Leseausgaben für Jugendliche. Möglichkeiten zur Verbesserung des Textverständnisses

Paratextuelle und sprachliche Akkomodationen am Beispiel von Georg Büchners "Woyzeck"


Hausarbeit, 2016

20 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Drama Woyzeck: Merkmale und Anforderungen an den Leser
2.1 Woyzeck als literarischer Text
2.2 Woyzeck als fragmentarisches Drama der offenen Form
2.3 Woyzeck als Klassiker des 19. Jahrhunderts

3. Paratextuelle und sprachliche Akkommodationen
3.1 Paratextuelle Akkommodationen des Dramas Woyzeck in Leseausgaben
3.2 Sprachliche Akkommodationen des Dramas Woyzeck in Leseausgaben

4. Schlussbetrachtung: Akkommodationen als Kriterien der Auswahl von Texteditionen?

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Der moderne Deutschunterricht nimmt nicht nur seinen Gegenstand - Litera- tur und Sprache - in den Blick, sondern in erster Linie die Vermittlung dieses Ge- genstands an Schülerinnen und Schüler.1 Angesichts der wachsenden zeitlichen Distanz zwischen der Position der Schüler in der Gegenwart und den Texten der Vergangenheit, die sie rezipieren sollen, entsteht für den Deutschunterricht die Aufgabe, eine Brücke von der Zeit der Autoren und ihren Werken zur aktuellen Lebenswelt der Schüler zu schlagen. Eine enorme Herausforderung ist dabei der Umgang mit dem steten Wandel der Lebensbedingungen des Menschen und sei- ner Sprache, der zu Verständnisschwierigkeiten auf sprachlicher wie inhaltlicher Ebene führt und jugendlichen Lesern so den Zugang zu Literatur versperren kann.

Verlage reagieren auf dieses Problem mit Leseausgaben, die ältere literari- sche Werke der modernen deutschen Standardsprache anpassen und mit verschie- denen Peritexten versehen, um dem jugendlichen Rezipienten der Gegenwart das Textverständnis zu erleichtern. Diese Akkommodationen, d.h. Modifikationen literarischer Texte, „die auf die Schaffung einer Kind- und Jugendgemäßheit überall dort zielen, wo sie im Originalwerk nicht gegeben“2 sind, dienen Leseaus- gaben als Instrument, mit denen sie Schülern den Zugang zum literarischen Werk zu ermöglichen suchen.

Ziel dieser Arbeit ist es, zu untersuchen, welche Bedeutung sprachlichen und paratextuellen Akkommodationen im Rahmen der Vermittlung von Literatur zukommt und inwiefern diese Akkommodationen Kriterien der Auswahl von Texteditionen sein sollten.

Georg Büchners Dramenfragment Woyzeck scheint als Untersuchungsgegen- stand besonders geeignet, da die dem heutigen Leser fremde Sprache des 19. Jahrhunderts, die zahlreichen intertextuellen Bezüge sowie der Einsatz unter- schiedlichster Sprachebenen einerseits Möglichkeiten des literarischen Lernens bieten, andererseits aber auch hohe Anforderungen an den Rezipienten stellen.

Um eine wissenschaftlich fundierte sowie fachdidaktisch begründete Pers- pektive auf die Bedeutung von sprachlichen und paratextuellen Akkommodatio- nen in Leseausgaben für den Lese- und Verstehensprozess zu ermöglichen, sollen in einem ersten Schritt Merkmale des Dramenfragments Woyzeck und Anforde- rungen an den Leser aus der Sicht der modernen Literaturdidaktik skizziert wer- den. Anschließend können Chancen und Gefahren unterschiedlicher Realisierun- gen von Akkommodationen deutlich gemacht werden, indem die von Uwe Leh- mann bearbeitete Leseausgabe als Exempel einer eher zurückhaltenden Editions- praxis der den literarischen Text deutlich umfangreicher edierenden, von Henri Poschmann kommentierten Ausgabe vergleichend gegenüber gestellt wird.

Indessen sollte bei allen folgenden Überlegungen berücksichtigt werden, dass eine Leseausgabe nicht den Zweck einer historisch-kritischen, um Vollstän- digkeit bestrebten Ausgabe verfolgt.3 Bodo Plachta spricht mit Hinsicht auf den wissenschaftlichen Anspruch und den Umfang des den literarischen Text beglei- tenden Apparats von einer „Hierarchie [der Editionstypen], an deren Spitze der Typus der historisch-kritischen Ausgabe steht, auf die untergeordnet [...] die Stu- dienausgabe und schließlich die Leseausgabe folgen“.4 Bei dem anvisierten Publi- kum der Leseausgabe handelt es sich also um ein nicht-wissenschaftliches und das Ziel dieses Editionstyps ist es in erster Linie, bedeutende literarische Werke „all- gemein zugänglich zu machen“.5 Bei der Leseausgabe kommt die höchste Präze- denz dem lesenden Subjekt zu, welches sich den literarischen Text erst noch er- schließen und mit den gegebenen Standards der Literatur vertraut machen muss. Leseausgaben fungieren vorrangig als „Bildungsmedien, die dem Prozess des lite- rarischen Lernens zugrunde liegen, ihn über Erläuterungen mit steuern“6 und dem Schüler den Zugang zum literarischen Text durch sprachliche Modernisierung zu erleichtern suchen.

2. Das Drama Woyzeck: Merkmale und Anforderungen an den Leser

Für eine differenzierte Betrachtung der Charakteristika des Dramas Woyzeck und die dadurch bedingten von dem jugendlichen Leser geforderten Leistungen soll der Text von drei Aspekten her beleuchtet werden: Woyzeck ist im Allgemei- nen literarisches Werk, im Speziellen fragmentarisches Drama der offenen Form und schließlich Klassiker des 19. Jahrhunderts.

2.1 Woyzeck als literarischer Text

Um einen literarischen Text wie das Dramenfragment Woyzeck zu rezipieren, werden vom jugendlichen Rezipienten ganz bestimmte Lese- und Verstehensleis- tungen verlangt, denn der literarische Text hebt sich durch einige Spezifika von dem nicht-literarischen Text ab.7 Literarische Texte konstruieren fiktionale, „selbstreferentielle“8 Welten, deren Darstellung durch den Rückgriff auf „poeti- sche Gestaltungsmittel“9 erfolgt, und zeichnen sich somit durch eine Eigengesetz- lichkeit aus, die jugendlichen Lesern befremdlich erscheinen kann. Nach Marina Dahmen stellen eine hohe „Verknüpfungsdichte [...] in Form von semantischen Bezügen zwischen unterschiedlichen Textstellen“10 sowie eine - sich mitunter in Allusionen zeigende - „Mehrdeutigkeit“11 elementare Charakteristika literarischer Texte dar. Die somit gewissermaßen verschlüsselte Welt, die der literarische Text entwirft, muss indes nicht nur erschlossen und verstanden werden. Vielmehr hat der Rezipient die Aufgabe, die spezifischen Deutungsmöglichkeiten des Werkes zu erkennen, denn bei Texten handelt es sich stets um „Alternativmodelle zur Re- alität“.12

Ausgehend von diesen Annahmen ergeben sich für den Leser bestimmte Kompetenzen und Kenntnisse, die er erwerben und anwenden muss, damit die Auseinandersetzung mit dem literarischen Text fruchtbar werden kann. Dahmen unterscheidet kognitive Kompetenzen, literarisches Fachwissen sowie persönliche und soziale Kompetenzen.13 Unter letztere werden sowohl das Vermögen zur Imagination der Gedanken und Gefühle der Figuren als auch die Fähigkeit, sich der fiktionalen Welt - „fremde[n] Denkmuster[n]“14 - zu öffnen, subsumiert. Ge- rade das Drama Woyzeck stellt sich dem jugendlichen Rezipienten in diesem Zu- sammenhang insofern als Herausforderung dar, als es sich um die Konstruktion einer von aufkommender Industrialisierung und Feudalismus bestimmten Welt des 19. Jahrhunderts handelt, in welcher der Mensch noch viel stärker als heute an seinen gesellschaftlichen Rang gekettet ist. Eine solche Welt ist weit davon ent- fernt, an die Lebenswelt des Schülers in der Gegenwart anzuknüpfen. Das Einlas- sen auf diese unbekannte Welt und insbesondere die Einfühlung in den psycho- physisch deformierten Antihelden Woyzeck, dessen Verhalten sich als psycholo- gisch undurchsichtig und schließlich als regelrecht entmenschlicht darstellt, bietet sich dem jugendlichen Rezipienten als anspruchsvolle Aufgabe dar, die er nur durch Empathie- und Imaginationsfähigkeit sowie durch die Integration der „Be- deutungsoffenheit und Mehrdeutigkeit [des Textes] in seine Textwahrnehmung“15 zu bewältigen vermag.

Ferner verlangt die Erschließung des literarischen Textes als zentrale kogni- tive Kompetenz die Bildung von Kohärenz: Für ein Textverständnis, das die In- terpretation des Textes ermöglicht, müssen einzelne Aussagen verknüpft („lokale Kohärenz“) sowie der inhaltliche Gesamtzusammenhang des Textes erfasst wer- den („globale Kohärenz“).16 Gerade die Auseinandersetzung mit Woyzeck als Dramenfragment,17 d.h. als einem „linear-strukturierten Erzähltext“18 diametral, zeigt sich literarisch noch unerfahrenen Lesern als prekäre Aufgabe, welche durch die Diskrepanz der erzählten Welt des Dramas zu der Lebenswelt der Schüler ver- schärft wird.

Schließlich kann die Arbeit mit dem literarischen Text nur durch ein dispo- nibles fachlich-inhaltliches Wissen produktiv sein, also durch ein „kultur- und literarhistorisches Wissen [sowie] literarisches Gattungs- und Textsortenwis- sen“.19 Für eine wertvolle Auseinandersetzung mit dem Drama Woyzeck und die Entwicklung eines „literaturhistorischen Bewusstsein[s]“20 sollten Schüler nicht nur über Merkmale der Epoche Realismus - vor allem über das Abbilden gesell- schaftlicher Verhältnisse - sowie der Textsorte Drama der offenen Form21 in Kenntnis sein, sondern auch intertextuelle Bezüge erfassen: Ein markantes Cha- rakteristikum des Woyzeck stellen Anspielungen auf Märchen, Bibelstellen und andere literarische Texte dar, welcher sich der Rezipient bewusst werden muss, um die jeweiligen Textstellen interpretieren und ein Gesamtverständnis des Textes entwickeln zu können.22

Grundlegende Voraussetzung für die Anwendung dieser Kompetenzen sind eine verstehbare Sprache, der „verfügbare Wortschatz“23 sowie das für die Erschließung des Textes nötige Sachwissen - an diesem Punkt setzen sprachliche und paratextuelle Akkommodationen an.

2.2 Woyzeck als fragmentarisches Drama der offenen Form

Ein Spezifikum des literarischen Textes Woyzeck, das bei der Rezipienten- schaft im Allgemeinen und jugendlichen Lesern im Besonderen zu Schwierigkei- ten im Umgang mit dem Text führt, ist der dem frühzeitigen Tod des Autors Büchner geschuldete fragmentarische Zustand des Dramas.24 Die damit einherge- hende problematische Rekonstruktion der Szenenfolge verschärft in erster Linie die Gefahr der Entstehung globaler Kohärenzlücken: Nach Wolfgang Lenhard erleichtern klar strukturierte sowie deutlich und „kontinuierlich aufgebaut[e]“25 Texte ohne „thematische Sprünge“26 das Textverständnis. Das fragmentarische, offene Drama Woyzeck hingegen zeichnet sich durch autonome, kausal unver- knüpfte Szenen aus, welche dem Leser - freilich zur Abbildung des Gesellschafts- systems als Ganzes - eine Vielzahl an Ortswechseln, Handlungssträngen und Fi- guren aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten präsentieren, die durch ihr „Nebeneinandersprechen“ eine Kommunikationslosigkeit herbeiführen, was es dem Rezipienten erschwert, einzelne Aussagen zu verknüpfen und darauf beru- hend den inhaltlichen Gesamtzusammenhang zu erfassen.27

Eine umfassende Betrachtung der Rezeptionsprobleme, die durch den Frag- mentcharakter des Dramas Woyzeck entstehen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Allerdings soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass Lese- ausgaben auch dem Aspekt des Fragmentcharakters divergent begegnen. Während Lehmann lediglich im Nachwort kommentiert: „,Woyzeck‘ ist Fragment geblie- ben, auch über die Reihenfolge der einzelnen Szenen herrscht Unsicherheit.“,28 legt Poschmann den Zusammenhang der Entwurfsreihen nicht nur wesentlich aus- führlicher in einem eigenen Kapitel dar,29 sondern fügt der kombinierten Werk- fassung auch die Darstellung sämtlicher Entstehungsstufen an,30 wodurch Schü- lern einerseits die Prozesshaftigkeit der Textproduktion geschildert und so literari- sches Lernen möglich wird, andererseits ein größerer Einblick in die Problematik des Fragmentcharakters gewährt wird. In diesem Zusammenhang scheint Posch- mann den literarischen Text literardidaktisch wertvoll zu edieren, denn Schülern, die sich „Probleme[n] bei der Klassikerlektüre bewußt [!] sind, eröffnet sich ein gänzlich neuer Zugang zu den Texten, die ihre Monumentalität verlieren“31 und somit weniger zu Überforderung und Resignation seitens der Schüler führen.

2.3 Woyzeck als Klassiker des 19. Jahrhunderts

Woyzeck begegnet Schülern vor allem als im 19. Jahrhundert entstandener Klassiker, was im Rahmen des Rezeptionsprozesses sowohl auf sprachlicher als auch auf volitionaler Ebene zu Schwierigkeiten führt. Im letzteren Falle geht es um die Lesemotivation der Schüler, welche die „zentrale Voraussetzung“32 für gelungenen Deutschunterricht darstellt, jedoch unter dem Phänomen leidet, dass das Schlagwort „alter Klassiker“ bei Schülern eine bestimmte Erwartungshaltung evoziert: im schulischen Kontext oft verbunden mit Widerstand.33 Auch die unbe- kannte Sprache des Klassikertextes kann Schüler abschrecken - insbesondere in der heutigen leistungsorientierten Welt, in der „Schüler Stoffe, die Mißerfolge [!] erwarten lassen, zu meiden versuchen“.34 Leseausgaben können indessen durch paratextuelle Akkommodationen insofern volitionales Potenzial bei Schülern ent- falten, als sie zwar einerseits die Existenz im Text bestehender sprachlicher oder inhaltlicher Schwierigkeiten kennzeichnen, anderseits aber auch die direkte Ver- fügbarkeit von Hilfen signalisieren.

Des Weiteren hält der Klassiker Woyzeck spezifische Probleme auf sprachli- cher Ebene bereit, denn zum einen können gerade jugendliche Rezipienten ange- sichts der Opposition der inkonsequenten Schreibung im 19. Jahrhundert und der „durch die [...] Orthographie normierten“35 deutschen Sprache der Gegenwart in Verwirrung gebracht, gar überfordert werden. Zum anderen verursacht der Sprachwandel Verständnisprobleme bei älteren Werken, die einen Differenzwort- schatz, d.h. einen „Wörterbestand weiter[reichen], der sich vor allem in seinen zusätzlichen oder anderen Bedeutungen von dem unsrigen unterscheidet“,36 je- doch durch die Rezeption aktuell bleibt und damit Wort- und Sacherläuterungen notwendig macht.37 Darüber hinaus zeichnen sich insbesondere Klassiker durch „viele neuartige, später nicht mehr verwendete Ausdrücke“38 aus, die es zu erläu- tern gilt. Ohne diese systematischen Erläuterungen bestünde die Gefahr, dass die potentielle Textattraktivität39 des Klassikers Woyzeck - die sich mitunter in dessen Spannung, Abwechslung und Schauer zeigt - Schülern durch eine mangelnde Textverständlichkeit verwehrt wird.40 Infolgedessen akkommodieren Leseausga- ben den Klassikertext nicht nur sprachlich, sondern versehen ihn auch mit Erläute- rungen, um den Differenzwortschatz präsent zu machen und „das Problem zu ent- schärfen“.41 Indes erläutern Leseausgaben „auch Fachvokabularien, fremdspra- chige Ausdrücke und anderes“,42 um Schülern den Zugang zum literarischen Text zu erleichtern. Die Auswahl der erklärungsbedürftigen Wörter sowie das Ausmaß der erläuternden Kommentierung und sprachlichen Akkommodation können dabei von Leseausgabe zu Leseausgabe erheblich variieren, was sich auf jeweils dispa- rate Art und Weise auf den Rezeptionsprozess auswirkt und im Folgenden unter- sucht werden soll.

3. Paratextuelle und sprachliche Akkommodationen

Die Umsetzung paratextueller und sprachlicher Anpassungen manifestiert sich in den verschiedenen Leseausgaben als auffallend inhomogen und zieht somit jeweils unterschiedliche Konsequenzen für den Lese- und Verstehensprozess nach sich. Da Wort- und Sacherläuterungen (in der Textausgabe) und orthographische, morphematische sowie lexikalische Akkommodationen mir für das Verständnis des Dramas Woyzeck besonders relevant scheinen, möchte ich mich bei der fol- genden Untersuchung der Texteditionen auf diese Aspekte beschränken.

3.1 Paratextuelle Akkommodationen des Dramas Woyzeck in Leseaus- gaben

Vergleicht man die Editionspraxis Poschmanns mit der Lehmanns, wird in erster Linie eine Diskrepanz hinsichtlich der Positionierung der Wort- und Sacher- läuterungen eklatant: Lehmann stellt sämtliche Erläuterungen in den Anhang - Poschmann positioniert dort hingegen nur einen Teil der Erklärungen, und zwar vor allem die „rekursiven, d.h. auf die Semantik des Lemmas rückbezüglichen“,43 während sich die „diskursiven, d.h. auf von der Semantik des Lemmas ausgehend andere textuelle und kontextuelle Aspekte aufgreifenden Erläuterungen“44 in der Marginalspalte befinden, den Text also unmittelbar begleiten. Poschmanns Diffe- renzierung verleiht der Textedition damit nicht nur eine das Textverständnis er- leichternde Struktur, sondern sie umgeht auch durch die Stellung der diskursiven Erläuterungen in der Marginalspalte ein wesentliches Problem der Edition Leh- manns: Die Positionierung der Erläuterungen, insbesondere der rekursiven - also für die Bildung lokaler Kohärenz unmittelbar notwendigen - Erläuterungen im Anhang führt zu einer längeren Unterbrechung der Lektüre und stört somit den Verstehensprozess des Rezipienten.45 Indem in Lehmanns Edition die erklärten Wörter zudem im literarischen Text nicht ausgewiesen und die Erläuterungen im Anhang ohne Zeilenangaben aufgeführt werden, wird diese Beeinträchtigung des Rezeptionsprozesses verschärft: Denn sollten Erläuterungen nicht im Bezugstext erfolgen, „bedarf es einer gut durchdachten Verweisstruktur“46 - wie durch Poschmann umgesetzt, welcher die paratextuellen Akkommodationen durch Kennzeichnung der in der Marginalspalte erklärten Wörter durch Asteriske und durch Ausweisung der im Anhang erläuterten Wörter und Wortgruppen durch Häkchen systematisiert und dem Rezipienten so den Zugang zum Text erleichtert.

Darüber hinaus divergieren Lehmanns und Poschmanns Textausgaben signi- fikant in Hinsicht auf Anzahl wie Ausführlichkeit der Wort- und Sacherläuterun- gen: So erläutert Poschmann in der Szene „Marie. Das Kind. Karl.“ neun Wörter oder Wortgruppen mithilfe von 231 Wörtern, Lehmann erklärt demgegenüber lediglich eine Wortgruppe mithilfe von 18 Wörtern.47 Sarah Weiß konstatiert, der literarische Text werde durch eine Überladung mit Kommentaren „unlesbar“48 - diesem berechtigten Einwand zum Trotz lässt sich durch den Vergleich der zwei Texteditionen am Beispiel der genannten Szene feststellen, welche Gefahren auf der anderen Seite (zu) kurz gehaltene Erläuterungen in sich bergen:49

Das für das Gesamtverständnis des Dramas essenzielle Element der Szene, in welcher Marie aufgrund ihres Unvermögens zur Treue gegenüber Woyzeck die Bibel auf der Suche nach Rat hinzuzieht, stellen die intertextuellen Bezüge von Maries Monolog dar, auf die Lehmann allein durch Verweise auf die betreffenden Bibelstellen aufmerksam macht, was angesichts der ohnehin mühevollen Ausei- nandersetzung des Schülers mit dem Drama bedenklich scheint - im ungünstigsten Fall bleibt die Konsultation der Bibel infolge volitionaler Defizite der jugendli- chen Rezipienten aus, bleiben die Kohärenzlücken ungeschlossen.

Poschmann hingegen offeriert dem Rezipienten durch die im Anhang abge- druckten Textstellen, auf die die Szene anspielt, das erforderliche kultur- und literarhistorische Wissen und ermöglicht ihm durch diskursive Erläuterungen, die den Zusammenhang der Szene mit den referierten Bibelstellen sowie der alludier- ten Szene der Tragödie Faust aufzeigen, lokale Kohärenz zu bilden: Der Leser ist mithin in der Lage, semantische Bezüge zwischen Marie, Gretchen und der Ehe- brecherin des Johannesevangeliums zu konstituieren und sich so des Kontrasts der Situation Maries zu der Gretchens und der biblischen Sünderin, denen „Erlösung verheiß[en]“50 wird, bewusst zu werden. Auf dieser Grundlage vermag der Rezi- pient sodann den Fatalismus der Figur zu erkennen:

[...]


1 Im Folgenden wird aufgrund besserer Lesbarkeit nur die maskuline Form verwendet.

2 Hans-Heino Ewers: Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in Grundbegriffe der Kinder- und Jugendliteraturforschung. 2. Aufl. Paderborn 2012, S. 174.

3 Vgl. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997, S. 12.

4 Ebd.

5 Siegfried Scheibe: Kleine Schriften zur Editionswissenschaft. Berlin 1997 (Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft Bd. 1), S. 9.

6 Florian Radvan: Vom Erläutern der Wörter und der Sachen. Textedition, Peritextualisierung und Lexikographie. In: Dieter Wrobel / Astrid Müller (Hrsg.): Bildungsmedien für den Deutschunter- richt: Vielfalt - Entwicklungen - Herausforderungen. Bad Heilbrunn 2013, S. 173-196, hier S. 174.

7 Vgl. Kaspar Spinner: Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch 33 (2006), Heft 200, S. 6-16, hier S. 6.

8 Marina Dahmen: Literarische Texte erschließen. In: Deutschunterricht 64 (2011), Heft 4, S. 4-9, hier S. 4.

9 Ebd. S. 5.

10 Ebd.

11 Ebd.

12 Ebd.

13 Vgl. Ebd.

14 Ebd. S. 6.

15 Ebd.

16 Vgl. Ebd. S. 5.

17 Vgl. Kapitel 2.2 dieser Arbeit.

18 Dahmen: Literarische Texte erschließen, a.a.O., S. 5.

19 Ebd. S. 6.

20 Spinner: Literarisches Lernen, a.a.O., S. 13.

21 Vgl. Kapitel 2.2 dieser Arbeit.

22 Vgl. Kapitel 3.1 dieser Arbeit.

23 Wolfgang Lenhard: Leseverständnis und Lesekompetenz. Grundlagen - Diagnostik - Förderung. Stuttgart 2013, S. 37.

24 Vgl. Georg Büchner: Woyzeck. Text, Editionsbericht, Quellen, Erläuterungsteile. Marburger Ausgabe Bd. 7.2. Hrsg. von Burghard Dedner. Darmstadt 2005, S. 237.

25 Lenhard: Leseverständnis und Lesekompetenz, a.a.O., S. 30.

26 Ebd.

27 Vgl. Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. 13. neu durchges. Aufl. München 1992, S. 219-222.

28 Georg Büchner: Woyzeck. Bearb. von Uwe Lehmann. Husum 2015, S. 58.

29 Vgl. Georg Büchner: Woyzeck. Mit einem Kommentar von Henri Poschmann. Frankfurt a.M. 2008, S. 133-138.

30 Vgl. Büchner: Woyzeck. Mit einem Kommentar von Poschmann, a.a.O., S. 40-86.

31 Sarah Weiß: Verstehenshilfe für die Klassikerlektüre. Der Differenzwortschatz und seine Erklärung als Lesemotivation. Hamburg 2007. (Philologia. Sprachwissenschaftliche Forschungsergebnisse Bd. 100), S. 6.

32 Dahmen: Literarische Texte erschließen, a.a.O., S. 9.

33 Vgl. Weiß: Verstehenshilfe für die Klassikerlektüre, a.a.O., S. 5.

34 Ebd. S. 191.

35 Ebd. S. 58.

36 Ulrich Knoop: Der lexikalische Kommentar. Der differente Wortschatz und die Methodik der Erklärung. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 18 (2004), S. 187-212, hier S. 201.

37 Vgl. Ebd. S. 200.

38 Weiß: Verstehenshilfe für die Klassikerlektüre, a.a.O., S. 62.

39 „Textattraktivität“ meint hier - in Rekurrenz auf Ewers‘ Begriff der Textattraktivität - das Bedienen literarischer Vorlieben jugendlicher Leser. Vgl. Ewers: Literatur für Kinder und Jugendliche, a.a.O., S. 169.

40 Vgl. Ewers: Literatur für Kinder und Jugendliche, a.a.O., S. 169.

41 Weiß: Verstehenshilfe für die Klassikerlektüre, a.a.O., S. 31.

42 Radvan: Vom Erläutern der Wörter und der Sachen, a.a.O., S. 175.

43 Ebd. S. 180.

44 Ebd.

45 Vgl. Ebd. S. 181.

46 Weiß: Verstehenshilfe für die Klassikerlektüre, a.a.O., S. 185.

47 Es wurden keine Ziffern, nur Wörter gezählt (die Lemmata ausgeschlossen).

48 Weiß: Verstehenshilfe für die Klassikerlektüre, a.a.O., S. 187.

49 Vgl. für die folgende Darstellung die Erläuterungen zur Szene „Marie. Das Kind. Karl.“ bei Poschmann und Lehmann, Abb. 1-3 im Anhang auf S. 19-21 dieser Arbeit.

50 Büchner: Woyzeck. Mit einem Kommentar von Poschmann, a.a.O., S. 172.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Leseausgaben für Jugendliche. Möglichkeiten zur Verbesserung des Textverständnisses
Untertitel
Paratextuelle und sprachliche Akkomodationen am Beispiel von Georg Büchners "Woyzeck"
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft)
Veranstaltung
Literatur und Sprache und ihre Vermittlung
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
20
Katalognummer
V335575
ISBN (eBook)
9783668256316
ISBN (Buch)
9783668256323
Dateigröße
662 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Akkommodationen, Woyzeck, Büchner, Dramenfragment, Leseprozess, Verstehensprozess, Leseausgaben, Editionen, Schulausgaben, Paratexte, Jugendgemäßheit
Arbeit zitieren
Johanna Schneider (Autor:in), 2016, Leseausgaben für Jugendliche. Möglichkeiten zur Verbesserung des Textverständnisses, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/335575

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