im Januar 1919, als er das „Seminar für Sexuologie“ besuchte. Diese private Arbeitsgruppe wurde von Studenten ins Leben gerufen und von Otto Fenichel organisiert (Bronner, 2009, S. 148). In diesem Rahmen lernte er Freud und dessen Schriften kennen. Die „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ begeisterten ihn sehr, sodass er sich tiefergehend mit der Psychoanalyse auseinandersetzte. Im Sommer trug er dann innerhalb der Arbeitsgruppe ein Referat über „Trieb- und Libidobegriffe von Forel bis Jung“ vor, in dem er die Verwendung des Libidobegriffes untersuchte und den Trieb metaphorisch mit der Elektrizität verglich (vgl. Büntig, 2006, S. 42). Die Teilnehmer waren von dem Vortrag so angetan, dass sie Reich zum Leiter des Seminars wählten (Boadella, 2008, S. 15). Gegen Ende des Jahres begann Reich als Psychoanalytiker zu praktizieren und absolvierte eine kurze Lehranalyse bei Paul Federn3 (Hoevels, 2001, S.43).

2.3 Reich und die I.Psa.V.

Im Jahr 1920 bewarb sich Reich um die Mitgliedschaft in der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft und hielt im Oktober 1920 den obligatorischen Einführungsvortrag über „Ibsens Peer Gynt, Libidokonflikte und Wahngebilde“. Daraufhin wurde er mit 23 Jahren und ohne psychoanalytische Ausbildung ordentliches Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Er war damit das jüngste Mitglied. Zwei Jahre später promovierte er zum Doktor der Medizin. Im März des gleichen Jahres heiratete er die Medizinstudentin Annie Pink. Aus der Ehe, die bis 1932 dauerte, gingen Eva und Lore hervor. Ein weiteres wichtiges Ereignis war der Berliner Kongress 1922, auf dem Freud eine genauere Betrachtung der Beziehung zwischen Theorie und Therapie empfahl. Reich schlug daraufhin die Gründung eines technischen Seminars vor, in dem die psychoanalytische Technik klinisch untersucht werden sollte. (Bronner, 2009, S. 149) Freud, der nicht dazu gekommen war, sein angekündigtes Buch über die Technik der Psychoanalyse zu schreiben, war von dieser Idee begeistert, sodass wenig später das „Technische Seminar am Wiener Psychoanalytischen Institut“ gegründet wurde (Hoevels, 2001, S. 48). Nachdem Hitschmann und Nunberg für kurze Zeit die Leitung innehatten, ging sie 1924 auf Reich über, der sie ausübte solange er in Wien lebte (ebd.).

Zusätzlich begann Reich ab 1922 im „Wiener Psychoanalytischen Ambulatorium“ zu arbeiten. Hier betreute er unentgeltlich mittellose Patienten und konnte somit viele klinische Beobachtungen anstellen und weitere Erfahrung in der psychoanalytischen Technik sammeln. Reich veröffentlichte in dieser Phase eine Reihe von psychoanalytischen Aufsätzen4, unter anderem in der von Magnus Hirschfeld herausgegebenen „Zeitschrift für Sexualwissenschaft“ oder in der „Internationalen Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse“ (IZ). In den meisten Aufsätzen ging es um die Bestätigung psychoanalytischer Einsichten. Im Mittelpunkt standen vor allem der Ödipuskomplex als Kernkomplex, die Zwangsneurose sowie der psychogene Tic als Onanieäquivalent (Hoevels, 2001, S.45). Seine Beiträge waren meist von kasuistischem Charakter und untersuchten therapeutisch bedeutsame Einzelphänomene oder setzten sich mit aktuellen Debatten der psychoanalytischen Theorie auseinander, wobei die Argumentationen vorwiegend auf klinisch-empirischer Basis erfolgten (Hoevels, 2001, S. 47).

Von größerer Bedeutung für den weiteren psychoanalytischen Erkenntnisprozess von Reich ist sein Aufsatz „Der Koitus und die Geschlechter“ von 1922. In dieser Arbeit geht es um die Frage, ob das empirisch so oft feststellbare Auseinanderliegen des männlichen und weiblichen Orgasmus naturgegeben ist oder das Ergebnis einer Störung darstellt. Reich vertrat die Ansicht, dass das Phänomen kausal und nicht final untersucht werden sollte. Er betrachtete die verfrühte Ejakulation beziehungsweise die vaginale Hypästhesie als Folge der von Freud entdeckten >Spaltung der sinnlichen und zärtlichen Strebung<, die ihrerseits das Ergebnis gesellschaftlicher Bedingungen war (Hoevels, 2001, S. 45 f.). Hervorzuheben ist, dass in diesem Aufsatz schon viele Aspekte angesprochen wurden die in Reichs späterem Werk, „Die Funktion des Orgasmus“ von 1927, umfänglich thematisiert werden sollten (ebd.).

[...]


1 Heute Dobzau, Westukraine; damals deutsch-ukrainischer Teil Österreichs

2 Grenzregion zwischen der Ukraine und Rumänien

3 davor schon kurze Analyse bei Isidor Sadger; Reichs Analytiker werden später seine größten „Feinde“ (Bronner, 2009, S. 48)

4 Aus Gründen des Umfangs kann nur auf die wichtigsten Veröffentlichungen Reichs eingegangen werden.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Wilhelm Reichs Beitrag zum psychoanalytischen Erkenntnisprozess
Hochschule
International Psychoanalytic University
Veranstaltung
Seminar zur Vorlesung „Gegenstand, Erkenntnisinteresse und Erkenntnismethoden der Psychologie und der Psychoanalyse“
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
34
Katalognummer
V336582
ISBN (eBook)
9783668261501
ISBN (Buch)
9783668261518
Dateigröße
1539 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
wilhelm, reichs, beitrag, erkenntnisprozess
Arbeit zitieren
Maximilian Pfannschmidt (Autor:in), 2015, Wilhelm Reichs Beitrag zum psychoanalytischen Erkenntnisprozess, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/336582

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Titel: Wilhelm Reichs Beitrag zum psychoanalytischen Erkenntnisprozess



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